Kleine Könige.
Auf einem Hausboot im indischen Kaschmir. 1985
 
Der Weg ins Paradies ist weit und beschwerlich. Es ist 18 Uhr, als wir in Delhi aufbrechen. Unser Bus ist voll besetzt, rund 40 Männer, Frauen und Kinder mit Massen von Gepäck, das sie um sich herum aufbauen, als gelte es, sich gegen potenzielle Angreifer zu verbarrikardieren. Wir haben Fahrkarten für ganz hinten im Bus, ich sitze am Fenster. Es dunkelt, während wir die Stadt hinter uns lassen, und bald sind die Rücklichter der vor uns fahrenden und die Scheinwerfer der entgegen kommenden Fahrzeuge das Einzige, was wir sehen. Was nicht bedeutet, dass es das Einzige wäre, was sich auf der Straße befindet. Unbeleuchtete Karren, Esel, Rinder und zwei Mal auch ein Kamel, Gruppen von Fußgängern sowie Fahrräder sind ebenfalls da, wir sehen sie nur nicht, lediglich der Fahrer scheint sie zu bemerken, wie seine abrupten Ausweichmanöver erkennen lassen. Draußen wird es kühler, und gegen Mitternacht setzt Regen ein - Umstände, die mich eigentlich nicht beunruhigen müssten, wäre da nicht das Fenster neben mir, das immer wieder von allein aufgeht. Etliche Male schiebe ich die Scheibe zurück, schließlich drücke ich mit der Schulter dagegen, aber an Schlaf ist in dieser Position natürlich nicht zu denken. Auch Fluchen hilft nichts, das Schimpfen auf das, was wir in Deutschland eine verdammte Klapperkiste nennen würden, und ebenso wenig helfen die Gedanken daran, wie schön es gewesen wäre, hätten wir in Delhi doch noch die ersehnten Flugtickets ergattert. Durchhalten ist angesagt, immer das Ziel vor Augen: das Paradies.
 
 
26 Stunden später und knapp 900 km weiter haben wir es erreicht - Kaschmir, oder genauer: das Tal von Kaschmir, das schon Generationen von Besuchern in seinen Bann geschlagen und Dichter zu allerhöchsten Lobpreisungen angeregt hat. Im Busbahnhof von Srinagar hat unsere Fahrt ein Ende. Kaum sind wir ausgestiegen, als zwei junge Männer in traditioneller Kleidung auf uns zuhasten und uns ein Schild mit dem Namen entgegenstrecken, den uns der Inhaber des kleinen Reisebüros in Delhi zuvor als den Gipfel der Verheißung genannt hatte: den Namen unseres Hausbootes - "Coronation". Einen Moment später sitzen wir in einem Tuk-Tuk, einem jener Dreiradgefährte, die wie aufgescheuchte Bienen durch die Stadt flitzen, und noch einen Moment später sind wir da. Oder richtiger - wir sind beinahe da, denn noch trennt uns ein etwa 50 m breiter Wasserarm von unserem Hausboot, das als eines von zahlreichen fest verankerten Booten am anderen Ufer des Gewässers liegt. Die beiden Männer - sie haben sich als Prakash und Gul vorgestellt - verstauen unsere Rucksäcke in einem Kahn, lassen uns einsteigen, der eine greift zu einem Paddel, und einige kräftige Stöße später sind wir wirklich da. Dass es sich weder um das schönste noch um das größte der hier liegenden Hausboote handelt, ist nicht zu übersehen, aber schön ist es dennoch - vor allem von innen, wie wir feststellen, als wir "an Bord" gehen. Mehrere Räume im Stil der einstigen Kolonialmacht, die Wände aus einheimischen Hölzern, die Böden mit Teppichen bedeckt, gemusterte Vorhänge vor den Fenstern, die zusammen mit den dunklen geschnitzten Möbeln eine Atmosphäre schaffen, die auf Anhieb anheimelnd wirkt. "You want tea?" fragt uns Gul, und wir, die wir gerade erst einige spartanische Tage in Burma hinter uns haben, eine billige Unterkunft in Bangkok und die 26-Stunden-Klapperkisten-Fahrt, wir dürfen uns auf einmal wie Könige fühlen. Wie kleine Könige zumindest. Drei Männer - einer ist noch hinzugekommen -, die von diesem Augenblick an um uns herumspringen, die bestrebt sind, uns jeden Wunsch zu erfüllen und die sich immer wieder erkundigen, ob es uns bei ihnen auch wirklich gefällt. Einen Tee? No problem. Mit dem Kahn ans andere Ufer? Ebenfalls no problem. Und die mehrgängigen Menüs, kaschmirische Küche mit europäischem Einschlag, gehören ohnehin dazu. Ebenso wie die leckeren Säfte auf dem Sonnendeck, ein kleines Präsent zu einem Geburtstag, den wir feiern oder das Angebot eines landesüblichen Joints - beste Qualität, jahrhundertealte Tradition -, auf das ich eingehe, mein erster, den ich allerdings noch in derselben Stunde gern gegen eine gute Flasche Rotwein eingetauscht hätte.
Wer "Hausboot" sagt, muss auch "Briten", "Dal-See" und "Shikaras" sagen. Die Briten des 19. Jahrhundert waren es, auf die die Tradition der fest verankerten Hausboote in Kaschmir zurückgeht. Warum sie sich als Kolonialherren an die Weisung des örtlichen Maharadjas hielten, die Ausländern jeden Land- und Hauserwerb in seinem Reich verbot, habe ich nicht herausgefunden. Schließlich hatten die Briten die überlegenen Waffen. Aber was immer auch der Grund war - auf jeden Fall haben sie sich der Anordnung des Maharadjas gebeugt und ihre heutzutage von Touristen aus aller Welt hochgeschätzten Domizile statt auf dem Land auf dem Wasser errichtet. Leichter nachzuvollziehen ist dagegen, weshalb sie für ihr Vorhaben gerade dieses Gebiet wählten. Da war zum einen das Klima, die Hitze des Sommers, die in dem rund 1700 m hoch gelegenen Kaschmir weit besser zu ertragen war als im Tiefland. Und da war zum anderen der landschaftliche Reiz dieses Gebietes, vor allem der Gegend um den Dal-See, an dessen Ufern schon die Moghulkaiser früherer Jahrhunderte prunkvolle Residenzen mit prächtigen Gärten hatten errichten lassen. Von den Hausbooten der Briten waren diese landschaftlichen Highlights leicht zu erreichen, womit ich beim dritten Stichwort wäre, den "Shikaras" - kleinen, mit einem Dach versehenen und mit bunten Stoffen ausgeschlagenen Booten, den Gondeln der Italiener nicht unähnlich, auf denen sich die Kolonialherren - ebenso wie heute die Touristen - auf weichen Polstern ruhend vor der großartigen Naturkulisse von Einheimischen über den See rudern lassen konnten. (Da diese Landschaft so beeindruckend ist, werde ich ihr irgendwann einen gesonderten Bericht widmen.)
 
 
1985 war der Aufenthalt auf einem Hausboot in Kaschmir noch reinste Idylle, doch bald darauf sollte er zu einem gefährlichen Abenteuer werden. Drei Kriege haben die verfeindeten Nachbarn Indien und Pakistan bereits um Kaschmir geführt, lange war es danach ruhig, aber Ende der 1980er Jahre flammten die Spannungen nicht zuletzt infolge der Islamisierung Pakistans wieder auf. Zeitweise standen sich mehr als eine Million schwerbewaffneter Soldaten gegenüber, es kam zu kleineren Grenzscharmützeln und Gefechten, ja zeitweise hing sogar die Gefahr eines Atomkriegs zwischen den beiden Kontrahenten in der Luft. Zudem überzogen Extremisten aus Pakistan die kaschmirische Bevölkerung mit Bombenanschlägen und Attentaten. Zehntausende Menschen verloren in jenen Jahren ihr Leben, und je gefährlicher die Region wurde, um so mehr machte der Tourismus einen Bogen um sie. Und damit auch um die Hausboote, deren Betreiber von dieser Entwicklung in vielen Fällen zum Aufgeben gezwungen wurden. "Die Lage hat sich mittlerweile beruhigt, und Ausländer waren bisher nicht direktes Ziel von Auseinandersetzungen", schreibt das Auswärtige Amt Anfang 2013 in einem Sicherheitshinweis für Reisen nach Kaschmir und fügt hinzu: "Dennoch können auch gegen Ausländer gerichtete Einzelaktionen (auch Entführungen) in der gesamten Region nicht ausgeschlossen werden." Keine verlässliche Sicherheit also, auch wenn die Gefährdung als gering eingeschätzt wird, aber Gefahren sind nun einmal das Letzte, was Touristen in den schönsten Wochen des Jahres suchen. Entsprechend hat der Tourismus in Kaschmir und damit auch der Hausboot-Tourismus am Dal-See noch längst nicht wieder das Niveau der 1980er Jahre erreicht, als sich pro Jahr rund 600.000 Besucher aus aller Welt an den Schönheiten der Region erfreuten. Bleibt zu hoffen, dass sich die Situation baldmöglichst normalisiert und eine angstfreie Reise in dieses paradiesische Land zu Füßen des Himalaja wieder möglich sein wird.