Hier also hat der Kapitän gewohnt!
Drei Tage auf der "Cap San Diego". Hamburg 2012
 
 
Das Cap San Diego liegt an der Ostküste Feuerlands und gehört zu Argentinien. In dieser Gegend gibt es nur undurchdringliches Gestrüpp und ausgedehnte Sumpfgebiete, das ganze Jahr über ist es kalt und feucht, und häufig wehen eisige Stürme über das Land. Menschen gibt es dort nur wenige. Die "Cap San Diego" ist groß und stabil, vor Wind und Wetter geschützt, bietet alle Annehmlichkeiten, die man sich wünscht, ist gemütlich und gastlich, und wenn es dort auch noch weit weniger Menschen gibt als in der Gegend des feuerländischen Caps, so leben drumherum doch fast zwei Millionen, man ist also mittendrin in der Zivilisation. Die "Cap San Diego" liegt im Hamburger Hafen und ist ein Schiff.
Im Frühjahr 2012 stehen wir vor diesem Schiff, zwei kleine Rollkoffer an der Hand, und sind dabei an Bord zu gehen. Nicht in der Absicht, eine Reise zu unternehmen. Mit der "Cap San Diego" kann man schon lange keine Reisen mehr unternehmen, zumindest keine großen. Ein paar kleinere Fahrten, ja, die macht sie schon noch, etwa über die Elbe nach Cuxhaven oder durch den Nord-Ostseekanal nach Kiel. Ansonsten aber liegt sie am Ufer, genauer: an der Überseebrücke im Hamburger Hafen, nicht weit von den Landungsbrücken entfernt und damit so zentral, dass kein Hafenbesucher sie übersehen kann. Auf ihrer Internetseite steht, dass sie das größte fahrtüchtige zivile Museumsschiff der Welt sei, ein maritimes Denkmal, das man besichtigen könne und das sich darüber hinaus mit allerlei Veranstaltungen wie Ausstellungen, Lesungen und Konzerten an die Öffentlichkeit wende. Außerdem sei sie ein schwimmendes Hotel, und genau das ist der Grund, warum wir hier sind.
 
Erinnerungen werden wach, als wir die Gangway hinaufsteigen. Auf der "Cap San Diego" war ich noch nie, wohl aber auf der "Cap San Lorenzo", einem Schwesterschiff aus einer Serie von sechs Schiffen, alle 1961/62 für die Reederei Hamburg Süd gebaut, alle zumeist als Stückgutfrachter nach Südamerika unterwegs und in den 1980er Jahren verschrottet - alle, bis auf eines, eben die "Cap San Diego". Nur wenig hat damals gefehlt, und ihr wäre - anstatt zu einem Hamburger Wahrzeichen zu werden wie der Michel oder die Speicherstadt - das gleich Schicksal beschieden gewesen. Doch Neptun hat es anders gewollt, und ich sowie unzählige andere sind ihm dankbar dafür. Sieben Wochen habe ich im Sommer 1966 auf der "Cap San Lorenzo" verbracht, als arbeitender Schüler auf einer Fahrt nach Brasilien, Uruguay und Argentinien. Ein unvergessliches Erlebnis, nicht zuletzt wegen der Äquatortaufe, die ich damals mitmachte und über die ich auf reiselust.me bereits berichtet habe (Bericht 001).
"Aus dem Arsch, du Ziegenpeter!" Die Worte des Bootsmannes habe ich noch heute im Ohr (ungewöhnlich das Wort Ziegenpeter!), wie ich zusammengekrampft in meiner Koje lag, stets auf dem Sprung zum Bullauge, denn draußen tobte ein Sturm, und mir war schlecht. Ach was - sterbensübel war mir, aber das beeindruckte den Bootsmann nicht sonderlich. Also musste ich raus und zur Arbeit in irgendeine Ladeluke, mit der Folge, dass ich mich nun nicht mehr durchs Bullauge, sondern hinter der Ladung erleichterte. Was für Zeiten waren das damals - 70 Pfennig die Stunde, der Rangniederste an Bord, den jeder anmeckern konnte, eine verdammte Landratte zwischen gestandenen Seeleuten ... Ich muss schmunzeln, als ich unseren Koffer durch die Tür in die Kapitänskabine schiebe, die nun für ein paar Tage unser Zuhause sein wird. Nicht der Herr über das Schiff bin ich, aber ich bin an dem Ort, an dem der Herr sich aufhielt - ein schönes Gefühl. Zufrieden schaue ich mich um. Zwei Räume, die Wände mit dunklem Holz getäfelt, die gut erhaltene Einrichtung aus den 60er Jahren, ein großer Schreibtisch mit einem gepolsterten Stuhl davor, eine Karte vom Cap San Diego an der Wand, von dem originalen am Ende der Welt. Und schließlich das Bett, ebenfalls das originale, rund 20 Jahre von den Herren des Schiffes benutzt, während ich seinerzeit in einer kleinen Kammer in einem Doppelstockbett lag, über mir ein schnarchender Matrose. Was für ein Erlebnis, nun in der Kapitänskabine zu sein! Ein Erlebnis, das noch eine Steigerung erfährt, als ich ans Fenster trete und nach draußen schaue: auf den Hafen und auf die Landungsbrücken, auf die Silhouette der Häuser, die Züge der Hochbahn und die Autos, auf die Spaziergänger am Ufer und die festgemachten Schiffe und die Ausflugsboote, die vollbeladen mit Touristen über das Wasser gleiten.
160 m lang, 21 m breit und ein maximaler Tiefgang von 8 m - wie groß die "Cap San Diego" ist, merkt man erst, wenn man sich darauf bewegt. Drei Dutzend Ehrenamtliche sind damit beschäftigt, sie zu erhalten, ehemalige Seeleute mit viel Liebe für das Schiff wie für jedes Detail. Alles wird so bewahrt, wie es einst war, und so sieht dieses Schiff auch heute noch beinahe genau so aus wie meines vor knapp 50 Jahren. Alles wird auf diese Weise zu einer Erinnerung: die Brücke mit dem Ruder, an dem ich kurz stehen durfte, mit der Folge, dass das Schiff einen Zickzackkurs fuhr (was nicht weiter schlimm war, da es um uns herum nichts als Wasser gab); der Ausguck, auf dem ich nachts Wache stand, unter einem Himmel mit Tausenden und Abertausenden funkelnder Sterne; die Ladeluken, in denen ich, ein schlaksiger 16jähriger, seinerzeit auf einer Kiste thronte und darauf aufpasste, dass die Kanaken (ja, so sagte man damals, und niemand widersprach) nicht etwas mitgehen ließen; die Pantry, in der ich mehr Geschirr abwusch, als ich in meinem Leben je wieder gesehen habe. Und dann der Maschinenraum, das gewaltige Herz des Schiffes, das sich über mehrere Etagen erstreckt, mit dem Tunnel für die Antriebswelle dahinter, durch den zu gehen ich besonders eindrucksvoll fand. Im Maschinenraum ist es auch, wo ich einen großen Schraubenschlüssel an der Wand hängen sehe, der mich innehalten lässt. Ich muss grinsen. Irgendwann auf meiner Fahrt war es, ich saß gerade in der Mannschaftsmesse beim Essen, als über den Lautsprecher eine Durchsage kam. Der Schiffsjunge Lentz, so sagte eine Stimme, solle mal eben im Maschinenraum den Kompassschlüssel abholen und ihn nach oben auf die Brücke bringen. Gerade an diesem Tag war ich wegen einer kleinen Verletzung von der Arbeit freigestellt, mit der Konsequenz, dass ich sitzenbleiben durfte und ein anderer an meiner Stelle gehen musste. Als er nach einer Weile schweißgebadet zurückkehrte, fluchte er kräftig. Im Maschinenraum hatte man ihm eben jenen Schlüssel in die Hand gedrückt, vor dem ich im Jahre 2012 nun stehe: er ist sehr groß, sehr schwer und dazu bestimmt, die mächtigen Schrauben an den Kolben des Schiffsmotors zu lösen. Diesen Schlüssel musste der Ärmste durch das ganze Schiff bis auf die Brücke schleppen. Wo man ihm voller Schadenfreude über den gelungenen Scherz den Kompass zeigte mit seinen winzigen Schrauben - der Durchmesser geringer als der eines Pfennigs -, wobei alle herzlich lachten, nur er nicht. Ich habe damals auch gelacht, als ich diese Geschichte hörte. Glück gehabt!
 
Drei Tage sind wir im Frühjahr 2012 auf diesem Schiff, drei Tage in einer ganz besonderen Umgebung. Ein Aufenthalt, der wiederholbar ist, für uns, aber auch für jeden anderen. Weshalb ich diesen Bericht entgegen meiner grundsätzlichen Haltung: Keine Werbung in meinen Berichten! diesmal doch mit einer Werbung abschließen möchte: Unter der Adresse www.capsandiego.de finden Sie alle Informationen über dieses Schiff im Internet. Sei es, dass Sie das Schiff "nur" besichtigen wollen; sei es, dass Sie an einer Fahrt teilnehmen möchten; oder sei es, dass Sie sich zu einer Übernachtung auf der "Cap San Diego" entschließen - in jedem Fall werden Sie Ihre Entscheidung nicht bereuen. Da bin ich mir sicher.