Tod und Tulpen.
Der Friedhof der Trinity Church in
New York. 2010
Was hat die amerikanische Zehn-Dollar-Note mit dem Friedhof der Trinity Church in New York gemein? Die Antwort ist ein Name: Alexander Hamilton. Auf der Banknote ist er abgebildet, auf dem Friedhof ruht er. Neben Hamilton, einem der Väter der amerikanischen Verfassung, ruhen hier auch William Bradbord, ein Engländer, der 1617 mit der legendären "Mayflower" in die neue Welt segelte, der Erbauer des ersten brauchbaren Dampfschiffs Robert Fulton sowie ein Einwanderer aus dem badischen Walldorf, der es seinerzeit vom armen Metzgersohn zum reichsten Mann der USA brachte: Johann Jakob Astor.
Wir entdecken den Friedhof eher zufällig, als wir im südlichen Manhattan unterwegs sind. Er ist der älteste Friedhof New Yorks, und vielleicht ist er auch der bemerkenswerteste. Eingerahmt von Wolkenkratzern, liegt er wie in einem Tal, an seinem Rand steht die dazugehörige Kirche, die mit ihren 86 Metern einst das höchste Gebäude der Stadt war, die diesen Rang aber längst hoffnungslos eingebüßt hat. Ein Ort der Ruhe ist dieser Gottesacker, einer relativen jedenfalls, verhindert doch der ununterbrochene Verkehr auf der Straße, an die er grenzt - es ist der Broadway -, dass er diesen Zustand jemals in Vollendung erreicht. Auch wir genießen die relative Ruhe inmitten der weltstädtischen Hektik, lassen uns auf einer Bank nieder und strecken unsere müden Touristenbeine aus. Und während wir so sitzen und unsere Blicke schweifen lassen, fällt uns auf einmal etwas auf - die bunten Farbkleckse, die sich an den Rändern der Friedshofswege entlangziehen, die in ihrer Buntheit vorzüglich zu den zartrosa blühenden Bäumen und dem frühlings-frischen Grün zwischen den Gräbern passen, die uns aber schon auf den ersten Blick und noch viel mehr auf den zweiten und dritten als unpassend für diesen Ort erscheinen: Tulpen. Weiße und rote, gelbe und orangefarbene. Wir kramen in unserer Erinnerung, aber noch nie haben wir Tulpen auf einem Friedhof gesehen, lediglich Stiefmütterchen und Vergissmeinicht, Ringelblumen, weiße Lilien und Veilchen. Aber Tulpen? Haben wir sie womöglich übersehen? Woraus sich eine naheliegende Frage ergibt: Haben diese Blumen vielleicht eine besondere symbolische Bedeutung, aufgrund derer sie für einen Friedhof als besonders geeignet erscheinen?
Ein kurzes Googeln verschafft uns Klarheit: Tulpen, so erfahren wir, können in der Literatur und in der darstellenden Kunst für die Vergänglichkeit stehen. Aha, denken wir: Vergänglichkeit, also Tod, also Friedhof, womit Tulpen auf einem solchen durchaus passende Blumen wären. Ähnlich ist es mit ihrer Bedeutung in der "Blumensprache", in der sie als Symbole für Liebe und Zuneigung gelten, speziell die roten, ebenso wie die Rosen. Auch passend, denken wir, gewiss nicht bei jedem Grab, aber dass an vielen Gräbern ehrliche Tränen vergossen wurden, davon darf man wohl ausgehen. Schließlich finden wir noch eine dritte Bedeutung, und nachdem wir diese gelesen haben, sind wir uns sofort einig, dass der Friedhof der Trinity Church geradezu der ideale Ort für Tulpen ist. Um das zu verstehen, muss man einen kurzen Blick auf deren Geschichte werfen.
Tulpen stammen aus dem Orient und gelangten seit der Mitte des 16. Jahrhunderts nach Europa. Speziell die Holländer nahmen sich ihrer an, wie jeder weiß, denn daran hat sich bis heute nichts geändert. Schon bald nach ihrer Einführung brach ein wahres Tulpenfieber aus, und viele Zeitgenossen begannen, sich auf den Handel mit dieser Blume zu stürzen. Insbesondere die Sorte "Semper Augustus" mit den weiß und rot geflammten Blüten - noch heute im Handel - erwies sich als ein Renner und löste wilde Börsenspekulationen aus. Einen Höhepunkt erreichte die "Tulpomanie" im Jahre 1637, als es zum ersten Börsenkrach in der Geschichte kam und viele der an dem Handel Beteiligten ein Vermögen verloren. Seither gilt die Tulpe neben ihren anderen Bedeutungen auch als ein Symbol für schwarze Börsentage. Und warum nun, werden sie sich fragen, sind Tulpen gerade auf diesem Friedhof die passenden Blumen? Ganz einfach: Verlässt man den Friedhof und überquert den Broadway, so gelangt man in eine relativ kleine, dafür um so bekanntere Straße, deren Name von der Stadtmauer herrührt, die sich hier einst befand: die Wall Street. Ein Name, der allgemein bekannt ist als der Sitz der New York Stock Exchange, der wohl bedeutendsten Börse weltweit. Vor dem Gebäude stehen keine Tulpen. Ob in seinem Inneren Tulpen in Vasen die Räumlichkeiten zieren, weiß ich nicht. Aber nur eine Gehminute entfernt stehen sie, wir haben sie gesehen. Bunte Symbole für schwarze Börsentage - gerade in der jüngsten Vergangenheit hochaktuell. Ein Gedanke kommt uns und wir müssen grinsen: Und wenn diese Tulpen vielleicht ein schwarz-humorisches Geschenk wären - die letzte Spende eines in den Ruin getriebenen Zockers?