Corrida Española.
Schlachtefest in Barcelona. 1972
 
Sehen wir uns einen Stierkampf an? Natürlich tun wir das. Schließlich sind wir in Spanien, und in diesem Land gehört der Stierkampf nun einmal zur kulturellen Identität wie Sherry, Paella und Flamenco. Zumindest denken wir das im Jahr 1972, und deshalb machen wir uns ohne zu zögern auf den Weg in die Arena. Wir sind nur kurz in Barcelona und wollen noch am Abend die Stadt wieder verlassen, aber zuvor ist Stierkampf angesagt. Unser Reiseführer kennt die Anfangszeit der Kämpfe - eine Information, die wir 1972 ganz selbstverständlich von ihm erwarten -, und so reihen wir uns rechtzeitig vor der Kasse in die Schlange der Wartenden ein. Zahlreiche Touristen sind unter ihnen, wie unschwer an den Outfits und den umgehängten Kameras zu erkennen ist. Wir blättern pro Person 225 Pesetas hin, das sind 11 DM, und erhalten dafür Sitzlätze in der Sonne, die im Juli auch gegen Abend noch recht stark ist. Voller Erwartung richten wir uns auf unseren Plätzen ein. Vor uns sitzen ein paar spanische Familien, die lautstark aufeinander einreden und dabei Bilder kreisen lassen, die mit Stierkämpfen zu tun haben. Insider offensichtlich, die solche Veranstaltungen bereits mit der Muttermilch eingesogen haben. Die jeden Torero kennen, Ahnung von Stieren haben und auch sonst wissen, wo es bei diesen Kämpfen lang geht. Und die die zu erwartenden Sieger bereits kennen und die Verlierer. Allerdings ist Letzteres keine Kunst. Kommt nichts Unvorhergesehenes dazwischen - und das geschieht äußerst selten -, sind die Rollen bei den anstehenden Kämpfen klar verteilt. Schließlich handelt es sich um eine spanische Corrida.
 
 
Corrida ist das landessprachliche Wort für einen Stierkampf, die Kämpfer sind die Toreros, ihnen gegenüber stehen los toros, die Stiere. Etwa 2.000 Corridas gibt es gegenwärtig in Spanien in jedem Jahr, 1972 dürfte die Zahl noch höher gewesen sein. In der Regel treten bei einer Corrida drei Matadore do toros an (zu deutsch: Stiertöter) sowie sechs Stiere. Die Zahl dieser Teilnehmer hochzurechnen, macht bei den Matadoren keinen Sinn, denn sie überleben (üblicherweise zumindest) und treten wiederholt zu Kämpfen an. Bei ihren Gegnern, den Stieren, ist das anders. Denen ist der Tod (ebenfalls von wenigen Ausnahmen abgesehen) so gewiss, wie es das Amen in den Kirchen des gottesfürchtigen Spanien ist. Das macht bei 2.000 Corridas im Jahr à sechs Stiere also 12.000 Tiere pro Jahr, eine gewaltige Zahl. Und ein gewaltiges Geschäft. Mehr als eintausend Betriebe widmen sich der Aufzucht von Kampfstieren, etwa 70.000 Menschen verdienen damit ihr Brot, der Umsatz der Branche beläuft sich auf stolze 1,5 Milliarden Euro pro Jahr. Gute Stiere lassen sich die Veranstalter von Corridas etwas kosten: Bis zu 150.000 € werden für einen "Set" von sechs Tieren bezahlt.
Ein Hornsignal ertönt, und die Veranstaltung beginnt. Beklatscht von den Einheimischen und neugierig beobachtet von den Touristen, ziehen die Teilnehmer der Corrida in die Arena ein - von den Stieren einmal abgesehen, die noch in den Boxen stehen - und präsentieren sich dem Publikum. Ein buntes Spektakel, farbenfrohe Kostüme und stolze Gesichter, alles klinisch rein und so fleckenlos wie ein Festzug bei einem deutschen Stadtjubiläum. Doch schon bald wird Blut fließen, bereits im ersten der drei Drittel, in die eine Corrida zerfällt, denn das Töten hat ein Programm. Das Publikum jubelt, als der Stier einläuft und der Matador Tastversuche mit ihm unternimmt, ihn "liest", wie es heißt, um die Bewegungsabläufe des Tieres für das letzte Drittel zu studieren. Wollte der Matador in dieser Phase gegen den Stier kämpfen, er hätte kaum den Hauch einer Chance. Die 600-kg-Kampfmaschine würde ihn auf die Hörner nehmen oder unter den Hufen zertreten. Ein Dilemma, für das der spanische Einfallsreichtum indes schon vor Jahrhunderten einen Ausweg gefunden hat: Ist der Stier zu stark, muss man ihn schwächen, und zwar so lange, bis der Matador leichtes Spiel mit ihm hat.
 
Eine Aufgabe, die zunächst den Picadores zufällt, Reitern auf gepolsterten Pferden, die den Stier mit Lanzen attackieren. Der Stier wirft zwei Pferde in den Sand, er wehrt sich und kämpft, aber natürlich hat er keine Chance. Nacheinander bohren sich die Lanzen in seinen Nacken, er brüllt vor Schmerz, und erstes Blut schießt aus seinen Wunden. Die vor uns sitzenden Familien quittieren jeden Stich mit Beifall. Wir indes schweigen. Ich stelle fest, dass mein Herz heftiger zu klopfen begonnen hat, mein Mund ist trocken, und ein erstes  "Das ist ja widerlich!" kommt mir über die Lippen. Was hatte ich eigentlich erwartet? frage ich mich heute. Damals habe ich mich das auch gefragt, aber erst in diesen Augenblicken, als die Picadores zustoßen und nach ihnen die Banderilleros - Männer, deren Aufgabe es ist, drei Paar mit bunten Bändern versehene Spieße so in den Rücken des Stieres zu treiben, dass sie hängenbleiben und er durch den Blutverlust noch mehr geschwächt wird. Die Spanier vor uns stoßen anfeuernde Rufe aus, ich rufe auch, Worte wie "Schweinerei!" und "Ekelhaft!", die Worte entfahren mir ganz spontan, ohne dass mir auch nur eine Sekunde der Gedanke kommt, dass ich dafür von den vor uns Sitzenden ruckzuck eins auf die Nase kriegen könnte. Doch diese kümmern sich gar nicht um mich, sie sind viel zu sehr gefangen von dem Spektakel, das sie lieben, vor allem, als im letzten Drittel noch einmal der Matador erscheint, der Meister dieses organisierten Tötens. Wie ein Primoballerino tritt er auf, er tanzt vor dem Stier, schwenkt sein rotes Tuch in alle Richtungen, gegen das der Stier anläuft, sich dabei immer weiter erschöpfend, während das Blut in rhythmischen Wellen aus seinen Wunden hervorstößt. Die Nacken- und Schultermuskulatur muss zerstört werden! - diese Zielsetzung lernen die Matadore in ihrer vierjährigen Ausbildung, um den Stier zum Absenken des Kopfes zu zwingen, denn nur dann lässt sich der tödliche Stich anbringen. Der Matador zielt und stößt zu, aber das reicht nicht, deshalb stößt er noch ein zweites Mal zu und danach noch zwei weitere Male, bis der Stier endlich zu Boden geht. Ein Helfer treibt dem Tier einen Dolch in den Schädel, ebenfalls mehrere Versuche, dann ist die Angelegenheit zu Ende. Der Beifall des Publikums ist verhalten. Gleich darauf schleifen Pferde den Kadaver aus dem Rund, und ein paar Männer bereiten das Areal für den nächsen Kampf vor. Noch fünf weitere Stiere ...
 
 
Foltershows, so haben Gegner die Stierkämpfe genannt. Anhänger dagegen benutzen Worte wie Kultur, Tradition und Männlichkeit und weisen - dies durchaus nicht zu Unrecht - darauf hin, dass die Stiere in den Jahren vor ihrer Tötung ein weitaus besseres, weil artgerechtes Leben führen als die allermeisten Rinder oder auch Schweine und Hühner, die in den Supermärkten, auch in den deutschen, über die Fleischtheke gehen. Als wir 1972 in Barcelona in der Arena saßen, waren die Corridas noch kein großes Thema. Vielleicht habe ich es verschlafen, aber ich kann mich an keine Berichte und an keine Artikel erinnern, die uns davon abgehalten hätten, zu einer Corrida zu gehen. Dennoch haben wir schnell begriffen, was für eine Tierquälerei das ist, was dort unter solch hehren Begriffen wie spanische Identität usw. hochgehalten wird. Anderen ist dieser Umstand langsamer aufgestoßen, vor allem vielen Spaniern, die in der Tradition dieser Kämpfe aufgewachsen sind. Insgesamt aber hat sich das Bewusstsein, dass hier etwas Widerwärtiges geschieht, auch in Spanien in der jüngeren Vergangenheit immer breiter gemacht. Und dieses gewandelte Bewusstsein hat auch schon erste Erfolge bewirkt. Nach einem Verbot der Corridas auf den Kanarischen Inseln im Jahr 1991 wurden die Kämpfe mit Beginn des Jahres 2012 auch in Katalonien verboten, damit also auch in Barcelona, wo wir 1972 als Zuschauer saßen. Ein Verbot, das gegen starke Widerstände erreicht wurde - gegen die Traditionalisten, die ohne Stierkämpfe das Ende der spanischen Identität heraufdämmern sehen, gegen die Geschäftemacher, die mit ihrer Skrupellosigkeit viel Geld verdienen (das zum Teil von der EU stammt, die die Züchtung von Kampfstieren bezuschusst) und nicht zuletzt gegen die spanischen Machos, für die der (ungleiche!) Kampf Mann gegen Tier der Inbegriff der Männlichkeit ist. Doch neben dem bisherigen begrenzten Verbot  gibt es eine weitere Entwicklung, die auf ein baldiges Ende der Corridas hoffen lässt: So haben bei einer Gallup-Umfrage im Jahr 2006 immerhin 72 % der Bevölkerung erklärt, dass sie an Stierkämpfen kein Interesse hätten, wobei die Zahl bei den jüngeren Jahrgängen noch höher war. Junge Spanier suchen ihre Idole heute eher unter Popstars und Fußballern als unter Matadoren. Als Folge dieses Umdenkens mussten bereits etliche Arenen schließen, und es steht zu erwarten, dass dieser Trend in den nächsten Jahren anhalten wird. In der Arena, in der wir saßen, gibt es inzwischen keine Stierkämpfe mehr. Eine andere Arena in Barcelona wurde angesichts zurückgehender Besucherzahlen bereits vor vielen Jahren in ein Einkaufszentrum umgewandelt, das seither Einheimische und Touristen aus aller Welt anzieht, so wie es einst die Kämpfe taten. Der Fortschritt ist eine Schnecke, so heißt es oft. Stimmt, aber auch eine Schnecke erreicht irgendwann ihr Ziel. Bin ich zu optimistisch, wenn ich annehme, dass das auch schon bald auf die spanischen Corridas zutreffen wird?