In the Middle of Nowhere.
Das schottische Corrour ist eine der abgelegensten Bahnstationen Großbritanniens. 2008
 
Dass Corrour "in the middle of nowhere" liegt, wie uns ein Mitreisender gesagt hat, erschließt sich nicht sofort, wenn man an der Station dieses Namens aus dem Zug steigt. Ein ordentlicher Bahnhof, große, gut leserbare Schilder mit dem Namen der Station in englischer und gälischer Sprache - was unterstreicht, dass man sich in Schottland befindet -, auf jeder Seite des Bahnsteigs ein Gleis, ein weiteres zum Abstellen von Zügen, schließlich einige Gebäude, darunter das grün-weiß gestrichene, mit einem Schieferdach versehene Station House. Außer uns steigt ein knappes Dutzend weiterer Passagiere aus. Gleich darauf ertönt das Signal des Schaffners, und der Zug setzt sich wieder in Bewegung. "ScotRail" lesen wir den Namen der Betreibergesellschaft auf den Waggons, aber nur kurz, denn schon wenige Augenblicke später ist der Zug hinter einer Kurve verschwunden.
 
 
Ein Schild droht demjenigen eine hohe Geldstrafe an, der auf den Gleisen entlang läuft, aber das hatten wir ohnehin nicht vor. Stattdessen überqueren wir die Gleise und wenden uns dem Station House zu, in dem es laut Reiseführer einen Tea Room geben soll. Doch wir haben Pech, denn es ist Mittwoch, und an diesem Wochentag - so verkündet eine Aufschrift - ist der Tea Room geschlossen. Auch das dazugehörige "Bed & Breakfast" macht einen verlassenen Eindruck, was uns indes nicht berührt, da wir nur für einen Tagesausflug hergekommen sind. Für einen Ausflug in eine der einsamsten Gegenden Großbritanniens: ins Rannoch Moor. Dieser Superlativ gilt auch für den Bahnhof, auch er ist einer der einsamsten des Landes, gleichzeitig ist er der höchstgelegene, und was hinzukommt und was für einen Bahnhof wahrlich ungewöhnlich ist: er ist an keine öffentliche Straße angebunden. Die nächste verläuft erst in 16 Kilometern Entfernung. Einzig eine Schotterpiste nimmt hier ihren Anfang, die jedoch nur von wenigen Personen benutzt werden darf, weshalb auch kein Taxi vor dem Bahnhof wartet und ebenso wenig ein Bus. Nur das Auto des Stationsvorstehers steht im Hof, für Ausflügler und Touristen gibt es ausschließlich die eigenen Füße oder ein Pferd, vor allem aber die Bahn. Drei Zugpaare verkehren täglich auf der 150 Kilometer langen, durchgehend eingleisigen "West Highland Line", jener Strecke, die die Leser des britischen Magazins "Wanderlust" 2009 zur schönsten der Welt gekürt haben. Ihren Anfang nimmt sie in Glasgow, die Endstationen - es gibt zwei, da die Strecke sich teilt - sind kleine Ortschaften an der Westküste, von denen Fährverbindungen zu den vorgelagerten Inseln bestehen. Ergänzt wird dieses Angebot durch den "Caledonian Sleeper", einen Zug, der fast schon einen Hauch von großer Welt in die schottische Einsamkeit bringt. Er setzt in London ein und erreicht zwölf Stunden später Fort William - via Corrour.
Wir laufen bewusst langsam, bis alle anderen Ausflügler außer Sicht sind, und als wir etwa eine Meile zurückgelegt haben, drehen wir uns um. Augenblicklich begreifen wir, was der Mitreisende mit "in the middle of nowhere" gemeint hat. Wie ein Spielzeughaus sieht die Bahnstation aus, wie Spielzeug auch die Nebengebäude, die Signale und die Gleise, die sich in der einen Richtung aus der Landschaft herausschälen, um in der entgegengesetzten hinter der bereits erwähnten Kurve gleich wieder zu verschwinden. Alles andere ist Moor, baumlos und strauchlos und mit Wasserlöchern durchsetzt, in denen sich der Himmel spiegelt, drumherum Hügel, die nicht minder karg sind als das Moor. Kein Geräusch der Zivilisation dringt an unsere Ohren, weder Motoren noch Hupen und auch keine Sirenen, nur das Summen der Insekten, das Zwitschern der Vögel und der Wind. Und in der Mitte von allem die wie ausgestorben wirkende Station. Wüsste man es nicht besser, so könnte man meinen, in dieser Gegend sei niemand zu Hause.
 
Eine Frage drängt sich auf: Warum um alles in der Welt gibt es einen Bahnhof in dieser gottverlassenen Gegend? Laut Reiseführer war ein mehr als hundert Jahre zurückliegender Deal der Grund dafür. Damals gab es auf der einen Seite einen schottischen Baron, dem das Land gehörte, und auf der anderen Seite die britische Eisenbahngesellschaft, die über dieses Land eine Bahnlinie bauen wollte. Der Adlige willigte ein, verlangte als Gegenleistung aber einen Haltepunkt auf seinem Gebiet, um seinen Gästen, die bis dahin nur mit Pferden zu ihm hatten gelangen können, eine bequemere Anreise zu ermöglichen. Im Jahr 1894 wurde Corrour Station eröffnet. Kutschen nahmen die Gäste am Bahnhof in Empfang und beförderten sie zu dem zwei Meilen entfernt gelegenen Loch Ossian. Vermutlich waren die Gäste des Barons ebenso beeindruckt von dessen Anblick wie wir einige Generationen später. Es könnte ein Gemälde sein - der langgestreckte See, die Berge und Hügel ringsum, mehrere baumbestandene kleine Inseln nahe dem Ufer, darunter eine, auf der sich heute eine Jugendherberge befindet, die zu Zeiten des Barons aber unbewohnt war. Stattdessen gab es einen Anlegesteg in der Nähe, an dem ein Dampfboot die Gäste erwartete, um sie an das andere Ende des Lochs zum Anwesen des "Herrn von Corrour" zu befördern - zu einem luxuriösen Refugium in einer Bilderbuchlandschaft, in dem man sich die Zeit mit Jagen und Fischen vertrieb, mit Ausflügen und Picknicks und mit geselligen Whisky-Abenden vor dem Kamin.
 
 
Wir selbst hätten jetzt auch gern solche Gastfreundschaft genossen, doch da die Nachfahren des Barons nicht zu unserem Freundeskreis gehören, sind wir auf uns selbst angewiesen. Lunchpakete mit gummiartigen Sandwiches also anstelle lukullischer Freuden, aber immerhin dieselbe Landschaft vor Augen wie die Blaublütigen und ihre Gäste. Eine Weile laufen wir am See entlang, dann folgen wir einem Pfad ein Stück aufwärts und lassen uns schließlich auf einem Stein nieder. Wir reden nicht viel, schauen nur in die Landschaft und können uns gar nicht satt sehen. Doch die Faszination der Natur ist das eine, der Fahrplan der Bahngesellschaft das andere, und so rückt die Abfahrt des letzten Zuges an diesem Tag immer näher. Bevor es eng wird, brechen wir auf. Noch ein kleiner Umweg auf einem Seitenweg durch das Moor, dann geht es zurück auf die Piste und weiter, bis wir die Station in einiger Entfernung vor uns auftauchen sehen. Als wir den Bahnhof erreichen, stellen wir fest, dass wir nicht die ersten sind. Kleine Grüppchen stehen zusammen, ein paar Ältere haben in dem Wartehäuschen Platz genommen. Auch hier spricht niemand. Es ist gerade so, als wollten alle so viel wie möglich von dieser wunderbaren Stille mitnehmen. Mit einer Geduld, die uns an jeder anderen Haltestelle abgehen würde, warten wir auf den Zug. Irgendwann wird er hinter der Kurve hervorgekommen, irgendwann wird er anhalten um uns aufzunehmen, aber das eilt nicht, denn wir fühlen uns wohl an diesem Ort - oder um die Worte des Mitreisenden zu gebrauchen: in the middle of nowhere.