Besuch aus der Hölle
Ein Stadtfest in Südfrankreich. 2005
 
 
 
Für diesen Bericht benötigen Sie zunächst eine Gebrauchsanweisung: Gehen Sie an Ihre CD-Sammlung und suchen Sie die wildeste Rock-Scheibe heraus, die Sie finden können. Sollten das die Rolling Stones sein, Gary Moore oder Vergleichbares, dann können Sie das gleich vergessen. Deren Musik sind Lullabies. Was Sie brauchen, ist Härte. Drumsticks aus Stahl über Trommeln, deren Felle einen herabstürzenden Bühnenaufbau überstehen würden, eine Bassdrum, deren getretene Frequenz den Rhythmus Ihres Herzschlags um ein Mehrfaches übertrifft. Dazu der Sound einer Gitarre an der Grenze zum Schmerz. Verzerrt bis ins Extrem, eine musikalische Vergewaltigung von sechs Saiten, ach was sage ich - sechs Stahltrossen, malträtiert von einem Plektrum, mit dem Sie King Kong den Bauch aufschlitzen könnten. Und was die Melodie anbelangt - vergessen Sie alles, was Sie je über Melodien gehört haben! Es geht um Töne, kreischende, schreiende, zerrende, röhrende Töne, die ganze Palette. Sollten Sie eine solche CD in Ihrer Sammlung haben, dann schieben Sie die in ihren Player, drehen ihn auf und übersteuern ihn bis zum Anschlag. Haben Sie das getan, dann sind Sie in der richtigen Stimmung für die folgenden Bilder. Lassen Sie sich fallen und tauchen Sie ein in ein akustisch-optisches Chaos. Es ist das Jahr 2005. Wir sind in Quillan.
 
In Quillan?! Eine Kleinstadt in Südfrankreich, weniger als 4.000 Einwohner. Gemütlich, beschaulich, hübsche Häuser, alles adrett und gepflegt, Bürger, die fleißig ihrer Arbeit nachgehen, eine schöne Umgebung. Provinz von ihrer angenehmsten Seite. Wir haben uns für ein paar Tage auf dem Campingplatz niedergelassen, haben Ausflüge in die Umgebung unternommen und französisch-lecker in Restaurants gegessen. Eigentlich wären wir schon abgefahren, aber dann haben wir gehört, dass es in der Stadt ein Fest gibt, eine alljährlich wiederkehrende Veranstaltung, bei der die ganze Bevölkerung auf den Beinen ist. Klar, dass wir ein solches Ereignis mitnehmen. Auch wenn Blaskapellen nicht unbedingt unser Geschmack sind (oder haben die Franzosen Akkordeonkapellen?), ein paar gefällige Chansons schon eher, und vielleicht gibt es ja auch noch die Marseilleise, womöglich um Mitternacht, das könnte recht stimmungsvoll sein. Also machen wir uns zur angesagten Zeit auf den Weg. Die Berge ringsum sind nur noch als Schattenrisse zu erkennen, in der Stadt leuchten Lichter, darunter vermutlich manch flackernde Kerzen, die brave Bürger an ihrem wohlverdienten Feierabend entzündet haben, bevor sie sich mit Opa und Oma und den Kindern auf den Weg zu ihrem Stadtfest machen.
 
Wir haben den Veranstaltungsort fast erreicht, als auf einmal die Hölle losbricht. Einen Augenblick stehen wir wie angewurzelt da, dann hasten wir mit ausgreifenden Schritten auf den Festplatz. Was für ein Anblick! Blitze zucken unter donnerndem Getöse, Knallkörper explodieren, die Häuser, die Bäume, Männer, Frauen und Kinder, sie alle ertrinken in einem Meer aus rot-gelben Schwaden, dazu hetzen Menschen vor einem Wagen hin und her, ach was heißt Menschen, wie Menschen sehen sie eigentlich nicht aus, eher wie Satans höllische Scharen, wie Dämonen, wie Wesen aus einem Alptraum, einige mit Körben auf den Rücken, aus denen laut zischend Lichtfontänen hervorschießen, und dazu dröhnt Musik über den Platz, Musik in ihrer aggressivsten Form, solche, wie Sie sie in diesem Augenblick auch hören, wenn Sie meiner Gebrauchsanweisung gefolgt sind. "Naphtaline" ist in der Stadt! Eine Eventgruppe, deren Namen wir noch nie gehört haben, der sich aber bereits in den ersten Sekunden so tief in unser Gedächtnis einbrennt, dass wir ihn bis an unser Lebensende nicht mehr vergessen werden. Ein Junge presst sich weinend an seine Mutter, als ein wild gestikulierendes Zottelwesen vorbei stürzt, Kobolde rotieren wie Kreisel, vollführen Luftsprünge und verrenken ihre Gliedmaßen auf das Absonderlichste. Tut sich in seltenen Momenten eine Lücke in den rot-gelben Schwaden auf, dann wird ein Vermummter auf dem Wagen sichtbar, der wie wild auf ein Schlagzeug eindrischt, zwei Schritte entfernt steht einer mit einer Gitarre, seine Hände sind in rasender Bewegung, Zuarbeit für einen Verstärker, der wohl 100.000 Watt haben dürfte oder mehr. Wir sind fassungslos! Nicht in Berlin, nicht in London oder Paris - nein, in Quillan erleben wir ein solches Spektakel!
Irgendwann setzt der Wagen sich in Bewegung, vermutlich angetrieben von den Schallwellen, die gegen die Fassaden der Häuser donnern und von diesen zurückgeworfen werden. Vorneweg zieht ein Drache, feuerspeiend, gewiss auch fauchend, was in dem Höllenlärm allerdings untergeht, dazu bleckt er die Zähne und funkelt mit bösartigen Blicken die Menschen an, die mit weit aufgerissenen Augen und offenen Mündern zu seinen Füßen stehen. Ein Stück oberhalb des Drachens hat sich der Herrscher all dieser dämonischen Wesen aufgebaut, riesige Hörner auf dem Kopf, mit den Armen wild ausgreifend im Rhythmus der hämmernden Musik. Aber das ist noch nicht alles, da ist noch das Monster am Ende des Wagens, halb Affe, halb Mensch, es ist eingesperrt in einen Käfig aus eisernen Stangen, gegen die es ohne Unterlass anrennt, als gelte es sein Leben, aber das gilt es ja auch, zumindest in diesem brüllenden Inferno. Immer heftiger dröhnt die Musik gegen unsere Trommelfelle, immer wilder wühlen die Beats in unseren Mägen. Wie lange dieser Spuk währt - wir können es nicht sagen, er erscheint endlos, aber schließlich bricht er ab, hart, abrupt und so total, dass es beinahe weh tut. Nur langsam kehren wir in die Wirklichkeit zurück, nur allmählich beruhigt sich unserer Puls. "Naphtaline" hat uns betrunken gemacht, nein, viel mehr: "Naphtaline" hat uns mit diesem elektrisierenden Cocktail in Süchtige verwandelt, denn eigentlich wollen wir noch mehr, viel mehr, aber nun ist es aus.
 
Die Szenerie wechselt. Bürger in hübschen Masken erscheinen, adrett gekleidet in gefällig geschnittenen Kostümen, Akkordeonspieler treten in Aktion. Das Stadtfest nimmt seinen Fortgang, ordentlich, liebevoll gemacht, bürgerlich bieder, wie das bei Stadtfesten gewöhnlich der Fall ist. Es wird ein langer Abend, feuchtfröhlich und mit viel Musik und mit einem großen Feuer am Schluss. Aber selbst als wir nach Mitternacht auf unseren Campingplatz zurückkehren, zucken noch immer die Lichter des höllischen Spektakels auf unseren Gesichtern, und die wilden Rhythmen dröhnen uns weiter in den Ohren. Unglaublich! Es war eine großartige Schow, die uns hier so unvermittelt in den Schoß gefallen ist. Eine Show, wie wir sie nie zuvor erlebt haben. Und auch nie mehr danach.