Ein industrielles Kleinod:
die Gläserne Manufaktur der Volkswagen AG in Dresden. 2012
die Gläserne Manufaktur der Volkswagen AG in Dresden. 2012
Das Auto, das wir fahren, ist ein KIA Picanto. Er hat vier Räder, Bremsen, ein Lenkrad und er fährt. Der VW Phaeton fährt ebenfalls. Er hat auch vier Räder, Bremsen und ein Lenkrad, aber was er sonst noch hat, das ist Welten von unserem Auto entfernt. Ja, mehr noch - von dem Allermeisten haben wir noch nicht einmal gehört und müssen erst eine Erklärung suchen: Spurwechselassistent, Abstandsregeltempomat, dynamische Feinlichtregulierung, Keyless Access und und und. Alles Dinge, die das Herz jedes eingefleischten Autofreaks höher schlagen lassen und gegen die wir blass aussehen. Ein Auto der Extraklasse ist der Phaeton, eine Nobelkarosse, neudeutsch: ein Premiumfahrzeug. Rund 65.000 muss man in der Grundausstattung dafür hinlegen. Ist man nicht kleinlich bei den Sonderwünschen, kommt man leicht auf das Doppelte und mehr. Dafür erhält man ein Fahrzeug, das keinen Wunsch offen lässt. Ein Meisterwerk der Ingenieurskunst. Großartig und so perfekt wie Raffaels Sixtinische Madonna mit den beiden niedlichen Engeln.
Wie die Sixtinische Madonna?! Auch wenn Kunstkenner jetzt ein Gruseln überfällt, aber wir sind hier in Dresden, hier sind beide beheimatet, der Phaeton und die Madonna, also warum soll man sie nicht miteinander vergleichen? Beide gehören unterschiedlichen Welten an, na klar, aber dennoch verbindet sie etwas, nämlich die Tatsache, dass beide Meisterwerke menschlicher Schaffenskraft sind. Und da ich die Kunstbeflissenen unter den Lesern meiner Berichte nun schon einmal vergrätzt habe, scheue ich mich nicht, diesen Vergleich noch ein wenig weiter zu treiben. Denn ebenso beeindruckend wie die Werke ist ihr "Zuhause": auf der einen Seite der Zwinger, das barocke Juwel der sächsischen Herrscher, auf der anderen Seite die Gläserne Fabrik, weit jünger, weit schlichter, aber in ihrer Art ebenso perfekt - und überdies ebenso ein Werbehit für das touristische Dresden - wie der Zwinger.
Es ist Sonntag, als wir der Gläsernen Manufaktur einen Besuch abstatten. Kein optimaler Tag. Zwar gibt es Führungen, die Produktion allerdings ruht, doch anders war der Besuch in unseren paar Tagen Dresden nicht unterzubringen. Der Weg von dem altstädtischen Highlight-Ensemble aus Frauenkirche, Semperoper und Schloss zur Manufaktur ist nicht weit, runde 20 Gehminuten nur. Womit ich auch schon bei ihrer ersten Besonderheit bin: eine Fabrik in der Innenstadt? Geht nicht, haben wir zunächst gedacht. Geht wirklich nicht, haben auch viele Dresdner vor Jahren gedacht und auf die Nähe zu der barocken Innenstadt verwiesen, auf die Nachbarschaft zum Großen Garten, der größten Grünfläche der Stadt, auf den zu erwartenden Zulieferverkehr für das Werk und daraus resultierend die Belastung für die Anwohner, und deshalb haben sie Unterschriften gesammelt und alles daran gesetzt, den Bau zu verhindern. Vergeblich. 1999 wurde der Grundstein gelegt, drei Jahre später war Einweihung. Heute gibt es unseres Wissens nach in dieser Hinsicht keine Probleme mehr. Längst haben sich die Dresdner mit der Manufaktur arrangiert.
Worauf sich dieser Umschwung gründet, wird uns im Verlauf unserer Führung immer klarer. Bereits die Architektur ist ein Erlebnis. Rund 8.000 qm umfasst der Gebäudekomplex, eine Glasfassade zur Hauptstraße, glatt, unprätentiös und funktional, dazu ganz im Gegensatz der fast schon verspielte Eingangsbereich auf der anderen Seite, wo das verantwortliche Architekturbüro Gunter Henn alle Register gezogen hat. Metallene Baukörper, schlanke Säulen, ein vorkragendes Dach, ein gläserner Fahrzeugturm für 280 Autos, die auf 16 Ebenen auf ihre Abholung warten, drumherum von Landschaftsgärtnern fantasievoll gestaltete Grünanlagen und Wassser. Ambitionierte Formen und edle Materialien finden sich auch im Foyer - unter anderem gibt es dort ein Gourmet-Restaurant mit einer Bar - sowie eine Etage höher im "Erlebnisbereich". Wir vermuten einen Scherz, als der Führer unserer Gruppe, Herr L. - das L. mit dem Punkt wegen des Datenschutzes - von Konzerten spricht, die hier stattfinden, Jazz und Klassik, doch er meint es ernst. Ja, während der großen Flut vor zehn Jahren, so berichtet er, habe die Semperoper hier sogar einen ganzen Monat ein Stück aufgeführt, nachdem ihr eigenes Haus infolge der Wassermassen unbespielbar geworden war. Donnerwetter! rutscht es mir heraus. Eine Fabrik - sorry: eine Manufaktur - hatten wir uns ganz anders vorgestellt. Herr L. lächelt nachsichtig. Das hätten schon viele, sagt er. Und als wolle er keine Zweifel aufkommen lassen, dass wir uns allen architektonischen und kulturellen Highlights zum Trotz dennoch in einem produzierenden Betrieb befinden, dirigiert er uns in einen gläsernen Fahrstuhl und fährt mit uns dorthin, wo "es passiert".
Schon wieder eine Überraschung! Was sich hinter der großen Glaswand verbirgt, vor der wir stehen, hat nun rein gar nichts mehr mit Schweißen und Hämmern zu tun, mit dem Krachen von Metall auf Metall und mit stickiger, öl- und gummigeschwängerter Luft. Was wir vor uns sehen, lässt uns viel eher an einen riesigen Operationssaal denken. "Fällt Ihnen etwas auf?", fragt Herr L. "Der Fußboden!", rufen mehrere von uns gleichzeitig und haben damit ins Schwarze getroffen. Kein Beton, nicht nackt, kalt und hässlich, statt dessen Parkett in hellen Tönen, und das nicht nur an den Seiten des Raumes, nein, "Auch das Laufband ist aus Par-kett" sagt Herr L. Wir schauen genauer hin, und nun können wir es erkennen: ein schuppenförmiges Band, das sich durch die gesamte Halle zieht und auf dem in Abständen Karosserien auf "Dreh-Hubtischen" fixiert sind, die sich im Fortgang der Produktion in fahrfertige Phaetons verwandeln werden. Die Karosserien, so erfahren wir, stelle man nicht selbst her, die kämen aus dem VW-Werk in Zwickau, ebenso wie man auch die Einbauteile von Zulieferern beziehe, die hier dann zusammengebaut werden. Von Männern mit Handschuhen und weißen Overalls (die Knöpfe nach innen, um keinen Lack zu zerkratzen!), angeleitet von Computerprogrammen und beliefert von Montagekästen, die auf einem fahrerlosen Transportsystem über das Parkett gleiten. Mehrere Karosserien hängen in den Greifarmen einer Elektrohängebahn unter der Decke. Sie werden von einer Abteilung in die nächste transportiert, bis sie dort landen - wir blicken durch die Glaswände nach unten -, wo die Fahrzeuge ersten Tests unterzogen werden.
Bei welcher Gelegenheit Herr L. die CargoTram erwähnt, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber ich weiß noch genau, dass meine Reaktion ein überraschtes "Wow!" war. Um den Zubringerverkehr zu der Manufaktur gering zu halten, werden die vorfabrizierten Teile - mit Ausnahme der Karosserien - von einem Logistikzentrum mittels zweier Güterstraßenbahnen in das Werk gefahren, zwei Mal am Tag, und das auf dem vorhandenen Netz der städtischen Straßenbahn. Einige weitere "Wows!" hatte ich schon vorab ausgestoßen, als ich mich in Vorbereitung unseres Besuchs auf der Website der Gläsernen Manufaktur umgesehen hatte: "Rund um das Gebäude", so konnte ich dort lesen, "halten von Laut-sprechern verbreitete Singvögelstimmen Artgenossen von den Glasfassaden fern, und spezielle Natriumdampflampen im Außenbereich leuchten in einem gelben Spektralbereich, der die Insekten aus dem benachbarten Botanischen Garten nicht stört." Ein Satz, den ich mir mehrmals durchgelesen habe: spezielle Lampen, um die Insekten nicht zu stören ... Als alter 68er hatte ich mir unter Kapitalismus immer etwas anderes vorgestellt.
70 Minuten dauert die Führung, und sie endet damit, dass wir - wie könnte es anders sein - vor einem Leibhaftigen stehen: einem Phaeton. Mehreren Teilnehmern unserer Gruppe ist anzusehen, wie ihre Herzen augenblicklich höher schlagen. Wir KIA-Picantos bleiben in dieser Hinsicht emotional völlig cool, aber beeindruckt sind wir trotzdem: von dem Auto, das ohne Zweifel ein technisches Wunderwerk ist; von dem Prinzip der Gläsernen Manufaktur, in der es zusammengebaut wird; von der überzeugenden Architektur und der ausgeklügelten Organisation; von der CargoTram und dem Blick auf Vögel und Insekten; von dem Engagement im kulturellen Bereich und nicht zuletzt von der gelungenen Präsentation, mittels derer uns das alles nahegebracht wurde. Mehr als eine Million Besucher haben dieses industrielle Kleinod seit seiner Eröffnung bereits besucht, und vermutlich haben sich die allermeisten von ihnen mit den gleichen Worten auf den Rückweg gemacht wie wir: Das war ein Besuch, der sich gelohnt hat!