"Very nice!"
Unterwegs auf dem Handicraft Highway von Chiang Mai. Thailand 1989
 
 
Wenn eine Stadt entsteht, werden Häuser gebaut, Straßen, Plätze und Bahnhöfe angelegt, und wenn die Stadt Sehenswertes birgt, entstehen Geschäfte, in denen Touristen Souvenirs kaufen können. In Chiang Mai scheint die Entwicklung umgekehrt verlaufen zu sein. Chiang Mai liegt im Norden Thailands, nicht weit von der burmesischen Grenze entfernt, es ist die zweitgrößte Stadt des Landes, und natürlich gibt es dort Häuser, Straßen, Plätze und alles, was eine Stadt ausmacht. Von allem aber gibt es Souvenirläden. Und die gibt es in einer solch unglaublichen Zahl, dass man meinen könnte, sie seien der eigentliche Ursprung von Chiang Mai und die Stadt habe sich erst später drumherum gelegt. Ähnlich ist es in der Umgebung. Seide und Baumwolle, die berühmten thailändischen Lackarbeiten in glänzendem Schwarz und mit Goldmustern verziert, Keramik und Silberwaren, Lederarbeiten und Schirme, Schmuck, Holzschnitzereien, Antiquitäten aller Art, Dekorationsgegenstände, buddhistische Kunst - all das gibt es hier und noch vieles mehr. Mit der Folge, dass die zahlreichen Besucher der Stadt regelmäßig in Kaufräusche verfallen und das Kunsthandwerk der Region Triumpfe feiert. Busladungen von Touristen werden durch die Showrooms geschleust, in denen Einheimische die Herstellung der Produkte demonstrieren und fremdsprachige Führer wortgewaltig auf die Besucher einreden, längst im Schlaf hersagbare Erklärungen über das Was und das Wie abgeben und am Ende ihrer Bei-uns-bekommen-Sie-das-Beste-zum-besten-Preis-Führungen mit großen Gesten auf die Auslagen hinweisen. Vielen Dank für ihr Interesse, einen schönen Tag noch, und derweil fährt draußen bereits der nächste Bus vor.
 
Auch wir fahren vor, nicht in einer Gruppe sondern zu zweit, auch nicht in einem Bus sondern in einer Tuk-Tuk genannten Motorrikscha, aber natürlich müssen auch wir einen Blick auf dieses überwältigende Angebot werfen. Als Ort unserer Neugier haben wir die San Kamphaeng Road ausgewählt, eine 13 Kilometer lange Straße, die Chiang Mai mit dem Dorf gleichen Namens verbindet - klar, dass dort Kunsthandwerk hergestellt wird! - und die in den Reiseführern nicht umsonst den Namen "Handicraft Highway" trägt. Endlose Reihen von Geschäften säumen die Straße und preisen mal knallig und schrill, mal eher dezent den irdischen Souvenirhimmel an. Wobei diese Souvenirs durchaus schön sind, zumindest die meisten sind es, wenig Schund, das muss man den Herstellern lassen. Wer etwas für die Be-reicherung des heimischen Interieurs sucht und mit Asiatischem etwas anfangen kann, der ist hier richtig, und hübsche Souvenirs für die Daheimgebliebenen findet er allemal. Aber man kann die Auslagen ja auch einfach nur anschauen, niemand muss kaufen. Und so schlendern wir denn an den unzähligen Dingen vorbei, die es hier gibt, die wir aber nicht brauchen, um schließlich in einem Geschäft zu landen, dass etwas herstellt, was wir am allerwenigsten brauchen, das uns aber dennoch sofort in seinen Bann zieht: Papierschirme. Vielleicht sind es die fröhlichen Farben, vielleicht ist es die gelungene Präsentation - auf jeden Fall bleiben wir stehen und beobachten, wie aus wenigen Zutaten ein funktionierender Schirm wird.
Seit rund 200 Jahren stellt man in dieser Gegend Schirme her. Der Legende nach geht diese Fertigkeit auf einen Wandermönch zurück, der bei seinem Aufenthalt im benachbarten Burma einen Schirm geschenkt bekam. Der gefiel ihm so gut, dass er sich die Technik seiner Herstellung erklären ließ und dieses Wissen, nachdem er in sein Heimatdorf zurückgekehrt war, an dessen Bewohner weitergab. Der Name dieses Dorfes war - und ist auch heute noch - Bo Sang, in Reiseführern wird es für gewöhnlich als "das Schirmdorf" bezeichnet. Was als eine Beschäftigung von Bauern in der arbeitsärmeren Jahreszeit seinen Anfang nahm, ist längst zu einem einträglichen Gewerbe geworden, wobei auch die heutigen Schirme noch nach dem traditionellen Verfahren hergestellt werden. Nach jenem Verfahren, das auch in unserem Showroom vorgeführt wird. Bambus und Papier sind fast alles, was man für die Herstellung braucht. Das Papier wird mittels Zerstoßen, Einweichen, Kochen und Trocknen aus der Rinde von Maulbeerbäumen hergestellt und anschließend auf ein Gestänge aufgeklebt, das zuvor mit scharfen Messern aus Bambus geschnitten wurde. Mit der Bemalung erhält der Schirm eine individuelle Note. Wobei das Wort "individuelle Note" nicht überstrapaziert werden sollte, denn natürlich sind Standardmuster die Regel, Blumen und Vögel zumeist, Schmetterlinge, Landschaften und Drachen. Aber es gibt auch ausgefallene Motive und außerdem solche, die sich nach den Wünschen des Käufers richten. Der im übrigen auch die Größe bestimmen kann: Von wenigen Zentimetern für ein Dekorationsstück bis zu fünf Metern für einen Sonnen- und Regenschutz für die Terrasse (letzterer freilich nicht mehr aus Papier, sondern aus Baumwolle oder Seide) ist alles möglich, es ist wie bei vielem lediglich eine Frage des Preises.
 
"Very nice", lächelt uns eine Thailänderin an, "and good prices!" Mit ausgebreiteten Armen deutet sie auf die Auslagen von Dutzenden von Schirmen. Wir lächeln zurück, schütteln aber den Kopf und entgegnen etwas von hübschen Stücken, gewiss, aber für Reisende mit Rucksäcken seien sie eher unhandlich. No problem, kontert die Frau wie aus der Pistole geschossen, wir könnten uns die Schirme auch mit der Post zuschicken lassen. Einen Augenblick schwanken wir, doch dann erinnern wir uns an etliche Mitbringsel früherer Reisen und ihr düsteres Schicksal in Kisten im Keller, und wir schütteln abermals den Kopf. Die Thailänderin lächelt jetzt nicht mehr, sie sieht uns nicht einmal mehr an, denn sie hat sich bereits einer Reisegruppe zugewandt, die eben durch die Tür hereinströmt - bunte Hemden über Bäuchen, knapp sitzende T-Shirts über weiblichen Rundungen, die bei einigen männlichen Anwesenden Stielaugen hervorrufen, Kameras, Rucksäcke und schwitzende Gesichter. Zweifellos sind diese Neuankömmlinge weit bessere Kunden als wir. Mit ein paar Schritten sind wir am Ausgang und sitzen gleich darauf wieder in unserem Tuk-Tuk. "No umbrella?", erkundigt sich der Fahrer, was übersetzt heißt: Verdammt, warum habt ihr keinen Schirm gekauft, dann hätte ich jetzt eine Provision bekommen?! Abermals schütteln wir den Kopf. Erst keine Lackwaren, dann keinen Schmuck, jetzt keinen umbrella ... Für einen kurzen Moment sieht unser Fahrer aus, als würde er uns am liebsten stehen lassen. Doch er besinnt sich. Vermutlich denkt er an die Schnitzereien und Antiquitäten und an die Silber- und Lederwaren, die ja noch vor uns liegen, und mit einem trotzigen "Ok!" lässt er den Motor an. Geschätzte dreißig Sekunden später halten wir vor einem Geschäft, bei dem aufgehängte Teppiche deutlich machen, worum es geht. Wir sitzen noch, als auch schon ein Verkäufer neben uns steht. "Come in please!", fordert er uns auf und lenkt unsere Blicke auf seine Auslagen. "Very nice carpets! And very cheap!" Welcome to Chiang Mai, dem gigantischen Souvenirladen im Norden Thailands - vermutlich dem einzigen auf der Welt, der sich eine eigene Stadt hält!