"Still alive"
Lenin ist in Russland noch immer allgegenwärtig. Moskau 2018
 
Es ist das Erste, was uns in unserem Hotel auffällt: Auf der Theke an der Rezeption steht Lenin. Jedenfalls ein Teil von ihm, eine Büste aus Metall, etwa 20 cm hoch, und unter seiner Schirmmütze hervor blickt er uns an. Meine Überraschung ist so groß, dass mir ein "Oh, he is still alive!" herausrutscht. Worauf die beiden Angestellten - beide geschätzt Mitte zwanzig - uns aus großen Augen anschauen, ebenso verblüfft wie wir, und ihren Mündern zeitgleich ein entschiedenes "Of course!" entfährt. Lenin ist also nicht nur präsent, er ist selbstverständlich präsent. Und das im Moskau des Jahres 2018, knapp 100 Jahre nach seinem Tod, vor allem aber 32 Jahre, nachdem Gorbatschow mit Perestroika und Glasnost die Lawine losgetreten hat, die das Ende der von Lenin geschaffenen Sowjetunion einleitete. Welch eine Überraschung!
 
Doch bleibt diese Begegnung mit dem Mann, der Russland einst so grundlegend verändert hat, nicht die einzige. Schnell lernen wir, dass er trotz Gorbatschow und allem, was danach kam, bis heute allgegenwärtig ist. In den Souvenirläden etwa, wo es neben Matrjoschkas, bedruckten Kaffeetassen und Maskottchen der letzten Fußball-WM auch Leninbüsten zu kaufen gibt; in der Metro, wo sein Nachfolger Stalin für die auf dem Weg zur Arbeit hastenden Werktätigen Lenin-Gedächtnisecken eingerichtet hat; in dem 16 km langen Leninski-Prospekt, der noch immer seinen Namen trägt (in ganz Russland gab es Ende 2017 noch 5.776 nach Lenin benannte Straßen). Immer wieder stoßen wir auf seinen Namen und auf sein Bild - und gegen Ende unserer Reise, in seinem Mausoleum auf dem Roten Platz, begegnen wir sogar noch ihm selbst.
 
 
Wobei uns der Besuch bei ihm erst in einem zweiten Anlauf gelingt. Ein erster Versuch scheitert an dem Umstand, dass der Besuchszeitraum mit nur drei Stunden von 10 bis 13 Uhr äußerst knapp bemessen ist. Wir sind zu spät dran, als wir uns in die Schlange der Wartenden einreihen wollen. Ausgehend von deren Länge hätten wir es bis zu dem Mausoleum nicht mehr geschafft. Am darauffolgenden Tag ist Lenin überhaupt nicht zu sehen. Es handelt sich um einen von zwei Sperrtagen, die es allwöchentlich gibt. Der Grund: An diesen beiden Tagen begutachtet ein Team von zwölf Wissenschaftlern den Toten. Was sie dabei mit ihm anstellen, ist ein streng gehütetes Geheimnis, doch dass es um seine Ausstellungsfähigkeit geht, liegt auf der Hand. Speziell für diesen Zweck befinden sich Räumlichkeiten mit allen erdenklichen Apparaturen unter dem Mausoleum - eine teure Angelegenheit (etwa 1,5 Mio. US-Dollar kostet die Lenin-Show alljährlich), für die heute nicht mehr wie zu Sowjetzeiten der Staat aufkommt, sondern ein privater Fonds.
Einen Tag später. Kurz nach 10 Uhr reihen wir uns in die Schlange ein, die bereits Hunderte Meter lang ist und von Minute zu Minute immer weiter anwächst. Ich nutze die Zeit, um Karin mit geschichtlichem Hintergrundwissen zu versorgen, schließlich habe ich im Rahmen meines Politologie-Studiums - Schwerpunkt sozialistische Länder - Lenin gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen: Lenin, der mit seinen Bolschewiki in der Oktoberrevolution 1917 das alte Regime gestürzt und den Aufbau des Sozialismus in Angriff genommen hat; Lenin, der in einem blutigen Bürgerkrieg die neue Ordnung gegen die Anhänger des alten Regimes und gegen ausländische Invasionsmächte verteidigt hat; Lenins Tod 1924 im Alter von gerade einmal 53 Jahren als Folge eines Schlaganfalls, womit der Weg frei war für seinen Nachfolger Stalin. Eine lange Geschichte mit vielen Facetten, doch nach zwei Stunden haben wir den Einlass für das Mausoleum erreicht, und ich breche meinen Bericht ab. Die Kontrolle gestaltet sich weit einfacher, als wir erwartet hatten: eine Torsonde wie auf einem Flughafen, die Metall aufspürt, eine kurze Durchsuchung unserer Taschen, und das war's. Keine Abnahme unserer Handys, wie wir vorher gehört hatten, kein Einschließen unserer Taschen, einfach wortlos weitergewinkt und schon sind die nächsten an der Reihe.
 
Der Weg von der Einlasskontrolle zum Mausoleum beträgt gut hundert Meter und führt an der Nekropole an der Kremlmauer entlang, einem Ehrenfriedhof, auf dem etliche hochrangige Persönlichkeiten des Landes ihre letzte Ruhe gefunden haben. Die ehemaligen Sowjetführer Leonid Breschnew und Juri Andropow gehören dazu, Felix Dserschinski, der Gründer der Tscheka, der berüchtigten Vorgängerorganisation des KGB, der Schriftsteller Maxim Gorki und der erste Mensch im Weltraum Juri Gagarin, Lenins Ehefrau Nadeschda Krupskaja und mit der Frauenrechtlerin Clara Zetkin und Fritz Heckert auch zwei deutsche Kommunisten. Und Stalin liegt dort. 1953 verstorben, ruhte sein Leichnam acht Jahre lang Seite an Seite neben Lenin in dessen Mausoleum, bis Nikita Chruschtschow - Stalins Nachfolger - ihn wegen begangener Verbrechen daraus entfernen und an der Kremlmauer beisetzen ließ. Seither ruht der einstige "Genius der werktätigen Massen", der "weise Führer des Weltproletariats" in einer Reihe mit all den anderen, ein schlichtes Grab so wie ihre Gräber, allerdings eines, auf dem an diesem Tag als einzigem ein Strauß echter Blumen liegt, während die anderen mit Nelken aus Plastik Vorlieb nehmen müssen.
Ein letzter Blick auf die Kremlmauer und die Gräber, dann geht es hinein ins Mausoleum. Um das nun Folgende würden uns gewiss viele Anhänger Lenins beneiden, wenn sie davon wüssten: Wir sind mit ihrem Idol allein. Eine ganze Minute lang sind nur er da und wir, lediglich in den Ecken stehen unauffällig einige Wachen. Was einen einfachen Grund hat: Die Besucher vor uns sind sehr schnell gelaufen, die nach uns haben bei den Gräbern an der Mauer getrödelt, deshalb gibt es für uns nun diese exklusive Audienz. Nach dem hellen Tageslicht empfinden wir das Innere des Mausoleums als nahezu stockdunkel, das Einzige, was wir in diesem Moment wahrnehmen, sind drei von versteckten Lampen angestrahlte Punkte: das Gesicht Lenins und seine Hände, von denen die eine zur Faust geballt ist. Ein Bild, das bei mir - zugegeben ein wenig respektlos - den Eindruck einer Geisterbahn hervorruft. Den Anzug und die Krawatte erkennen wir erst auf den zweiten Blick, nachdem sich unsere Augen an das Dunkel gewöhnt haben. Da liegt der Verstorbene nun also vor uns - er selbst in seiner ganzen einstigen Größe, und das volle 94 Jahre nach seinem Tod! Auf eine beklemmende Weise erinnert sein Aussehen an die Wachspuppen von Madame Tussaud. Die ursprünglichen Strukturen seines Gesichts und seiner Hände sind erkennbar von der jahrzehntelangen "Pflege" überdeckt, was keine kleinliche Mäkelei sein soll, denn natürlich ist es eine beeindruckende Leistung, einen menschlichen Körper über einen so lange Zeitraum allen biologischen Prozessen zum Trotz so gut zu erhalten. Dass Lenin hinter Glas liegt wie in einem "Schneewittchensarg", nehmen wir nicht unmittelbar wahr. Diese Tatsache erschließt sich uns nur durch das Wissen, dass der Leichnam bei einer konstanten Temperatur von sieben Grad aufbewahrt wird. Eine Minute lang schauen wir den Toten gebannt an, ein irgendwie irreales Gefühl, diesem Mann, der wie wenige andere den Lauf der Geschichte beeinflusst hat, hier plötzlich gegenüberzustehen. Jenem Mann, der vermutlich die besten Absichten für sein Volk hatte, und der mit seiner Ideologie und seiner Politik dennoch den Grundstein für eine der brutalsten Diktaturen der Neuzeit gelegt hat - auch wenn etwa die beiden jungen Leute an der Rezeption unseres Hotels das mit ihrem mit glänzenden Augen gesprochenen "Of course!" nicht wahrhaben wollen.
 
Eine Minute ist schnell vorbei, dann stehen die Nächsten vor Lenin, dann weitere und noch mehr und so geht es - abgesehen von den Ruhezeiten - tagein und tagaus. Bereits wenige Wochen nach seinem Tod im Jahr 1924 gab es für den Verstorbenen ein erstes Mausoleum, eines aus Holz, danach ein weiteres, ebenfalls aus Holz, bis man jenes aus feinem Labradorstein und dunkelrotem Granit errichtete, das heute noch besteht. Von längeren Unterbrechungen etwa während des Krieges abgesehen, als der Sarg samt Inhalt nach Sibirien in Sicherheit gebracht wurde, erwiesen ihm Millionen und Abermillionen Sowjetbürger und ausländische Besucher die Ehre. Ob man Lenin auch zukünftig als ein Schauobjekt ausstellen oder ihn neben seiner Mutter und seiner Schwester in Sankt Petersburg beisetzen soll, ist ein immer wiederkehrendes Thema in Russland. Man mag sich dazu stellen, wie man will - auf jeden Fall wäre Moskau mit Lenins finalem Begräbnis um eine hochkarätige Attraktion ärmer. Soll man Lenin also auch weiterhin ausstellen?
 
Manfred Lentz (November 2018)
 
 
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