Ijmuiden? Nie gehört.
Der Hafen am holländischen Nordseekanal ist ein guter Ausgangspunkt für Reisen nach Schottland. 2007-2009
 
 
Nein, wir kannten Ijmuiden nicht. Wir hatten den Namen noch nie gehört oder gelesen, wir wussten nicht, wie man ihn ausspricht, und hätte uns jemand gesagt, hinter dem Namen verberge sich eine Eskimosiedlung hinter dem Polarkreis, wir hätten ihm ohne zu zögern geglaubt. Mit anderen Worten: Ijmuiden war uns vollständig unbekannt, und daran hätte sich auch nichts geändert, wären wir nicht auf die Idee gekommen, nach Schottland zu fahren. Will man eine solche Reise mit dem eigenen Auto unternehmen, so gibt es nur wenige Wege, um auf die Insel zu gelangen. Einer davon führt über Holland. Täglich gibt es von dort eine Fährverbindung nach Schottland, oder um korrekt zu sein: nach England, denn die schottische Grenze ist von dort noch eine Autostunde entfernt. Newcastle heißt der Hafen, er ist das Ende der Strecke über das Meer. Und das holländische Ijmuiden ist ihr Anfang.
 
 
Dreimal waren wir in den letzten Jahren in Schottland, und dreimal haben wir uns für diesen Weg entschieden. "DFDS Seaways" heißt die Gesellschaft, die die Route bedient, ein dänisches Unternehmen mit Schiffen, die nordische Namen tragen wie "King of Scandinavia", "Queen of Scandinavia" oder "Princess of Norway". Die Prozedur ist jedesmal die gleiche. Da die Fähren während der Nacht unterwegs sind - Ankunft in Newcastle am nächsten Morgen -, beginnt das Einschiffen am Nachmittag des Abfahrtstages. Nach und nach treffen die Fahrzeuge ein, Autos vor allem, etliche LKWs sowie zahlreiche Motorräder, eine stetig länger werdende Schlange, die darauf wartet, dass die Schranken hoch gehen und der Weg auf das Abfertigungsgelände frei wird. Das Beladen des Schiffes ist eingespielt und perfekt, was nicht heißt, dass es schnell gehen würde. Wohl aber zügig - alles geschieht in einer ausgeklügelten Reihenfolge, kein Platz wird verschwendet, denn jeder Quadratmeter bringt Geld. Mit faszinerender Präzision fädeln sich die LKWs ein, jede Bewegung ist abgezirkelt und unter Kontrolle. Wiederholt werden in dem riesigen Schiffsbauch Brücken heruntergelassen, wodurch neue Ebenen für die Beladung entstehen. Auf die LKWs folgen die Wohnmobile und die Wagen mit Anhänger, dann die restlichen Fahrzeuge, die wie wir die Masse der Wartenden ausmachen, zwischendurch immer mal wieder ein paar Motorräder. Dirigiert von den Handzeichen der Ladearbeiter rollen wir über den eisernen Steg auf die Fähre, quetschen uns in Millimeterarbeit an den anderen Autos vorbei und dicht an den vorderen Wagen heran. Wer hier unsicher ist, hat schlechte Karten. Aber vermutlich käme ihm sofort jemand zu Hilfe, alles ist organisiert, und gewiss musste noch nie ein Fahrzeug wegen der Unsicherheit seines Fahrers zurückbleiben. Was danach kommt, ist eine Arbeit für das Gehirn: alles Wichtige für die nächsten Stunden mitnehmen, nichts vergessen, denn während der Überfahrt ist der Zugang zu den Fahrzeugen gesperrt. Versehen mit dem Nötigsten schlängeln wir uns durch die Lücken zwischen den Autos zum nächstgelegenen Ausgang und klettern über steile Treppen nach oben. Auch das Auffinden der Kabine ist keine leichte Aufgabe, denn das Fährschiff ist noch größer, als es von außen bereits den Anschein gehabt hatte. Doch schließlich haben wir unsere Kabine gefunden. Wir schieben die Magnetkarte ins Schloss und sind drin. Der Raum ist klein, aber funktional eingerichtet. Unser Heim für die nächsten 16 Stunden.
Doch nicht für sofort. Viel zu neugierig sind wir auf das, was draußen geschieht, und deshalb steigen wir mehrere Decks höher bis zu einem Bierausschank im Freien, bei dem sich bereits etliche Passagiere versammelt haben. Jeder mit einer Büchse in der Hand, stellen wir uns an einen der Stehtische, die wegen der Bewegungen des Schiffes auf See fest verankert sind. Wir schauen uns um. Was wir von unten nur ausschnittsweise sehen konnten, lässt sich von unserer erhöhten Position gut überblicken. Vor allem das Gegenüber springt uns in die Augen: eine gigantische Industrieanlage mit massigen Gebäuden, weit ausladenden Kränen und hohen Schornsteinen, aus denen dicke Wolken himmelwärts steigen. Stinkend vermutlich, was wir nicht sehen können, aber ahnen. Dieser Komplex ist das glatte Gegenteil von schön und ein Frontalangriff auf unsere Umwelt, gleichwohl dürfte er unentbehrlich sein, würden doch ohne Anlagen wie diese unsere Wirtschaft und unser Wohlstand nicht funktionieren. Oder wie ein Norddeutscher es vielleicht formulieren würde: Watt mutt, datt mutt! Wir erkundigen uns nach dem Namen. "Koninklijke Nederlandse Hoogovens" hieß das Werk ursprünglich, heute hält das indische Unternehmen "Tata Steels" alle Fäden in der Hand. Hochöfen, Walzwerke und Kokereien. Wir wenden uns ab und richten unsere Blicke auf die Wasserstraße, die sich zwischen uns und dem Industriekomplex befindet. Laut Reiseführer handelt es sich um den Nordseekanal, der von der Nordsee nach Amsterdam führt, also um den Wasseranschluss des Hafens von Amsterdam. Da die niederländische Hauptstadt nicht nur die größte Stadt des Landes ist, sondern überdies ein bedeutendes Industriezentrum, ist der Kanal stark befahren. Wir sind beeindruckt, wie die vielen Schiffe es angesichts des dichten Verkehrs schaffen, nicht zusammenzustoßen - Barkassen und Motorboote, Massengutfrachter und Autotransporter, ein Baggerschiff, das die Fahrrinne frei hält, Fähren wie unsere und nicht zuletzt die riesigen Containerschiffe, die von hier aus zu ihren Fahrten über die Weltmeere starten, um nach Tausenden Seemeilen in den Häfen von New York oder Kapstadt, von Singapur oder Shanghai vor Anker zu gehen.
 
 
Die Sonne scheint freundlich auf uns herab, kühles Bier rinnt durch unsere Kehlen, wir haben Urlaub, und dieses wohlige Gefühl verstärkt sich noch, als die Matrosen die Leinen von den Pollern losmachen und das Schiff sich vom Kai löst. Mit langsamer Fahrt schiebt sich die Fähre aus dem engen Hafenbecken in die Fahrrinne, eine Leistung des Kapitäns und seiner Mannschaft, die uns Hochachtung abverlangt. Schräg unter uns taucht eine kleine Insel mit einem Torpedo-Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg auf, dann gleiten wir langsam durch den Ausgang des Kanals und an einem Leuchtturm vorbei. Als wir uns umdrehen, entdecken wir am Strand gegenüber der Industrieanlage zwei Reihen kleiner Holzhäuschen, eines fein säuberlich neben das andere gesetzt. Häuschen für Urlauber? geht es uns durch den Kopf. Wer käme auf die Idee, an einer solchen Stelle Urlaub zu machen? - frei nach dem Motto: Es ist doch sehr schön hier am Meer, und die Dreckschleuder gegenüber nehmen wir einfach nicht zur Kenntnis. Wir sehen uns verständnislos an. Aber ok, wenn's gefällt!
 
Die Fähre gewinnt an Fahrt, während wir aufs offene Meer hinauslaufen. Etliche Schiffe liegen auf Außenreede, vermutlich warten sie auf einen Liegeplatz in einem Hafen. Später sehen wir mehrere Windparks im Meer sowie einige Bohrinseln, von denen aufgrund der Entfernung leider nur wenig zu erkennen ist. Als nur noch Wasser uns umgibt, beginnen wir mit der Erkundung unseres Schiffes. Einmal mehr beeindruckt uns die Größe, eine kleine schwimmende Stadt mit Restaurants, einem Casino und einem Tanzlokal, von den vielen Kabinen und dem technischen Equipment ganz zu schweigen. Auf unserer ersten Überfahrt mit einer DFDS-Fähre haben wir noch auf das Restaurant-Essen gesetzt, aber Steaks für 46 € sind nicht unsere Sache, und auch die anderen Angebote vermochten uns nicht zu überzeugen. Also bringen wir beim zweiten und dritten Mal eigene Vorräte mit, die wir genüsslich auf einem Aussichtsdeck verzehren. Danach Duty Free, vor allem schottischer Whisky, der in seinem Ursprungsland teuer ist, weshalb wir uns hier mit ein paar Köstlichkeiten eindecken. Der Rest des Tages ist reine Gemütlichkeit. Während drinnen gegessen und getanzt wird, gespielt und geshopt, suchen wir uns eine Bank auf dem Bootsdeck, öffnen eine Flasche, füllen die mitgebrachten Gläser und stoßen auf unsere Reise an. Bald nähert sich die Sonne dem Horizont, und der Himmel verfärbt sich, dann und wann kreuzt ein Schiff unseren Kurs, und in unseren Ohren klingt verhalten das Geräusch der Maschine. Golden wie die untergehende Sonne funkelt der Whisky in unserer Gläsern. Ijmuiden, der Hafen mit dem zuvor unbekannten Namen, liegt hinter uns. Newcastle ist unser Ziel. Morgen, nach einer Nacht auf See, werden wir es erreichen. Und anschließend geht es richtig los. Schottland, wir kommen!