Helau und Halali.
Die deutsche Vergangenheit ist in Namibia noch immer lebendig. 2012
 
Nein, man muss sich nicht in der Geschichte Namibias auskennen, um zu bemerken, dass das Land eine deutsche Vergangenheit hat. Überall stößt man auf Deutschland. Sei es bei Geschäften und Einrichtungen, die einschlägige Namen tragen - etwa bei "Wecke & Voigts" in der Hauptstadt Windhoek, einem schicken Laden für Geschenkartikel, Mode und Tabakwaren ("Etwas Besonderes!"), der gerade sein 120jähriges Jubiläum feiert, beim "Hotel Thüringer Hof", der "Tischlerei Eichsfeld-Holz" gleich um die Ecke oder beim Camp "Halali" inmitten des größten und tierreichsten Nationalparks von Namibia: Etoscha. Sei es bei den Waren, die in den Supermärkten mit dem bezeichnenden Namen "SPAR" erhältlich sind, so etwa Butter aus Oldenburg oder Vollkornbrot aus Lübeck, ohne Konservierungsstoffe, versteht sich. Oder sei es in dem Städtchen Lüderitz im Süden des Landes bei etlichen Häusern, die ebenso gut in Eberswalde stehen könnten, in Stuttgart oder in Wanne-Eickel. Und nicht zu vergessen: beim Bier.
 
Wir sitzen in "Joe's Beerhouse", einem der angesagtesten Lokale von Windhoek, einem verwinkelten Biergarten mit Sitzplätzen unter Strohdächern und umstanden von Palmen. Unzählige leergetrunkene "Jägermeister"-Flaschen hängen als Schmuck an der Bar. Vor jedem von uns steht ein saftiges Zebrasteak, medium gebraten, mit Kräuterbutter und Salat und dazu der 35°C wegen ein perfekt temperiertes Weizenbier, in Windhoek gebraut nach dem bayerischen Reinheitsgebot von 1516. Kein typisch afrikanisches Getränk zwar, nein, wahrhaftig nicht. Aber eines, das in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, ebenso zum Alltag gehört wie die Namen der Geschäfte oder die Oldenburger Butter bei "SPAR".
 
 
Begonnen hat alles im Jahre 1883, als ein deutscher Kaufmann namens Adolf Lüderitz einen Vertrag mit einem Stamm der Nama abschloss, bei dem es um Landerwerb in diesem Teil Afrikas ging. 100 englische Pfund in Gold sowie 200 alte Gewehre gegen Land im Umkreis von fünf Meilen um den Ort, bei dem die deutschen Schiffe vor Anker gegangen waren. Kein schlechtes Geschäft, dachten die Nama, die von englischen Meilen ausgingen, allerdings be-riefen sich ihre Vertragspartner auf deutsche Meilen, und die waren fünfmal länger. Als die Nama ihren Irrtum begriffen (und Lüderitz seinen Namen "Lügenfritz" bekam), war es bereits zu spät, und sie hatten einen nicht unerheblichen Teil ihres Stammesgebietes verloren. Danach ging alles sehr schnell: Bereits ein Jahr später wurde die deutsche Fahne gehisst, bald darauf ein Gebiet, das eineinhalb mal so groß war wie das Kaiserreich, unter dem Namen Deutsch-Südwestafrika unter den Schutz eben dieses Reiches gestellt. Jenes Reiches, das erst wenige Jahre zuvor entstanden war (1871), und das seither als "verspätete Nation" danach strebte, von dem kolonialen Kuchen, den die anderen Mächte bereits weitgehend unter sich aufgeteilt hatten, auch noch ein paar Stücke abzubekommen. Ein paar Stücke, die sich schon bald als äußerst "kurzlebig" erweisen sollten, gingen sie doch bereits 1915 während des Ersten Weltkrieges wieder verloren. Zuvor aber - in den Jahren von 1884 bis 1915 - sickerten Menschen aus dem fernen Reich in das Land: Händler und Farmer, Missionare und immer mehr Militär. Neben dem Abbau von Diamanten und Kupfer war es vor allem die Viehzucht, die deutsche Siedler anlockte. Wer fortan auf welcher Seite stand, war dabei nur allzu schnell klar: hier die einheimischen Schwarzen, "faul, dreist, heimtückisch, sie lügen und stehlen", dort die fremden Weißen, intelligent und arbeitsam, Angehörige einer überlegenen Rasse, deren Recht, ja deren Pflicht es geradezu war, den minderwertigen Schwarzen die Segnungen der weißen Zivilisation zu bringen. Zeigten diese sich untertänig und verhielten sich willig, so ließ man sie gewähren; erwiesen sie sich hingegen als widerspenstig, begehrten sie gar auf, griff man zur Nilpferdpeitsche. Und wenn es sein musste, zur Waffe.
Ein Friedhof, rund vier Dutzend Gräber mit Inschriften in deutscher Sprache. Leutnant Otto Seebeck steht da auf einem Stein, Reiter Karl Lichtnäcker und Unteroffizier August Gerber, und dahinter stehen die Orte ihrer Geburt: Berlin, Dolgersheim und Rasenau. Was die Sterbedaten auf diesem Friedhof anbelangt, so fallen die meisten in das Jahr 1904. Waterberg ist der Name des Tafelbergs, der sich über eine Länge von 50 Kilometern hinter dem Friedhof erstreckt und auf dem sich heute ein Nationalpark befindet. Und Waterberg ist auch das Stichwort, das für das wohl schrecklichste Kapitel deutscher Herrschaft in Südwestafrika steht. Von den Kolonialherren in die Enge getrieben, hatte sich im Jahr 1904 der Stamm der Herero gegen diese erhoben und damit begonnen, deutsche Einrichtungen und Farmen zu überfallen. Die Regierung in Berlin reagierte darauf mit der Entsendung eines Expeditionskorps unter der Leitung von Generalleutnant von Trotha, und am Waterberg kam es zur entscheidenden Schlacht. Den überlegenen deutschen Waffen hatten die Herero nicht viel entgegenzusetzen, sie wurden geschlagen und der größte Teil von ihnen floh in die fast wasserlose Wüste Omaheke (ein Teil der Kalahari). Von Trotha ließ dieses Gebiet abriegeln und die Flüchtlinge von den wenigen dort vorhandenen Wasserstellen vertreiben mit der Folge, dass Tausende Männer mitsamt ihren Familien und ihren Rinderherden verdursteten. Eine Kriegsführung, die auf die vollständige Vernichtung der Herero abzielte ("Ich glaube, dass diese Nation ... vernichtet werden muss.") - ein Vorgehen, das die Wissenschaft später als den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts bezeichnete. Die gefallenen Deutschen wurden auf jenem Friedhof begraben, auf dem wir im Oktober 2012 stehen, der also allen politischen Veränderungen zum Trotz noch immer existiert. "Als Deutscher kann man sich an diesem Ort nur schämen!", schreibe ich in das Gästebuch des Friedhofs, während ein heißer Wind den Sand über die Gräber treibt und die fast senkrecht stehende Sonne das Land verbrennt. (Seit 1984 gibt es wenigstens eine Gedenktafel für die gefallenen Hererokrieger auf dem Friedhof.)
 
Weiß gegen Schwarz, zuerst die deutschen Kolonialherren, danach die Südafrikaner ... Und heute? An der Bar des "Sylvanette Guesthouses" in Okahandja kommen wir ins Gespräch: der Besitzer des Guesthouses, ein weißer Südafrikaner, der einst gegen die schwarze Unabhängigkeitsbewegung SWAPO kämpfte; ein schwarzer Gast, heute Offizier in der namibischen Armee, vor 1990 Angehöriger der SWAPO und damit Kämpfer gegen Südafrika, ausgebildet und unterstützt von der DDR, der Sowjetunion und Kuba; und wir, die Ururururenkel der einstigen deutschen Besatzer. Dass die beiden einst aufeinander geschossen haben, geht in dem angeregten Gespräch mit den zahlreichen Weißt-du-noch-Geschichten unter, wir selbst sind problemlos integriert, und wenn es an diesem Abend überhaupt noch einen nennenswerten Unterschied zwischen uns gibt, so ist es der, dass der eine Whisky trinkt, der andere Gin und wir Bier. Ist die Geschichte also wirklich vergangen, ein abgehaktes Kapitel? Nein, ganz gewiss nicht, denn jede Gegenwart - eine banale Feststellung - speist sich stets auch aus ihren Wurzeln. Aber die Konfrontation, der mangelnde Respekt, der Hass - sie scheinen in der Tat Vergangenheit zu sein. Ich schreibe dies in aller Vorsicht, war es doch unser erster Aufenthalt in Namibia und mit vier Wochen überdies ein eher kurzer. "Entspannt" scheint mir das passende Wort für die Beschreibung der Situation in dem Land im 97. Jahr nach dem Abzug der Deutschen und im 22. Jahr der Unabhängigkeit von Südafrika, das dem Kaiserreich als Kolonialmacht folgte. Ein entspanntes Miteinander-Auskommen, weil jede Seite merkt, dass sie die andere braucht, weil sie ihr Vorteile bringt, ein Geben und Nehmen zum Nutzen des Landes. Was andere Meinungen selbstverständlich nicht ausschließt, jene Bilderstürmer etwa, die jede Erinnerung an die deutsche Vergangenheit am liebsten vollständig auslöschen möchten. Doch offensichtlich finden sie keine Mehrheit. So ist selbst der Abriss des deutschen Reiterdenkmals (eine demonstrative Erinnerung an die deutschen Eroberer) mitten in Windhoek zwar immer mal wieder gefordert, aber bis heute nicht realisiert worden, ebenso wie der Abriss der alten deutschen Festung in Windhoek, der trotz Ankündigung nach wie vor in den Sternen steht und dort vermutlich - so Gesprächspartner in der Hauptstadt - auch stehenbleiben wird.
 
 
Die "Allgemeine Zeitung" in Windhoek, das "Beste Oktoberfest in Afrika" im Sportklub, der mit viel Helau und Alaaf gefeierte Karneval, dessen Begeisterung dem rheinischen nicht nachsteht, Weiße wie gelegentlich auch Schwarze, die "Guten Morgen" sagen, "Woher kommen Sie?" und die wissen, was Sauerkraut ist - die deutsche Vergangenheit ist in der Tat allgegenwärtig in diesem Land. Einmal mehr erfahren wir das gegen Ende unserer Reise, als wir nach einem langen Fahrttag verschwitzt auf der Terrasse eines Hotels sitzen und mit einem Bier den Staub hinunterspülen, als auf einmal Musik aus einem Lautsprecher an unseren Ohren dringt: deutsche Schlager, und zwar ausgerechnet solche von einer Art, die wir allenfalls gefesselt ertragen könnten, insbesondere den einen mit der endlosen Wiederholung "Das ist Kacke". Doch unsere Bitte an den schwarzen Ober, etwas anderes zu spielen, bleibt fruchtlos. Deutsche Schlager, so scheint man in diesem Hotel zu denken, gehören nun einmal zum deutschen Bier wie dessen Reinheitsgebot, und deshalb sagt er zwar zu, unsere Bitte zu erfüllen, aber nichts geschieht. "Das ist Kacke", dröhnt es immer wieder aus dem Lautsprecher mitten in Afrika, unter Palmen und Papayabäumen, um uns herum zahlreiche Schwarze, in unserer Erinnerung noch die Elefanten, Springböcke und Strauße, die wir an diesem Tag gesehen haben. Lange halten wir das nicht aus. Kaum haben wir das bestellte Essen verzehrt, verlassen wir den unerträglichen Ort und machen uns auf den Weg zu unserem Hotel. Es ist ein schönes Hotel, das wir für diese Nacht gefunden haben. Es liegt in der Bismarckstraße.