Alexandria 1980.
Erinnerungen an einen kurzen Aufenthalt.
 
Seit einigen Jahren habe ich einen Account bei Flickr, einem Internet-Portal, bei dem man Fotos einstellen kann. Mittlerweile habe ich mehr als 4.000 Bilder hochgeladen, die insgesamt mehr als 100.000 mal von Usern aus aller Welt angeklickt wurden. In einer Statistik kann ich mir anzeigen lassen, welches Bild an diesem oder am vorherigen Tag am häufigsten angesehen wurde, und außerdem kann ich erfahren, welches meiner Bilder über die Jahre hinweg auf das meiste Interesse stieß. Lange Zeit war dies ein Bild aus Ghardaia, der Perle unter den algerischen Oasen (siehe Bericht 004), dann belegte eine Akrobatengruppe aus dem schottischen Edinburgh diesen Rang, später die New Yorker Börse (siehe Bericht 017). Seit einigen Monaten ist das favorisierte Bild ein völlig anderes. Es zeigt eine Straßenszene, Häuser in schlechtem Zustand, mehrere Läden, die ebenfalls keinen sonderlich einladenden Eindruck machen sowie Menschen, Fahrräder und Autos. Die Straße liegt in der ägyptischen Stadt Alexandria. Eine Erklärung für die Beliebtheit ausgerechnet dieses Bildes hat leider keiner der Besucher meiner Seite hinterlassen, aber natürlich habe ich mich gefragt, warum gerade dieses Bild so viele Klicks bewirkt hat. Meiner Ansicht nach gibt es nur eine Erklärung dafür: Nostalgie. Meine Vermutung ist, dass diese Straße heute ganz anders aussieht und dass Menschen in Alexandria die ihnen mittels Internet gebotene Gelegenheit nutzen, sich ein Bild von deren Aussehen in der Vergangenheit zu machen. Mein Foto also als eine Dokumentation von etwas, was es heute nicht mehr gibt. Warum ich bei meinem kurzen Aufenthalt in Alexandria im Jahr 1980 gerade in dieser Straße unterwegs war, kann ich nicht sagen, ebenso wenig wie ich mich daran erinnern kann, warum ich - meine Fotos zeigen das - in so vielen ähnlich aussehenden Straßen unterwegs war. War es Zufall, oder sah Alexandria damals tatsächlich so aus - vieles in schlechtem Zustand, vieles gar von Zerfall bedroht? So sehr ich auch darüber nachdenke, ich kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern.
 
 
Woran ich mich indes sehr gut erinnern kann, das ist der Grund, weshalb ich seinerzeit überhaupt in Alexandria war. Meine Tante hatte mich gefragt, ob ich Interesse an einer Reise nach Ägypten hätte, es gäbe da ein staatliches Programm "Deutsch-Ägyptischer Jugendaus-tausch", im vergangenen Jahr seien ägyptische Jugendliche in Deutschland gewesen, in diesem Jahr nun sollten rund 200 deutsche Jugendliche nach Ägypten reisen: etliche Sportler, ein Jugendorchester sowie die Tänzer einer Volkstanzgruppe, für die meine Tante zuständig war. Deren Mitglieder, so erklärte sie mir, seien zumeist noch recht jung und hätten keinerlei Erfahrungen mit Reisen in außereuropäische Länder, aber da ich bereits einige Male aus Europa herausgekommen sei, könne sie mich - damals 30 Jahre alt - als Betreuer auf dieser Reise gebrauchen. Als Einäugigen unter Blinden gewissermaßen. Getrieben von der freudigen Erwartung, mit einem geringen finanziellen Eigenbeitrag ein neues Land kennenzulernen - den größten Teil der Reisekosten wollten Deutschland und Ägypten bestreiten -, sagte ich zu. 14 Tage Ägypten, die ersten davon in Alexandria, wo das Jugendtreffen stattfinden sollte, an-schließend eine Rundreise durchs Land - Nil, Tempel und Pyramiden, eine Reise in die Geschichte mit Sehenswürdigkeiten von Weltrang. Doch zunächst einmal stand Alexandria auf dem Programm.
Wenn ich heute an diese Stadt denke, wenn ich die Berichte der Teilnehmer und die damals erschienenen Zeitungsartikel lese, und wenn ich meine Bilder sehe, dann sind es vor allem drei Dinge, die mir einfallen und die auch 32 Jahren später noch erwähnenswert sind. Das erste, was mir in den Sinn kommt, ist die unverkrampfte Leichtigkeit, mit der wir in der Stadt und in dem Land überhaupt unterwegs waren, die Selbstverständlichkeit, mit der wir von den dortigen Menschen akzeptiert wurden. Meine Aufgabe als Betreuer der Tanzgruppe bestand unter anderem darin, ein Auge auf etwa ein Dutzend Mädchen zu haben, die - weitgehend unbeleckt von Wissen über den Islam und ohne sich große Gedanken über die andersartige Kultur der Ägypter zu machen - sich im wesentlichen genau so verhielten, wie sie es an jedem anderen Ort der Welt auch getan hätten: wegen der Hitze eher knappe Bekleidung, T-Shirts mit Spaghettiträgern und beim Baden in der Bucht von Alexandria - na klar, was denn sonst - Bikinis. Natürlich hat die ägyptische Männerwelt sie angestarrt, alles andere wäre auch unverständlich gewesen, aber es gab keine Aggression, keine Belästigung, ja nicht einmal eine Belehrung. Die Mädchen - wir insgesamt - waren anders als sie, sie waren anders als wir, aber dieser Umstand wurde ganz einfach akzeptiert, oft sogar mit einem Lachen oder mit einem schelmischen Blick. Heute, im Jahr 2012, wäre das damalige Verhalten der Mädchen kaum denkbar. Inzwischen ist der Islamismus in die Welt gekommen, und wo seinerzeit noch schlichte Neugier und Toleranz herrschten, haben sich nun allzu oft Engstirnigkeit und Unduldsamkeit breitgemacht. Ein Phänomen, mit dem ich mich auf späteren Reisen in islamische Länder selbst wiederholt konfrontiert sah.
 
 
Der zweite Gedanke, den Alexandria bei mir auslöst, ist zeitlos und hat etwas mit dem Unterschied zwischen einem Industriestaat und einem Land der sogenannten Dritten Welt zu tun. Manifestiert hat sich dieser Unterschied in dem verschiedenartigen Verhalten, mit dem beide Länder an das Jugendtreffen herangegangen sind: die Deutschen haben gekleckert, die Ägypter haben geklotzt. Dabei war die Begegnung eigentlich aufs Kleckern angelegt - ein Kontakt zwischen Jugendlichen beider Länder, gegenseitiges Kennenlernen, einfach mal schauen, was die anderen in ihrer Freizeit so machen. Die Ägypter haben sich über dieses Konzept hinweggesetzt. Ihnen ging es darum, sich mit Nachdruck als eine gleichberechtigte Nation zu zeigen und zu demonstrieren, dass sie trotz aller Entwicklungsunterschiede mit-nichten ein staatlicher "underdog" waren. Was den deutschen Jugendlichen bei der Begegnung präsentiert wurde, das waren denn auch nicht die Jugendlichen Ägyptens - das war der ägyptische Staat: mit einer Auswahl der besten Sportler, der besten Musiker und der besten Tänzer des Landes, und das alles vom Fernsehen und von den Printmedien groß herausgestellt. Verständlich, dass die deutschen Hobbysportler, -tänzer und -musiker dagegen blass aussehen mussten und damit zwangsläufig die Erwartungen des Gastlandes ent-täuschten. Aber es war nicht ihr Fehler. Sie hatten das Konzept befolgt, auf das man sich geeinigt hatte, nur verbot die ägyptische Staatsräson offensichtlich ein solches Klein-Klein. Ein Phänomen, das nicht an einen bestimmten Staat gebunden ist und das Bestand haben wird, solange Entwicklungsdifferenzen zwischen Staaten bestehen.
 
 
Mein dritter Gedanke an Alexandria beruht - wie eingangs geschildert - auf den Fotos, die ich aufgenommen habe und die viele weniger schöne Seiten der Stadt zeigen. Heute wird sich die Situation vermutlich anders darstellen, denn etliche Jahre sind vergangen und es ist anzunehmen, dass sich vieles zum Positiven gewandelt hat. Auf meiner Reiseliste für die nächsten Jahre steht neben anderen Ländern auch ein nochmaliger Besuch Ägyptens, und wer weiß, vielleicht führt mich mein Weg dann auch noch einmal nach Alexandria und ich kann meine fotografischen Erinnerungen durch neue Eindrücke ersetzen. Sollte das so sein, so werde ich anschließend natürlich auf reiselust.me darüber berichten. Und was ich dann schreiben werde - darauf bin ich schon heute gespannt.