Fingal's Cave -
eine Höhle am Rande Europas. Schottland 2007
 
Ich bin neugierig, und deshalb rufe ich iTunes auf und gebe das Suchwort ein: Fingal's Cave, zu deutsch: die Fingalshöhle. Doch da diese Höhle in Schottland liegt und dort Englisch gesprochen wird, gebe ich das englische Wort ein. Ein berühmter Komponist hat dieser Höhle ein Werk gewidmet, wie ich weiß, außerdem - so habe ich in Wikipedia erfahren - hat die Rockband Pink Floyd 1971 einen psychedelischen Song mit dem Titel "Fingal's Cave" geschrieben, der für den Antonioni-Film "Zabriskie Point" vorgesehen war, aber nicht genommen wurde. Zwei Kompositionen für diese Höhle also - vielleicht, so habe ich mir gesagt, gibt es ja weitere. Als das Ergebnis meiner Suche in iTunes erscheint, reibe ich mir überrascht die Augen: 251 Treffer, das ist weit mehr, als ich erwartet hatte. Wobei die meisten allerdings den berühmten Komponisten betreffen (ich werde auf ihn zurückkommen), Einspielungen seines Werkes von verschiedenen Orchestern aus aller Welt. Doch es sind auch etliche Stücke von anderen Personen und Gruppen dabei, von denen mir jedoch kein einziger Name bekannt ist: Mànran oder Wolfstone etwa, Bram Stoker (kannte ich bisher nur als den Autor von "Dracula"), ein gewisser Andrew Cronshaw, Richard Savino sowie S.J. Pettersson und Berekekê. Ihre Stücke sind sehr unterschiedlich, stelle ich fest, als ich sie anspiele. Nur der Titel verbindet sie - "Fingal's Cave", einer Website zufolge "eine der berühmtesten Höhlen der Erde".
 
 
Juni 2007. Eingezwängt in einem Boot mit drei Dutzend weiteren Höhlen-Interessierten schippern wir über das Meer vor der schottischen Westküste. Die Fahrzeit beträgt eine knappe Stunde, und während uns ein warmer Wind in die Gesichter bläst und die Sonne auf uns herabscheint - was sie entgegen einer verbreiteten Meinung auch in Schottland häufig tut -, halten wir in geradem Kurs auf Staffa zu, die Insel, auf der sich die Höhle befindet. Staffa gehört zu den Inneren Hebriden, misst gerade einmal 200 auf 600 m und ist unbewohnt. Einsam ist die kleine Felseninsel indes nicht, zumindest nicht in den wärmeren Monaten des Jahres, wenn Scharen von Touristen und Ausflüglern über sie herfallen. Über "eine Felsmasse, die auf der weiten Fläche des Ozeans so bescheiden daliegt wie ein Feldstein auf einem Ackerfeld", wie Theodor Fontane es einst formulierte, der ebenso wie viele andere Größen seiner Zeit der Insel einen Besuch abstattete, nachdem sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts von der Öffentlichkeit entdeckt worden war. Zuvor hatten lediglich die Bewohner einiger benachbarter Inseln sowie des nahegelegenen Festlandes etwas mit dem Namen Staffa anfangen können - einem Namen, der auf die Wikinger zurückgeht und "Insel der Säulen" bedeutet. Nun aber kamen immer mehr Neugierige, um die Insel zu sehen, Queen Victoria mit ihrem Gatten Prinz Albert ebenso wie der schottische Nationaldichter Sir Walter Scott und der Schatzinsel-Autor Robert Louis Stevenson, der 80 Tage um die Erde reisende Jules Verne sowie last but not least William Turner, der sie in Öl gemalt hat.
Während der Schiffsdiesel gleichmäßig tukkert, nähern wir uns der Insel, und was uns zuächst als ein einheitliches Gebilde erschien, nimmt Farbe und Gestalt an. Staffa erinnert an eine geschichtete Torte: unten ein Fundament aus Tuffstein, das die Fläche des Meeres nur um wenige Meter überragt, oben eine formlose Felsmasse als ein kompaktes Dach, das eine dünne Erdschicht trägt, dazwischen das Besondere, das Sehenswerte, das die Besucher anzieht: senkrecht stehende Säulen aus Basalt, sechseckig eine jede und von grauer Färbung, rund zwanzig Meter hoch. Wie ein Bündel von Bleistiften sieht das aus, und je näher wir kommen, um so mehr schlägt uns dieses Bündel in seinen Bann. Was für ein faszinierendes Gebilde, das von einer Laune der Natur hier mitten ins Meer gesetzt wurde! Was für wundersame Formen! Unser Reiseführer sieht das nüchterner. Er spricht von einem unterirdischen Vulkanausbruch vor 60 Millionen Jahren, von aufsteigender Lava, die sich beim Erkalten in diesen bleistiftähnlichen Formen verfestigte, und das nicht nur hier, sondern unter der Meeresoberfläche noch viele Kilometer weiter bis nach Nordirland. Früheren Generationen muss die Insel als eine spielerische Schöpfung eines Riesengeschlechts erschienen sein oder als das Werk jener Geister, die in den schottischen Highlands ihr Unwesen treiben. Wir wissen es besser, aber dennoch verspüren auch wir den Zauber dieser ungewöhnlichen Insel.
 
Unser Boot legt an, und wir gehen von Bord. Der Kapitän deutet mit der Hand in eine Richtung, aber auch ohne diese Geste hätten wir den Weg nicht verfehlen können. Je näher die Basaltsäulen dem Meer sind, um so stärker hat die Kraft des Wassers sie in Jahrmillionen abgeschliffen, so dass sie nur noch wenig über die See hinausragen und damit einen idealen Zugang zu der am anderen Ende der Insel gelegenen Höhle bilden. Seile zum Festhalten begleiten den Weg an Stellen, an denen er ein wenig schwieriger wird. Mehrmals halten wir an, um Entgegenkommende vorbeizulassen - Ausflügler eines früheren Bootes -, dann, nachdem wir um eine Ecke gebogen sind, stehen wir vor Fingal's Cave. Als ein kathedralenartiges Portal haben einige Autoren den Eingang beschrieben, und an ein solches kann man in der Tat denken. Die Höhle, allein durch die Kraft des Wasser geformt, ist rund 80 m lang und etwa 10 m breit, ein schmaler Weg führt an den Seiten entlang. Von einem "wunderbaren Schiff einer gotischen Kirche" spricht Fontane, und etwas Heiliges, Mystisches hat dieser Raum durchaus. Während unsere Blicke umherschweifen, spülen Wellen in die Höhle, nicht ungestüm tobend wie an vielen Tagen im Jahr, sondern leise plätschernd und harmlos. Dämmerlicht umfängt uns, als wir in die Höhle hineingehen, mehrere Besucher stoßen Rufe aus, um die Akustik zu testen. Nahe dem Eingang setzen wir uns. Es ist an der Zeit, uns jenem Komponisten zu widmen, den ich bereits erwähnt habe und dessen Name mehr als jeder andere mit der Höhle verbunden ist: Felix Mendelssohn Bartholdy. Im Jahre 1829 war er hier, und der Ort hat ihn so tief beeindruckt, dass er sich eine Musik dafür ausdachte. "Hebriden-Ouvertüre (Fingal's Cave)" nannte er seine Komposition, das Vorspiel für die (erst neun Jahre später erschienene) Schottische Symphonie. Wir setzen die Ohrhörer unserer iPods auf, drücken sie fest in die Ohren, um alle anderen Geräusche auszublenden und lauschen. Bratsche, Cello und Fagott spielen das Auf und Ab der Wellen, eine Pauke lässt Donner rollen. Warum nur sind wir an diesem Ort nicht allein, denken wir mit Blick auf die anderen Besucher? Und warum haben wir so wenig Zeit, wo wir doch gerne noch länger verweilen würden, um die Stimmung in uns aufzusaugen? Aber wir sind nicht allein, und die Zeit ist kurz, denn unser Boot wird bald ablegen, um uns zurückzufahren und neue Besucher zu der Höhle zu bringen.
 
 
 
Der Rest der Insel ist schnell erkundet. Über einen Pfad steigen wir auf das Plateau hinauf, auf die dünne Kruste über dem Basalt. Ein paar Blumen ducken sich hinter Steinen, kein Baum, kein Strauch, nur kümmerliches Gras, das ist alles. Dafür ist der Ausblick um so beeindruckender: auf das Meer, zum Festland hinüber und auf ein paar Boote, die nahe der Insel vor Anker liegen. Von ihren Besatzungen ist niemand zu sehen. Vielleicht ruhen sie unter Deck aus, um frisch zu sein, wenn die letzten Besucher an diesem Tage verschwunden sind und sie die Insel für sich allein haben werden. Neidisch bei diesem Gedanken steigen wir in unser Boot, während der Kapitän den Motor anlässt und schon im nächsten Moment ablegt. Schnell gewinnt das Boot an Fahrt. Staffa und die berühmte Höhle bleiben zurück, eine kurze, aber beeindruckende Begegnung, an die wir zu Hause noch oft denken werden - mit der Musik von Mendelssohn Bartholdy im Hintergrund und mit den Bildern im Gedächtnis von dieser eigenwilligen Schöpfung der Natur.