Zeitreise

 

Die "Field Station Berlin". 2008

 

 

Zerschnitten habe ich den Maschendraht nicht, das haben andere getan. Ich biege ihn nur zur Seite, bis das Loch groß genug ist, dass ich hindurchschlüpfen kann. Im nächsten Augenblick stehe ich auf der anderen Seite des Zauns, etwas unsicher noch und mit schlechtem Gewissen, denn die Warnung auf dem Schild "Betreten verboten!" war nicht zu übersehen. Vor mir liegen die Ruinen, die ich so oft schon von außen gesehen habe. Nun - es ist das Jahr 2008 - bin ich ihnen zum ersten Mal ganz nahe. Sie stehen nicht in Rom, nicht in Griechenland, und es handelt sich auch nicht um die Überbleibsel irgendeines Tempels in Asien - nein, diese Ruinen befinden sich in Berlin, in der Stadt, in der ich lebe. Keine Reise an einen anderen Ort also. Aber eine Reise in der Zeit.

 

Ein Jeep fährt durch das von schwerbewaffneten Posten bewachte Tor, das sich hinter ihm sofort wieder schließt. Die Posten kontrollieren die Insassen. Gleich darauf salutieren sie, als zwei Offiziere an ihnen vorbei auf das Kontrollgebäude zuhalten. Der Jeep nimmt eine leichte Steigung, passiert ein paar beinahe fensterlose, hochaufragende Bauten und bleibt unterhalb der Türme mit den runden weißen Kuppeln stehen, die aussehen, als gehörten sie zu einer futuristischen Kathedrale. Drei Männer in Uniformen steigen aus - zwei US-Amerikaner, ein Brite - und verschwinden hinter einer schweren Eisentür. Ihr Ziel: einer der unterirdischen Räume, in denen andere Uniformierte in einem graugrünen Halbdunkel sitzen, die meisten mit Kopfhörern auf den Ohren, die Augen starr auf Monitore gerichtet, die sich aneinanderreihen wie die Bierkästen in einem Supermarkt.

 

Vergangenheit. Ein Bild aus den 1970er und 1980er Jahren. Heute salutiert hier niemand mehr. Es gibt auch keine mit supermoderner Technik vollgestopften Räume mehr und auch keine schwerbewaffneten Posten hinter dreifach gestaffelten Maschendrahtzäunen, die die Anlage einst sicherten. Als ich durch den Zaun krieche, muss ich nur noch den Wachschutz fürchten. "Field Station Berlin" war der Name dieser Anlage, die Berliner nannten sie "die amerikanische Radaranlage auf dem Teufelsberg". 115 m über der Stadt, auf einem aus Kriegstrümmern aufgeschütteten Berg, ragt der Gebäudekomplex in den West-Berliner Himmel. Betrieben wurde die Stadtion von der National Security Agency, dem oft als supergeheim bezeichneten amerikanischen Nachrichtendienst, aber auch von den Briten genutzt. NSA, CIA, MI6 - Namen, die aus Spionageromanen bestens bekannt sind, und in der Tat war es eben die Spionage, der diese Anlage ihre Existenz verdankt. West-Berlin, so hat man damals gewitzelt, sei die einzige Stadt in der Welt, von der aus gesehen man in jeder Himmelsrichtung gen Osten blicke. Was natürlich politisch gemeint war, lag die Stadt doch inmitten der DDR, im damaligen Feindesland des Kalten Krieges also, oder weiter gegriffen: im Gebiet des Warschauer Paktes, der östlichen Gegenorganisation zur NATO. Einer Organisation, die dem damaligem West-Verständnis zufolge kriegerisch und angriffslüstern war, weshalb man sich vor ihr mit allen Mitteln schützen musste. Auch mit dem Mittel der Funkaufklärung. Und welche Anlage konnte dafür besser geeignet sein als eine, die mitten im Feindesgebiet lag. Von der "Field Station Berlin" ließ sich nicht nur der Flugverkehr des Gegners überwachen, sie diente auch dem Abhören des Funkverkehrs und von Telefonaten. 

Wie wichtig diese Anlage damals für den Westen war, zeigt ein Ereignis aus den 1980er Jahren, als die Spione vom Teufelsberg selbst Opfer von Spionage wurden: James Hall hieß der amerikanische Unteroffizier, der seinerzeit die streng geheimen Dokumente lieferte, Hüseyin Yilderim (ein türkischer Automechaniker) sein Komplize, der sie an das DDR-Ministerium für Staatssicherheit weiterreichte, darunter Entschlüsselungscodes für den NATO-Funkverkehr und Informationen über die westliche Verteidigung. 1988 wurden die beiden enttarnt und wanderten ins Gefängnis, der Türke mit dem amerikanischen Kommentar, dass es sich bei ihm um "den gefährlichsten Spion des Kalten Krieges" gehandelt habe. Ein Gütesiegel für den Spion, zugleich ein quasi-amtlicher Vermerk, welche Bedeutung der "Field Station Berlin" in jener Zeit zukam.

 

Und heute? Deutschland ist wiedervereinigt, den Warschauer Pakt gibt es nicht mehr, und vom damaligen West-Berlin zeigt der Kompass wieder nach Norden, Osten, Süden und Westen. Die einstigen Hausherren auf dem Teufelsberg sind abgezogen. Nicht die geringste Spur hochgeheimer Technik findet sich dort mehr, nur Zerstörung und Schutt. Und Vandalismus, eine Folge der ungebetenen Besucher. Etwas allerdings ist unverändert erhalten geblieben - die beeindruckende Lage des Areals: auf einer der höchsten Erhebungen Berlins, am Rande der Stadt ebenso wie am Rand ausgedehnter Wälder. Was wohl zwangsläufig Begehrlichkeiten wecken musste: Von einem Hotel und schicken Restaurants über Wohnungen für Begüterte reichten die Pläne bis zu einer Universität mit einem "Turm der deutschen Unbesiegbarkeit", den eine Sekte hier hat errichten wollen. Bis heute sind all diese Pläne gescheitert. Realität sind lediglich ein paar Filme geworden, die hier gedreht wurden, einige Modenschauen, Geburtstagsfeiern, vor allem aber die vielen heimlichen privaten Events mit Bier und Musik in den halb zerfallenen Gebäuden, insbesondere in den Türmen mit ihrem umwerfenden Ausblick und der einzigartigen Stimmung, wenn der Wind durch die Kuppeln pfeift.

 

Aber es gibt noch etwas anderes, was den ganz besonderen Reiz dieser Anlage ausmacht: das "Nicht mehr" und das "Noch nicht", jene besondere Konstellation, die Berlin seit der Wiedervereinigung geprägt hat: Nicht mehr der alte Potsdamer Platz mit dem Todesstreifen und der Mauer, aber lange Zeit auch noch nicht der neue Platz für Touristen zum Bummeln. Nicht mehr der Palast der Republik, aber auch noch nicht das Hohenzollern-Schloss, das dort wiedererstehen soll. Es ist dieses Transitorische, was Berlin in den vergangenen zwei Jahrzehnten so überaus reizvoll gemacht hat, der Übergang von der alten in die neue Wirklichkeit, an der die Stadt sich seit dem Fall der Mauer abarbeitet. Auf die "Field Station Berlin" gemünzt heißt das: nicht mehr das Spionagenest aus den finsteren Zeiten des Kalten Krieges, aber auch noch nicht eine wie immer geartete Zukunft. Angehaltene Geschichte gewisssermaßen - das ist es, was man auf dem Gipfel des Teufelsbergs vorfindet. Für 15 € kann man sie heute im Rahmen einer Führung besichtigen, bequemer als im Jahr 2008, als man noch ein Loch durch den Zaun suchen musste. Eine Zeitreise, die sich niemand entgehen lassen sollte, der auch nur ein Quentchen Gespür für Geschichte hat.