In der Psycho-Falle.
Eine private Sightseeing-Tour in Istanbul. 2010
 
Istanbul ist die Stadt, von der ein Teil in Europa, der andere in Asien liegt. Das weiß jeder. Und viele, die dort hinreisen, wollen das auch ganz unmittelbar erleben. Rauf aufs Schiff, eine kurze Überfahrt, und man hat nicht nur den Stadtteil, sondern gleich den Kontinent gewechselt. Das wollen wir auch tun. Eminönü heißt die Station auf der europäischen Seite, an der die Schiffe abfahren, Üsküdar ist der Anlegeplatz am gegenüberliegenden Ufer. Schnell haben wir einen Jeton erstanden, die Istanbuler Variante eines Fahrscheins, und schon sind wir auf dem Schiff. Mit uns sind einige weitere Touristen unterwegs, dazu zahlreiche Einheimische. Noch während wir ablegen, holen letztere bereits ihre Lektüre hervor oder beginnen eine Unterhaltung. Für sie ist die Überfahrt Alltag, und ewig schauen und staunen kann kein Mensch. Anders die Touristen. Sie blicken neugierig in alle Richtungen, fixieren Motive und schießen Fotos: Das Sonnenlicht auf dem Wasser, das Häusermeer mit den immer wieder faszinierenden Silhouetten der Moscheen an den sanft ansteigenden Ufern, mehrere dicke Kreuzfahrtschiffe, die vor Anker liegen - nicht überall ist es ein so großartiges Erlebnis, mit einem ganz normalen Verkehrsmittel zu fahren.
 
Als wir etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt haben, spricht uns ein Mann an. Er hat sich zu uns gesetzt, zwei Meter Abstand, ohne dass wir ihn sogleich bemerkt haben. Da er die 60 überschritten hat und so aussieht, wie man sich einen netten Opa vorstellt, mit Lachfältchen um die Augen und mit einem mächtigen Schnurrbart, wollen wir ihn Opa Ali nennen. Auf Deutsch spricht er uns an, und wir kommen ins Gespräch. Acht Jahre, so erzählt er, habe er in Hamburg auf einer Werft gearbeitet, danach sei er nach Istanbul zurückgekehrt, wo er seither mit seinem Sohn ein Geschäft in der Altstadt betreibe, optische Artikel und Parfüm. Mit einem seiner Söhne, sollte ich korrekterweise sagen, denn er hat zwei weitere, außerdem sieben Enkelkinder. Ein richtiger Opa eben. Ein netter.
 
 
Was wir in Üsküdar vorhaben, fragt er uns, kurz bevor das Schiff anlegt. Wir wollen uns ein wenig umsehen, antworten wir, ohne schon Genaueres zu wissen, denn vor allem wollten wir auf die asiatische Seite. Wenn wir einverstanden seien, sagt er, könne er uns ein paar sehenswerte Dinge zeigen. Er habe ein Auto, und Zeit habe er auch, bevor er zum Mittagessen nach Hause müsse. Wenn wir also wollten ... Opa Alis Schnurrbart biegt sich freundlich nach oben. Was wir ihm dafür bezahlen müssten, erkundigen wir uns. Gar nichts, entgegnet er und schüttelt beinahe beleidigt den Kopf. Wir sind überrascht, nehmen sein Angebot aber an, da er ein so vertrauenserwe-ckender Mensch ist. Sein Auto steht nahe der Anlegestelle, wir steigen ein, und Opa Ali fährt los. Und wie er los fährt! Dass er sich um Begrenzungen der Geschwindigkeit wenig schert, überrascht uns nicht, das haben wir bei Taxifahrern noch krasser erlebt. Dass er die Regeln für Einbahnstraßen aber vollständig ignoriert, macht uns zunächst doch etwas zu schaffen. Aber als wir erkennen, dass den Entgegenkommenden ein solches Verhalten nicht fremd zu sein scheint, denn niemand hupt, entspannen wir uns und beginnen uns auf das zu konzentrieren, was Opa Ali uns zeigt. Das sind zunächst einige Holzhäuser aus früheren Zeiten, dann - nachdem wir eine Weile aufwärts gefahren sind - ein Park. Opa Ali hält an, lässt uns aussteigen und deutet in eine Richtung. Während er selbst im Auto bleibt laufen wir zu der Stelle, die er uns gezeigt hat, einem Aussichtspunkt, und sind begeistert. Zu unseren Füßen liegt der Bosporus mit der großen Brücke, die Europa und Asien verbindet und über die ein steter Autostrom hinwegflutet, ebenso rege, wie der Schiffsverkehr auf dem Wasser darunter. Marmara-Meer, Bosporus und das Goldene Horn, ein weiter Blick über Istanbul - was für eine fantastische Aussicht! Opa Ali quittiert unsere Begeisterung mit einem gütigen Lächeln.
 
Als nächstes die Cirili-Moschee. Sie ist klein, aber fein, vor allem wegen ihrer herrlichen Fliesen. Wir sind die einzigen Touristen hier. Ein Türke gießt zur Begrüßung Rosenwasser über unsere Hände, andere gesellen sich dazu, es gibt eine kurze, freundliche Konversation, auch wenn wir die Sprache nicht beherrschen, aber mit Gesten und Blicken lässt sich auch einiges ausdrücken. Diese Moschee war einen Besuch wert, sagen wir zu Opa Ali, als wir wieder ins Auto steigen, doch nun müsse er sicher nach Hause, seine Frau warte gewiss mit dem Essen. Allerdings könnten wir ihn auch gerne zum Essen einladen, ergänzen wir, als Dank für seine Freundlichkeit. Aber davon will er nichts wissen, er winkt ab und startet den Motor. Diesmal ist ein Friedhof unser Ziel, der größte moslemische Friedhof der Welt, wie Opa Ali erklärt. Vor einem Haus halten wir an. Das sei die Armenküche, sagt er, während wir aussteigen. Reiche spenden Geld, damit die Armen etwas zu essen hätten, so wolle es der Glaube, und das sollen wir uns ansehen. Wir sind unsicher. Bestimmt mögen die Armen keine Zuschauer beim Essen, wenden wir ein, aber Opa Ali schüttelt den Kopf und fordert uns auf: Geht nur! Solcherart ermutigt treten wir ein. In einem großen Raum befinden sich mehrere Dutzend Menschen, sie sitzen auf Bänken und Stühlen oder laufen umher, eine ganze Weile geht das so, bis auf einmal alle still werden und ein Mann ein kurzes Gebet spricht. Kaum hat er geendet, drängen die Anwesenden zu der Ausgabestelle für das Essen. Ihrer Schnelligkeit nach zu urteilen, sind sie hungrig. Durch eine offene Tür können wir beobachten, wie für Nachschub gesorgt wird: ein frisch geschlachtetes Schaf, das von einem Mann mit gekonnten Griffen zerlegt wird. Auch hier keine Touristen.
Ein kurzer Spaziergang über einen winzigen Teil des riesigen Friedhofs, und wir sitzen wieder im Auto. Noch ein Abstecher zum Haydarpasa Gari, dem alten Bahnhof, der als Ausgangspunkt für die ehemalige Bagdad-Bahn eine gewisse Berühmtheit erlangt hat - dann ist unsere Tour zu Ende. Zwei Stunden hat sie gedauert. Ob es uns gefallen habe, will Opa Ali wissen. Wir nicken entschieden: jawohl, sogar sehr! und unternehmen einen erneuten Anlauf, ihn als Dankeschön zum Essen einzuladen. Aber wie zuvor lehnt er ab. Stattdessen langt er in eine Tasche, holt eine Schachtel hervor und überreicht sie Karin. Parfüm, erklärt er, das wolle er ihr zum Abschied noch schenken. Wir sind sprachlos, unsere Gefühlslage schwankt zwischen gerührt und irritiert. Doch uns bleibt nicht viel Zeit zum Nachdenken, denn schon halte ich ebenfalls eine Schachtel mit Parfüm in der Hand. Das sei für mich, sagt Opa Ali, aber das müsse ich ihm natürlich bezahlen. Worauf er abermals in seine Tasche greift und uns zwei weitere Parfüms in die Hände drückt, für die wir ihm - natürlich - ebenfalls Geld geben müssten. Und während er all das tut und sagt, lächelt er uns auf eine Weise an, als würde er gerade seinen niedlichen Enkelkindern in die Augen schauen. Gerührt sind wir in diesem Moment nicht mehr, nur noch irritiert. Wir brauchen kein Parfüm, schon gar keine Fälschungen, denn um solche handelt es sich zweifellos, man bekommt sie überall in der Stadt, aber was sollen wir tun? Wir fühlen uns in seiner Schuld, und deshalb machen wir gute Miene zu dem überraschenden Spiel und erklären, wir würden die Parfüms kaufen, wie viel sie denn kosten sollten. Er dreht den Spieß um und fragt, wie viel wir dafür bezahlen wollten - eine geschickte Frage um herauszufinden, ob wir uns mit den Preisen auskennen. Das ist nicht der Fall, weshalb wir ihn auffordern, uns seinerseits einen Preis zu nennen. 180 Türkische Pfund, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Das sind 90 Euro. Wir sind leicht geschockt, lassen es uns aber nicht anmerken. Ich versuche zu handeln. Am liebsten hätte ich 50 Türkische Pfund gesagt, das hätte ich in jedem Basar getan, aber dem netten Opa gegenüber bringe ich es nicht fertig und erwidere stattdessen: 170. Er kraust unwillig die Stirn, stimmt aber zu. Wir geben ihm das Geld. Dann reicht er uns die Hand zum Abschied, wir steigen aus, und schon im nächsten Augenblick ist er im dichten Verkehr verschwunden.
 
Wir schauen uns an, und für einen Moment sind wir sprachlos. Wir sind dem Alten in die Falle gegangen. In eine psychologische Falle. Eine, die so geschickt aufgebaut war, dass wir uns kaum hätten entziehen können. 170 Türkische Pfund für ein paar Fälschungen, deren wahrer Wert, wie wir später erfahren, bei höchstens 40 liegt. Legt man das Durchschnittseinkommen eines Türken zugrunde und rechnet es auf zwei Stunden um, so war dieser Handel für den Alten ein äußerst lohnenswertes Geschäft! Selbstverständlich haben wir auch etwas von dieser Begegnung gehabt, denn wir haben Dinge gesehen, die wir ohne ihn ganz sicher nicht gesehen hätten. Schöne und interessante Dinge, daran wollen wir auch gar nicht herumdeuteln. Aber dennoch sind wir verärgert. Hätten wir am Anfang ein Geschäft gemacht - Sightseeing gegen Geld -, so wäre das in Ordnung gewesen. Doch auf diese Tour? Obwohl wir nicht umhin können, den Alten für seine Cleverness zu bewundern, sind wir gleichzeitig sehr ungehalten, vielleicht deshalb, weil wir uns in unserer "Traveller-Ehre" getroffen fühlen: Geschätzte zwei Jahre unseres Lebens haben wir im Ausland verbracht, zumeist in Ländern der sogenannten Dritten Welt, und eigentlich hatten wir gedacht, dass uns niemand mehr über den Tisch ziehen würde. Der Alte hat es getan, auf eine Weise, die wir bis dahin nicht kannten. Er hat eine Psycho-Falle aufgebaut, und wir sind blauäugig hineingetappt ...
 
 
Ich lehne an der Reling und genieße ein weiteres Mal das weite Panorama von Wasser und Land, während das Schiff auf das europäische Istanbul zuhält. Hinter uns bleibt der asiatische Teil zurück - die große Brücke über den Bosporus, der Aussichtspunkt, an dem wir gestanden haben, die Moschee und der große Friedhof mit dem Haus für die Armen, der historische Bahnhof und das bunte, von vielfältigen Geräuschen begleitete Gewimmel an der Anlegestelle. Und Opa Ali.