Perle im Sand

 

Ghardaia: die Stadt in der Wüste.

 

Algerien 1990

 

 

Die Altstadt von Ghardaia ist ein Ort der Zeitlosigkeit. Sie könnte ebenso der Schauplatz eines orientalischen Märchens sein wie die Kulisse für einen Morgenland-Film. Käme der Kalif Harun ar-Raschid auf einem seiner heimlichen Streifzüge um die Ecke - er würde nicht auffallen. Auch Ali Baba und Aladin mit der Wunderlampe nicht, von der liebreizenden Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht ganz zu schweigen, die würde schon deswegen nicht auffallen, weil Frauen hier grundsätzlich nicht auffallen, da sie zu 99 Prozent aus weißen Schleiern bestehen. Das restliche Prozent sind die Augen, die daraus hervorlugen und den Weg suchen. Bekannte Wege zumeist, ist häufiger Ortswechsel doch nicht gerade ein dominantes Verhaltensmuster bei den Frauen von Ghardaia. Ihr Refugium ist das Haus. Für alles andere gibt es die Männer.

 

Wir sind ohne Führer in der Altstadt unterwegs und deshalb ein wenig verloren in den Gassen und Gässchen  und den halbfinsteren Durchgängen, die allesamt nur ein einziges System zu kennen scheinen: den permanenten Richtungswechsel. Wie wir hier wieder herausfinden werden? Wir sind optimistisch, denn es ist noch hell, irgendwie werden wir es schon schaffen. Fürs erste jedenfalls gibt nicht ein möglicher Ausgang die Richtung an, sondern das Sehenswerte, der reizvolle Blick für das Auge und für die Linse, die möglichst viel festzuhalten versucht. Unser Weg führt uns hügelaufwärts, der Moschee entgegen, die den höchsten Punkt der Stadt markiert. Die freilich nur in seltenen Momenten zu sehen ist, denn die Aussicht ist begrenzt in dieser Stadt, die - eine weitere Besonderheit - die Enge zum Bauprinzip hat. Zumindest was das Äußere der Häuser anbelangt, denn das Innere sehen wir nicht. Alles, was hinter den Mauern und Türen liegt, ist dem Auge des Fremden verschlossen.

 

Könnte man von diesen Mauern und den Türen auf die soziale Differenzierung in der Stadt schließen, so wäre diese gering. Hervorstechende Gebäude gibt es nicht in der Altstadt, auch keine Paläste, ja selbst die Moschee folgt in ihrer Bauart und ihrer Ornamentik dem gleichen Modell wie die Häuser. Was mitnichten zu architektonischer Langeweile geführt hat, vielmehr zu einem Ensemble von großer Ästhetik. Und Funktionalität - die Anpassung an eine Lebensumwelt, die man sich feindlicher kaum vorstellen kann. Möglichst viel Schatten heißt deshalb das Motto, wenn die Sonne in den glühendheißen Sahara-Sommern fast senkrecht am Himmel steht und das Land in einen Backofen verwandelt. Und möglichst viel Wärme in den Winternächten, wenn das Thermometer unter Null fällt und eisige Winde über das Land fegen. In diesen Zeiten feiern die Baumeister von Ghardaia ihre Triumphe.

 

Ein Mann mit einem Esel kommt uns entgegen, auf beiden Seiten seines Tieres hängen Körbe mit Möhren, Zwiebeln und anderem Gemüse, das er auf dem Markt zu Füßen der Altstadt gekauft hat. Zwei andere Männer keuchen unter der Last mehrerer Teppiche. In Rottönen gehalten sind deren Muster, womit sie ebenso traditionell sind wie die Häuser, die Kleidung der Menschen oder das Leben, das diese führen. Wenn das Wort Tradition irgendwo in Algerien eine Bedeutung hat, dann hier in Ghardaia, weit mehr als in allen anderen Städten. Unser Kalender zeigt - nach christlicher Zählweise - das Jahr 1990. Aber vielleicht ist das ja ein Irrtum. Vielleicht befinden wir uns im Jahr 1790 oder 1390 oder gar in einem früheren Jahr? Für einen Besucher ohne Kalenderwissen wäre es nicht einfach, sich zeitlich in den Gassen dieser Altstadt zu verorten. Aber gerade das ist es, was den besonderen Reiz von Ghardaia ausmacht. Ghardaia - das ist nicht nur eine Reise an einen anderen Ort. Ghardaia ist auch eine Reise in der Zeit.

 

"As-salam alay-kum", grüßt ein zahnloser Greis, und wir geben den Gruß so gut wir können zurück: "Wa alay-kum as-salam." Der Alte lächelt. Zwei Gassen weiter steht ein anderer, der lächelt nicht, der ist erregt, ja wütend, er schnaubt und gestikuliert mit den Händen. Um ihn herum steht ein Dutzend weiterer Männer, allem Anschein nach sind sie ebenso erregt wie er. Das Gesicht des Redners ist respekteinflößend, es hat etwas aristokratisches. Der Mann könnte ein Kaufmann sein, einer von jenen geschäftstüchtigen Männern, die die Stadt zu einem Synonym für erfolgreichen Handel gemacht haben. Oder er ist einer aus dem Rat der Zwölf - 12 Männern, die in dieser Stadt das Sagen haben, sowohl in Angelegenheiten der Religion als auch in rechtlichen und politischen Fragen. Ghardaia als ein kleiner Staat im Staate, auch das ist Tradition, von Generationen erkämpft und bis in die Gegenwart erhalten. Wir drücken uns in eine Hausnische und beobachten. Und wenn er nun doch Harun ar-Raschid ist, und die anderen Ali Baba und Aladin und der Seefahrer Sindbad und weitere, die unsere Erinnerung ausspuckt? In diesem Moment unterbricht der Muezzin. Sein Singsang ertönt, diesmal nur halb Tradition, denn der Muezzin kommt aus der Konserve und seine kraftvolle Stimme aus einem Lautsprecher, nur die Worte, die sind die alten. Harun ar-Raschid hält inne, die Umstehenden ebenfalls, und gleich darauf wenden sich alle gemeinsam der Spitze des Hügels zu, wo die Moschee liegt, denn es die Zeit zum Gebet.

 

Für uns ist es Zeit, die Medina zu verlassen. Während wir umher geschlendert sind, haben sich die Schatten immer weiter in die Gassen vorgeschoben, nun mahnen sie uns zum Aufbruch. Die Dunkelheit in Ghardaia verträgt keine Fremden. Wir suchen den Weg. Plötzlich, in einem Durchgang, eine Sinfonie von Gerüchen - Zimt, Cardamom und andere Gewürze, sämtliche Gerüche, die wir mit dem Wort Orient verbinden. Ein Klischee, gewiss, aber eines, das uns das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Über eine Mauer dringt Kinderlachen zu uns herüber, eine Frau ruft, eine andere antwortet. Wir suchen weiter. Noch zwei, drei Ecken, ein Mal verlaufen, eine Kehrtwendung um 180 Grad, dann haben wir den Ausgang der Medina erreicht. Lichter empfangen uns, das Lärmen zahlreicher Menschen, das Hupen eines Autofahrers, der im Streit mit einem Eseltreiber liegt. Unser Ausflug in die Zeitlosigkeit ist zuende. Wir sind zurück. Willkommen im Jahr 1990!