Black Jack & Co.
Die faszinierende Casino-Welt von Las Vegas.
2011
 
5.000 Dollar in einer Minute! Dieser unscheinbare Typ - schlank, Drei-Tage-Bart, Alter zwischen 30 und 40 - verliert in einer Minute 5.000 Dollar! Alles geht blitzschnell und ohne ein Wort. Die Dealerin - Angestellte des Casinos, an dessen halbkreisförmigem Black Jack-Tisch er als einziger sitzt - verteilt die Karten, zwei offene für ihn, eine offene und eine verdeckte für sich selbst und wartet dann. Nicht lange, im Gegenteil: Alles geht so schnell, dass wir kaum folgen können. Er lässt sich eine weitere Karte geben, deckt sie auf, sie macht das Gleiche, und ohne eine Miene zu verziehen, streicht sie seine Chips ein. 1.000 Gewinn für die Bank, das sind 1.000 Verlust für ihn. Fünf Sekunden später - vor ihm ein Bube und eine 3 - verlangt er abermals eine Karte. Eine 2. Eine weitere Karte, eine Dame, und wieder sind 1.000 Dollar verloren. Fast ohne hinzusehen langt er nach seiner Zigarette und macht einen hastigen Zug. Nahezu überall in den USA ist das Rauchen in Räumen verboten, hier nicht, selbst eine Zigarre würde ihm niemand aus der Hand nehmen. 1.000 Dollar gesetzt, zwei Karten, drei Sekunden später erneut überkauft, und weg mit dem Geld. Das Gesicht der Dealerin ist ausdruckslos, seins ebenfalls. Gebannt beobachten wir das Geschehen, vermutlich ebenso gebannt wie der Mann am Monitor hinter der Kamera an der Decke. Mehr Zuschauer gibt es nicht, denn um diese Zeit ist das Casino weitgehend leer. Um diese Zeit? 2 Uhr, vielleicht 3 oder 5, aber was spielt das für eine Rolle an diesem Ort gewollter Zeitlosigkeit, an dem es nirgendwo eine Uhr gibt und nicht ein einziges Fenster, durch das einfallendes Licht einen Anhaltspunkt für Tag oder Nacht geben könnte. Am Tisch die vierte Runde, immer noch in derselben Minute. Karten austeilen, ansehen, nachfordern, und abermals haben sich 1.000 Dollar in Luft aufgelöst. Den Whisky, den eine Cocktail-Waitress ihm hinstellt - ein kostenloser Service für Spieler -, diesen Whisky ignoriert er, ja er nimmt ihn nicht einmal wahr. Statt dessen ein letztes Aufbäumen, noch einmal 1.000 gesetzt, irgendwann muss es ja klappen, irgendwann muss sich das Glück ihm wieder zuwenden, es kann gar nicht anders sein. In der Nähe jetzt zwei gut trainierte Herren in Anzügen für den Fall, dass der Spieler gleich ausrastet. Doch der rastet nicht aus, als die Dealerin - sie 19, er 17 - ein weiteres Mal seinen Einsatz einstreicht. 5.000 Dollar in einer Minute! Wortlos steht der Spieler auf. Er kippt den Whisky, schiebt der Dealerin einen Schein zu, wie man das tut, auch wenn man verloren hat, und wendet sich ab. Mit schnellen Schritten durchmisst er das Casino und taucht in die Nacht ein. In die Nacht von Las Vegas.
 
 
Szenenwechsel. Acht Stunden später, ein Hotel weiter. Ob es "Bellagio" heißt, "Caesars Palace" oder "MGM Grand", was macht das - um diese Zeit haben sich die Casinos aller Hotels längst gefüllt, in jedem stehen und sitzen sie, setzen und zocken, warten auf einen kleinen Gewinn oder auf die große Chance ihres Lebens. Das Prinzip der Locations ist überall das gleiche: oben ein Hotel mit Tausenden von Betten, unten ein Casino, mal einfacher, mal aufgestylt, aber immer darauf optimiert, den Besuchern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Rund 40 Millionen Touristen besuchen Las Vegas in jedem Jahr. Rund 500 Dollar setzt jeder Spieler durchschnittlich ein. Und da das System des organisierten Glücksspiels darauf basiert, dass in der Summe stets das Casino gewinnt, materialisiert sich der finanzielle Output in einem beständigen Geldregen für die Casinos. Beinahe 5 Milliarden Dollar beträgt ihr Umsatz pro Jahr, das ist ein Viertel aller Ausgaben, die Touristen während ihres Aufenthalts tätigen. Die anderen drei Viertel gehen für Übernachtung und Luxusartikel sowie für die viel gerühmten Shows drauf - Highlights des Entertainment-Himmels wie Céline Dion und Elton John, David Copperfield oder bis zu dem Unglück im Jahre 2003 das Weiße-Tiger-Duo Siegfried und Roy. Doch mag der Anteil des Glücksspiels auch geringer sein, als mancher bei der Nennung des Namens Las Vegas vermutet hätte - seine Bedeutung zu unterschätzen wäre ein großer Fehler, ist doch kaum anzunehmen, dass die Besuchermassen ihre Reisen allein in eine Showstadt unternehmen würden. Die Schwellen für den Eintritt in die Welt von Black Jack & Co. sind niedrig, man macht es den Willigen leicht. Wohlfühlen sollen sie sich, Spaß sollen sie haben und euphorisch sollen sie sein, denn je stärker die Endorphine durch ihre Adern fließen, um so lockerer sitzt ihnen das Geld. Eine Kleiderordnung gibt es deshalb nicht, sieht man davon ab, dass die Gäste nicht im Badezeug erscheinen sollten. Rauchen darf man, wie schon erwähnt, Trinken ebenfalls, ja Letzteres ist geradezu erwünscht, da es die Risikobereitschaft steigert, und die Mahlzeiten in den mitunter recht edlen Restaurants im Umkreis der Casinos sind preiswerter als in entsprechenden Restaurants hierzulande. Letztlich ist es das gleiche "panem et circensis", das schon bei den Römern gut funktionierte: Gebt den Leuten Brot und Spiele - in die Sprache von Las Vegas übersetzt: Cocktails und Black Jack -, und die Leute sind zufrieden!
 
Soweit ich weiß, ist das Fotografieren in den Casinos nicht verboten, aber es wird nicht gern gesehen. Ich habe deshalb (ohne Probleme zu bekommen) nach dem Prinzip fotografiert: Kamera raus, schnell ein Bild, Kamera sofort wieder wegstecken. Entsprechend sind die Aufnahmen leider nur von mäßiger Qualität.
 
Als das Geburtsjahr der Glücksspielerstadt gilt das Jahr 1931. Damals wurde das Spielen freigegeben, und der kometenhafte Aufstieg von Las Vegas - einer Stadt, die zuvor kaum jemand kannte - begann. Getragen wurde er in dieser Zeit vor allem vom organisierten Verbrechen. Es war die amerikanische Cosa Nostra, die die Hotels mit den Casinos finanzierte. Ihre Bosse, die das Geld einstrichen, saßen in Chicago und Miami, die anfallende Drecksarbeit wurde von harten Jungs vor Ort erledigt. Selbst mit ihresgleichen kannten sie keine Skrupel. Bugsy Siegel etwa bekam das zu spüren, der Gründer des legendären "Flamingo". Nachdem er seine Partner übers Ohr gehauen hatte, verkroch er sich in die oberste Etage seines Hotels und baute sie zu einer Festung aus. Aus Sicherheitsgründen besaß sein großzügiges Appartement nur eine einzige Tür, die nach innen aufging, und mittels eines nur für ihn reservierten Fahrstuhls gelangte er in eine Tiefgarage, in der ständig ein Wagen für seine Flucht bereit stand. Doch genützt haben ihm all diese Vorsichtsmaßnahmen nichts - gerade mal 41 Jahre alt, wurde er von einem Killer erschossen.
 
500 € für einen Spieler, das sind 1.000 € für ein Paar oder 2.000 € für ein beliebiges anderes Paar, denn wir selbst haben nicht ein einziges Mal gespielt. Was verständnislose Blicke nach unserer Rückkehr hervorrief. "Hat es euch denn nicht in den Finger gejuckt?", bekamen wir immer wieder zu hören. Nein, hat es nicht. Aber trotzdem - so fügten wir jedesmal hinzu - hat es uns Las Vegas ganz ausgezeichnet gefallen. Die meisten Besucher halten das anders, zum Glück für die Stadt, denn gäbe es mehr Leute wie uns, so hätten sich die Angestellten der Casinos längst nach neuen Jobs umsehen müssen. Die Mehrzahl der Besucher aber verhilft ihnen zu einem gesicherten Einkommen, sei es an den Roulettetischen, beim Pokern, beim Black Jack oder an den Slotmachines, vormals den "Einarmigen Banditen". Letztere scheinen insbesondere für Frauen interessant, denn sie vor allem sind es unserer Beobachtung nach, die zu jeder Tages- und Nachtzeit die Walzen kreisen lassen. Oft eine Zigarette in der Hand, ein Drink neben sich, starren sie voll konzentriert auf die Früchte, die Symbole und Nummern, die sich drehen und die dann und wann durch Geräusche oder Blinken einen Gewinn signalisieren. Abgesehen davon, dass die Casinos mit den Slotmachines das meiste Geld verdienen, ist diese Klientel vermutlich auch die angenehmste für sie, sind Frauen doch zumeist unproblematische Gäste. Männer machen den Casinos viel eher zu schaffen, vor allem natürlich die berufsmäßigen Betrüger und Falschspieler, die zum großen Geld drängen wie die Motten zum Licht. Auf ein paar tausend schätzt man ihre Zahl, Kriminelle, die alle Tricks kennen, und im Zeitalter des Hightech sind das mehr als jemals zuvor. Gezinkte Spielkarten, das war gestern - heute sind es Minicomputer im Stiefel, die anhand der ausgegebenen Karten die eigenen Chancen berechnen; "monkey's paws", zu deutsch: Affenpfoten, winzige Taschenlampen an einem Draht, die die Rutschen der Slotmachines beim Geldausschütten verwirren; oder die heimliche Zusammenarbeit mit Komplizen, die den Spielern relevante Informationen an Miniempfänger in deren Ohren übermitteln. Doch auch die Casinos schlafen nicht: Überwachungskameras in großer Zahl, modernste Software zur Erkennung von Gesichtern, Fingerabdrücken und Stimmen, ein Casino-Information-Network, das es erlaubt, Daten und Fotos mit anderen Casinos in den USA auszutauschen. Was es sonst noch an ausgeklügeltem Know-How gibt, können diejenigen erahnen, die den Film "Ocean's Eleven" gesehen haben. Es ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen von Technologien, und man darf wohl davon ausgehen, dass alles Machbare auch gemacht wird. Ergänzt werden die Sicherheitsmaßnahmen der Casinos durch ein paar unumstößliche Regeln. So etwa die, dass alles, was mit dem Spiel zu tun hat, über dem Tisch geschehen muss. Was das bedeutet, bekam eine Frau zu spüren, die - überwältigt von ihrem Glück - einen Royal Flash ihrem Ehemann zeigte, der nur eine kurze Distanz entfernt an einer Slotmachine saß. Das Spiel wurde für ungültig erklärt, und das viele Geld, das sie erwartet hätte, war weg.
 
 
"Das Buch gegen die Spielautomatensucht", "Wege aus der Glücksspielsucht", "Ratgeber für Glücksspielsüchtige und ihre Angehörigen" - Schriften dieser Art gibt es viele, in Deutschland ebenso wie in den USA. In den Casinos von Las Vegas liegen Ratgeber für "richtiges" Spielen aus und Hilfsangebote für diejenigen, die in dem Strudel von Risiko, Gewinn und Verlust den Überblick zu verlieren drohen. Für viele ist das Spielen in den Casinos ein bloßes Urlaubsvergnügen, vergleichbar mit dem Besuch einer Show oder einem abendlichen Bummel über die Flaniermeile, den Strip. Für andere ist es eine Versuchung, an der sie scheitern. "Erst wenn du nichts mehr hast, bist du frei", hat Achim Reichel einst in seinem Lied vom Spieler getextet, von dem "Irren", der das Schicksal auf groteske Weise herausfordert, indem er den Riesengewinn noch einmal setzt und damit scheitert. "Erst wenn du nichts mehr hast, bist du frei". Doch wann immer ein Spieler untergeht, schon steht der nächste bereit. Wenn sich die gigantische Glücksspielmaschinerie von Las Vega auf etwas verlassen kann, dann ist es der menschliche Spieltrieb. Ist es das Handeln des Homo sapiens als Homo ludens, als spielender Mensch, wie es der niederländische Kulturhistoriker Huizinga einst genannt hat. In diesem Sinne: Welcome to fabulous Las Vegas, der faszinierendsten Casino-Stadt der Welt!