Ruinen im Schnee.
In der antiken Stadt Thugga in Tunesien. 1980
 
 
Es ist frostig, und wir frieren. Seit wir aus den Betten gekrochen sind, sitzt uns die Kälte in den Gliedern, daran können auch die übereinandergezogenen Pullover und die hochgeschlagen Kragen unserer Jacken nichts ändern. Frisch gefallener Schnee liegt auf den Bäumen und knirscht unter unseren Füßen. Der Blick zum Himmel verheißt nichts Gutes. Wir sind in einem warmen Land, das von einem ungewöhnlich kalten Winter in den Griff genommen wurde. Wir sind in Tunesien.
 
 
Es ist der Dezember des Jahres 1980, und wir stehen knapp 100 km westlich von Tunis auf einem Campingplatz. Wir - das sind rund vierzig Reisende des Busunternehmens "Rotel Tours", die eine dreiwöchige Tour durch die Sahara hinter sich haben und die nun beinahe am Ende der Reise angelangt sind. "Schnee in dieser Gegend!", stöhnt unser Reiseleiter. Seit Jahrzehnten habe es hier nicht geschneit, und nun das ... Sein Arm beschreibt einen Bogen über die Landschaft, und wir bekunden nickend, dass wir ihm glauben. Unterdessen haben einige Mitreisende den Anhänger - das "Rollende Hotel", in dem wir gerade noch genächtigt hatten - wieder in einen ganz normalen Fahrzeuganhänger verwandelt, und der Fahrer lässt den Motor des dazugehörenden Busses an. "Einsteigen, Herrschaften!", ruft er in seinem Bayerischer-Wald-Akzent, eine Aufforderung, die so unbeschwert klingt, als läge eine sommerliche Sightseeing-Tour auf den gut ausgebauten Straßen seiner herausgeputzten Waldheimat vor uns. Doch das ist mitnichten der Fall, wie jedem Mitreisenden bewusst ist, insbesondere den Autofahrern, die skeptische Blicke über unser langes Gespann wandern lassen. Als wir vom Platz leicht rutschend auf die Straße einbiegen, setzt neuer Schneefall ein. Geschoben ist hier nichts, auch nichts durch Salzen aufgetaut, und so tastet sich unser Fahrer in einem niedrigen Gang vorsichtig voran. Kurz darauf eine Steigung, nicht hoch und nicht lang, aber spiegelglatt, was auch einen PS-starken Mercedes-Bus an seine Grenzen bringt. Muskelkraft kommt ins Spiel, das unterstützende Anschieben vierzig Reisender, die bei "Rotel" ans Zupacken gewöhnt sind, weshalb niemand meckert. Und siehe da - die Sache gelingt. Die Anhöhe wird erklommen, eine weitere ist nicht in Sicht, und als nur wenig später unser Etappenziel vor uns auftaucht, zeichnet sich Zuversicht auf allen Gesichtern. Wetterkapriolen hin oder her - wir werden das Kind schon schaukeln!
Der Ticketverkäufer am Eingang des Ruinenfelds händigt uns mit zitternden Fingern die Eintrittskarten aus, während er gleichzeitig etwas in seinen Bart brummelt, was wir nicht verstehen, was sich in unserer Fantasie aber anhört wie: Warum um alles in der Welt gefällt es Allah, uns mit einem solchen Scheißwetter zu strafen?! Neben ihm hängt ein Schild, darauf steht das Wort Thugga, und darunter gibt es ein Bild dieses Ortes inmitten einer Landschaft aus Wiesen und Olivenhainen, mit einem blauen Himmel und einer gelben Sonne darüber, die das Idyll in ein warmes Licht taucht. Bei unserem Besuch ist der Himmel grau, und auf Wiesen und Olivenhainen liegt Schnee. Unser Reiseleiter baut sich vor uns auf. Im 4. Jahrhundert im Herrschaftsbereich Karthagos gegründet, beginnt er, sei Thugga später an die Numider gegangen, dann an die Römer und die Vandalen, schließlich an die Byzantiner und zuletzt an die Araber, die wiederum Mitte des 20. Jahrhunderts von dem Ruinengelände in einen neugegründeten Ort mit dem Namen Dougga ausgesiedelt worden seien, um auf dem Boden des antiken Thugga mit Ausgrabungen beginnen zu können. Dass Thugga als eine der besterhaltenen und prachtvollsten römischen Ruinenstädte in Nordafrika von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde, kann er zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen, denn das geschieht erst 17 Jahre später. Dafür weiß er um so mehr von dem zu berichten, was wir uns nun eins nach dem anderen ansehen - den Markt und das Kapitol, das Mausoleum, einen gut erhaltenen Triumphbogen, Tempel und Thermen (!) sowie das ebenfalls gut erhaltene Theater mit 2.500 Sitzplätzen, in dem gelegentlich griechische Dramen aufgeführt werden. Nachdem unser Reiseleiter seine Erklärungen beendet hat, zerstreut sich die Gruppe, und ich beginne, zwischen den Ruinen zu wandern. Je stiller es um mich herum wird, um so mehr legt sich ein Zauber über den Ort. Der dunkle Himmel, die blaugrauen Felsen im Hintergrund, die zwei Jahrtausende alten Monumente, die - auch wenn sie unvollständig sind - noch immer beeindrucken, und über allem als ein seltenes Ereignis der Schnee. Eigentlich passt er recht gut hierher, denke ich, fast wie ein i-Tüpfelchen oder wie ein Sahnehäubchen, das die Faszination dieses altehrwürdigen Ensembles noch unterstreicht.
 
 
Dann die Uhr, die mir anzeigt, dass es gleich weiter geht. Wie immer ist die Zeit bei "Rotel" knapp bemessen. Ich wende mich dem Parkplatz zu. Der Wind hat aufgefrischt, aber ich spüre die Kälte nicht mehr, denn meine Gedanken sind mit dem Gesehenen beschäftigt. Gleich darauf setzt sich der Bus in Bewegung, und das Ruinenfeld wird zu einer Erinnerung. Zu einer schönen Erinnerung - dieses Thugga im Schnee.