Am Paradies geschnuppert.
Sieben Tage auf der Insel Ko Phangan. Thailand 1993
Sieben Tage auf der Insel Ko Phangan. Thailand 1993
So ähnlich könnte es im Paradies sein: Wir sitzen auf Bambusstühlen unter einem Strohdach am Strand, trinken Tee und schauen auf das azurblaue Meer hinaus. Nach der Mittagshitze hat sich die Luft ein wenig abgekühlt. Eine sanfte Brise spielt mit den Blättern der Palmen, deren Farben um diese Tageszeit ebenso kräftig hervortreten wie die Farben des Sandes und der Wellen, die in gleichförmigem Rhythmus auf den Strand rollen. Die meisten Fischerboote, die tagsüber nahe dem Ufer vor Anker gelegen haben, sind bereits draußen bei den Fanggründen und werden erst am frühen Morgen zurückkehren. Kein Motorenlärm dringt an unsere Ohren, auch keine anderen störenden Geräusche. Schweigend sitzen wir da und beobachten, wie sich der Himmel allmählich verfärbt, bis die Sonne alles mit Gold überzieht und sie in einem grandiosen Finale ins Meer sinkt.
Wir befinden uns auf Ko Phangan, einer Insel vor der thailändischen Küste. Ko Samui ist die weitaus bekanntere Schwester und liegt nicht weit entfernt. Vor ein paar Jahren waren wir auf Ko Samui. Seither hat sich die Insel stark verändert, große Hotelanlagen sind aus dem Boden gewachsen, und ein Flughafen wurde gebaut, über den jährlich mehr als eine Million All-inklusiv-Urlauber aus aller Welt einschweben. Die Rucksack-Touristen, die einst die Wegbereiter für den Tourismus auf Ko Samui waren, sind weitergezogen - nach Ko Phangan so wie wir oder noch weiter auf kleinere Inseln, wo alles, wie man hört, noch "ganz urtümlich" sein soll. Den Tipp mit Ko Phangan haben wir in der Khao San Road in Bangkok bekommen, der Freak-Street mit den billigen Hotels, den preisgünstigen Restaurants und den vielen kleinen Läden, die sich auf die Bedürfnisse der zumeist jugendlichen Klientel eingestellt haben. Thailand is easy, diesen Eindruck vermittelt diese Straße, Thailand ist einfach zu bereisen, und so ist es in der Tat. Auch unsere Fahrt nach Ko Phangan war easy. Die Tickets waren preiswert, die Organisation perfekt, und ehe wir es uns recht versahen, schaukelten wir in einem bequemen Nachtbus auf der großen Straße den "Elefantenrüssel" hinunter (ein Blick auf die Karte zeigt, was gemeint ist) gen Süden. Früh am Morgen hatten wir den Fährhafen zur Insel erreicht, und als wir auf das Schiff gingen, waren die Schlepper bereits da. "Loy Fa very beautiful!", wiederholte einer von ihnen gleich mehrmals und hielt uns einige farbenfrohe Fotos vor die Nase. "No expensive. And good restaurant." Die Bilder gefielen uns, und wir nickten, fügten aber mit nachdrücklich erhobenem Zeigefinger ein "Unverbindlich" hinzu. "No problem!", beeilte sich der Schlepper uns zu versichern, und da die Konkurrenz auch in thailändischen Urlaubsparadiesen nicht schläft, ließ er uns während der ganzen Überfahrt nicht mehr aus den Augen.
Wie die Übersetzung von "Loy Fa" heißt, wissen wir nicht, vielleicht bedeutet sie ja "Das kleine Paradies". Passend wäre dieser Name allemal. Ein kleines strohgedecktes Häuschen, rundherum Palmen und blühende Büsche, auf einem Hügel über einer malerischen Bucht gelegen. "Hier können Sie die Seele baumeln lassen!", könnte als Motto über der Anlage stehen, oder "Bei uns hat Stress keinen Platz!". Hat er tatsächlich nicht, wie wir schnell feststellen. Keine Hektik, keine Unruhe, auch nicht die gut gemeinte, aber dennoch anstrengende Diktatur eines touristischen Angebots, die beständig dazu zwingen würde, Entscheidungen zu treffen: Soll es diese Veranstaltung sein oder jene? Wollt ihr heute einen Ausflug machen oder an einem anderen Tag, und wenn ja, wohin? Nur beim Essen müssen wir uns entscheiden, wenn es zu wählen gilt zwischen Prawns oder einem Fisch, den die Männer mit den Booten gerade erst frisch aus dem Meer gezogen haben, wenn eine feurig-scharfe Tom-Yam-Suppe gegen einen nicht minder scharfen Thai-Curry steht oder der Salat mit den sonnenverwöhnten exotischen Früchten gegen den leckeren Chocolate-Banana-Cake nach dem Rezept des Hauses.
Dann eines Tages der Tote. Ich kann mich gut erinnern, dass wir nicht elektrisiert zusammenzuckten, als wir davon erfuhren, nicht "Oh, Gott!" riefen oder mit Unglauben in der Stimme "Ein Toter im Paradies!" Nein, für Ausbrüche wie diesen hatten wir uns schon viel zu sehr in unserer emotionalen Hängematte eingerichtet. "Ein Toter?", fragten wir die kleine Thai im Restaurant in demselben entspannten Tonfall wie anlässlich unserer Bestellung. Auch die kleine Thai blieb entspannt. Ja, bestätigte sie, es geben einen Toten, einen jungen Deutschen. In einem der Häuschen habe man ihn gefunden. Offenbar eine Mischung aus Alkohol und Drogen. Sie sagte das auf eine Weise, die darauf schließen ließ, dass ihr eine solche Situation nicht fremd war. Polizisten seien auch schon hier, ergänzte sie, die ermittelten, aber was gebe es da noch viel zu ermitteln, eben Alkohol und Drogen, da sei doch alles klar. Außerhalb des Restaurants war es ruhig, keine Hektik, kein Geschrei, lediglich ein paar Männer in Zivil, vermutlich die Polizisten, und ein Auto für den Abtransport der Leiche. Alkohol zu beschaffen ist eine Kleinigkeit in Thailand, er ist legal. Drogen sind illegal, aber ebenfalls leicht zu beschaffen, schließlich liegt Thailand am Goldenen Dreieck. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, hatte die Regierung die Schrauben angezogen, ging mit harter Hand gegen Drogendelikte vor und hatte bereits etliche Easy-living-Touristen aus dem Verkehr gezogen. Was für die Betroffenen äußerst unangenehm gewesen sein dürfte, galt das Bangkwang-Gefängnis, in das man sie einsperrte - mit schwarzem Humor auch "Bangkok Hilton" genannt - als eines der übelsten Gefängnisse weltweit.
Genau 10.383 Kilometer sind es bis London, verrät ein Schild, das Witzbolde am Strand aufgestellt haben. Thong Sala liegt sehr viel näher, nur zehn Kilometer, die wir auf staubiger Straße mit einem Jeep zurücklegen. Thong Sala ist der Hauptort der Insel. Rund 5.000 Menschen leben hier, viele vom Fischfang und von der Landwirstschaft, viele auch von den Fremden, wie man am Hafen unschwer erkennen kann, wo die Fähren vom Festland jeden Tag neue Hundertschaften von Travellern anlanden. Thailand is easy - auch hier beweist dieser Spruch wieder seine Richtigkeit, in den kleinen Restaurants, den Läden mit der passenden Ausrüstung für Globetrotter und den Mini-Reisebüros, die billige Fahrten und Flüge anbieten: nach Bangkok und nach Chiang Mai oder weiter weg für die Thailand-Müden, die schon mehrere Monate hier herumhängen und die sich nach Abwechslung sehnen: Nepal, Indien, Indonesien, alles von dem beschaulichen Thong Sala gut zu erreichen, in dem man vor wenigen Jahren noch nicht einmal wusste, was ein Reisebüro ist.
Sieben Tage Ko Phangan, das sind sieben Tage in einem kleinen Paradies. Auch an unserem letzten Abend sitzen wir am Strand und blicken aufs Meer und die Boote, auf den Strand und die Palmen und auf die Sonne, die bald ein weiteres Mal auf malerische Weise untergehen wird. Stunden wie diese sind Stunden zum Träumen. Ich habe einen Lieblingstraum. Er hat mit Teleportation zu tun, einem Lieblingsthema vieler Sciene-Fiction-Autoren. Mein Traum beginnt daheim im Alltag, wenn das Leben mal wieder nur Stress bereithält, wenn alle Mitmenschen nerven, etliches schiefgegangen ist, wenn der Briefträger nur Rechnungen bringt und Arzttermine anstehen, dann einfach mit dem Finger geschnipst, und schwupps - schon ist man an einem anderen Ort. Auf Ko Phangan etwa. Natürlich geht das nicht, denn erstens ... und zweitens ... und drittens ... Aber schön wäre es schon. Zum Beispiel gerade jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe - einfach schnips, und schon sitze ich wieder unter dem Strohdach am Strand, schaue den Fischerbooten zu und wie die Sonne über den Horizont sinkt und eine sanfte Brise mit den Blättern der Palmen ...