Abgeholzt und weggeschneitelt.
Nepal und sein Wald. 1978, 1984 und 1987
 
 
Ich war ein Warmduscher, und dafür schäme ich mich. 1978, auf meiner ersten Reise nach Nepal, war ich einer, weil ich noch keine Ahnung von den Zusammenhängen hatte. 1984 und 1987 war ich ebenfalls einer, wenngleich einer mit schlechtem Gewissen. Denn natürlich war mir inzwischen bewusst geworden, was ich mit meinem Warmduschen anrichtete. Aber kalt? Nein, kalt war nichts für mich. Warm sollte meine Dusche sein. Das war angenehm - wenn ich beim Trekking den ganzen Tag unterwegs gewesen war, bergauf und bergab, wenn der Schweiß in Strömen geflossen war, vielleicht eine Blase an den Füßen, die Beine wie Gummi, dann endlich am Ziel, eine Hütte in einem Dorf mit einem Schild "Annapurna Lodge" oder "Mountainview Guesthouse", ein erster Tee und vor der einfachen Mahlzeit noch unter die Dusche. Unter warmes Wasser, das so herrlich am Körper hinunterlief,
 
 
das jeden malträtierten Muskel und jeden geschundenen Knochen liebkoste und für ein paar Minuten die einfache Hütte mit ihren schäbigen Matratzen, den verwanzten Betten und dem spartanischen Mobiliar in eine Wellnessfarm verwandelte. Jawohl, das war schon ein ganz besonderer Genuss!
 
Szenenwechsel. Ein Tempel auf dem Durbar Square in der Hauptstadt Kathmandu auf einer meiner Reisen. Auf welcher, ist egal, denn in dem Jahrzehnt, in dem ich Nepal bereise, verändert sich nicht viel. Die ersten Frauen kommen am Vormittag, jede mit einem Bündel Holz auf dem Rücken, das sie nach nepalischer Art mit Hilfe eines Stirnbandes tragen. Die Bündel sind von beachtlicher Größe, entsprechend stark muss der Zug auf den Stirnen der Frauen sein und der Kraftaufwand ihrer Halswirbelsäulen, die diese schweren Lasten ausbalancieren müssen. Ein paar Männer warten bereits auf sie. Keine Holzträger, diese Arbeit erledigen in der Regel Frauen. Die Männer sind Händler, die das Mitgebrachte an die Kunden verhökern, die sich nach und nach bei dem Tempel einfinden. Aus der nahen Umgebung kommt das Holz kaum noch. Die schnell wachsende Stadt hat das meiste längst verbraucht, und viel zu wenig wächst nach. Holz kommt aus den Bergen ringsum, wird mit LKW zu Sam-melplätzen gefahren und von den Frauen über die Stadt verteilt. Holz zum Kochen, und wenn es kalt ist, auch solches zum Heizen.
Eine Alternative war seinerzeit Kerosin, und sie ist es heute noch immer. Daneben kommen Strom und Gas zum Einsatz, Biogasanlagen auf dem Land und Solarkocher. Selbst in den entlegensten Dörfern ist inzwischen ein Hauch von Fortschritt eingezogen. Entwicklungshilfe - auch aus Deutschland - und private Initiativen haben es möglich gemacht. Um 1980 war das alles noch Zukunftsmusik, damals drehte sich fast alles ums Holz, und entsprechend sah die Landschaft aus. Seit 1960 hatte sich der Waldbestand Nepals um ein Drittel verringert, in manchen Gebirgsgegenden sogar um noch mehr. Die Folgen waren nicht zu übersehen: abge-rutschte Hänge, an den Flüssen weggeschwemmte Ufer, nachdem das Abholzen den zerstöre-rischen Kräften von Wind und Regen freien Raum gegeben hatte. Ein Problem vor allem für die einheimische Bevölkerung, mitunter aber auch für uns, die wir in den Bergen unterwegs waren. Dass die Situation sogar lebensgefährlich für uns werden konnte, darüber werde ich in einem späteren Beitrag berichten. An dieser Stelle möchte ich noch auf ein anderes Problem eingehen, das ebenfalls zur Zerstörung der Wälder beitrug und das auch heute noch dazu bei-trägt: das Schneiteln.
 
Nepal im März 1984, an einem sonnigen Tag, rund 250 Kilometer von Kathmandu entfernt. Ein langer Trekkingtag geht zu Ende. Um 8 Uhr sind wir aufgebrochen, nun steht die Sonne knapp über den Bergen und unser Tagesziel ist in Sicht. Plötzlich fällt wenige Schritte von mir entfernt ein Ast zu Boden. Ich schrecke zusammen. Als ich in die Richtung schaue, fällt mein Blick auf einen Baum, oder genauer: auf etwas, was einmal ein richtiger Baum gewesen war, was inzwischen aber nur noch aus einem dicken Stamm besteht und aus kurzen Ästen, an denen Laub steckt wie Nadeln in einem Nadelkissen. Gleich darauf entdecke ich in einer für mich schwindelerregenden Höhe einen Mann in dem Baum. In seiner Hand hält er ein langes Messer, mit dem er auf einen Ast einschlägt, bis dieser ebenfalls herunterfällt. Ein paar Mal wiederholt er die Prozedur, schließlich klettert er nach unten. Er lächelt uns zu. Ganz offensichtlich ist diese Arbeit für ihn reine Routine, die er verrichtet, seit er klettern kann. Unterstützt von einigen Hinzukommenden sammelt er seine "Ernte" auf, und gemeinsam machen sich alle auf den Rückweg ins Dorf. Schneiteln heißt das, was der Mann gerade getan hat. Die Gewinnung von Viehfutter von einem Baum. Dieses Schneiteln hat in Nepal Tradition, allerdings geht die Tradition auf eine Zeit zurück, in der es noch sehr viel mehr Bäume gab als heute. Wie lange, erkundigen wir uns später in unserer Unterkunft, hält ein solcher "Futterbaum" durch, wenn man ihn immer wieder seiner jungen Äste und Blätter beraubt? Lange, bekommen wir zur Antwort. Und wenn er eines Tages sein Leben verloren habe, werde er gefällt und diene als Feuerholz, was man ja ebenfalls brauche. Wir halten nach jungen Bäumen Ausschau, können aber nicht viele entdecken. Und wo schneitelt man weiter, fragen wir? Ein Achselzucken ist die Antwort. 
Viehfutter für den Eigenbedarf, aber ebenso für den Verkauf, nicht anders als der Handel mit Holz. Wiederholt haben wir Frauen getroffen, die unter riesigen Bündeln von Ästen und Blattwerk kaum noch zu erkennen waren. Ob ihnen klar war, was ihr Tun für die Natur bedeutet, konnten wir nicht wissen. Aber es wäre unsinnig gewesen, ausgerechnet sie für den Raubbau verantwortlich zu machen. Wenn jemand Verantwortung trug, dann war es die Regierung oder - den Rahmen noch weitergesteckt - die internationale Öffentlicheit nach dem Motto: Wir leben alle auf demselben Planeten, also muss der Schutz der Natur eine gemeinsame Aufgabe sein. Und in der Tat ist seit den 1980er Jahren einiges geschehen. Millionen neuer Bäume wurden gepflanzt, alternative Energiequellen erschlossen, die Information der Bevölkerung über Fragen der Umwelt vorangetrieben. All das trägt dazu bei, dass der Zerstörung der Landschaft Einhalt geboten wird und dass Nepals Wälder wieder wachsen. Und dass die Warmduscher kein schlechtes Gewissen mehr haben müssen.