"Coca-Cola-Trinker aller Länder, vereinigt euch!"
Aus den Wallfahrtsorten der Oktoberrevolution sind touristische Sehenswürdigkeiten geworden. Sankt Petersburg 2012
 
Oktober 1917. In der Stadt an der Newa ist der Teufel los. Von überall her eilen die Massen zum Winterpalais, dem Palast des verhassten Zaren, in dem dieser zwar nicht mehr residiert, denn er wurde einige Monate zuvor zur Abdankung gezwungen, wohl aber die Provisorische Regierung, und die ist nicht weniger verhasst. Im Palast haben sich deren Mitglieder verbarrikadiert, doch das wird ihnen nichts nützen. "Nieder mit den Reaktionären!", skandieren die aufgeputschten Massen, während sie auf das große Tor zustürmen. Nichts kann sie aufhalten, todesmutig stürzen sie sich den Waffen des Klassenfeindes entgegen, denn ihre Wut ist grenzenlos. Schon klettert ein Matrose über das Tor, öffnet es, und die Aufständischen drängen in den Palast. Kanonen donnern, überall kracht und blitzt es aus den Mündungen der Gewehre, derweil die Revolutionäre in die Räume eindringen, ins Schlafgemach der Zarin, wo sie mit Bajonetten deren Federbetten aufschlitzen und Hohn und Spott über die Attribute der herrscherlichen Dekadenz ausgießen. Wer Unrechtes tut, muss zittern vor diesen Söhnen der Revolution, seien es die Lakaien der Bourgeoisie, die sich im allgemeinen Chaos silberne Löffel in die Taschen stopfen oder der Mob in den eigenen Reihen, der sich über den Weinkeller des Zaren her macht, bis schwielige Arbeiterfäuste die Flaschen zerschlagen. Und zittern muss auch die Provisorische Regierung, dieses feige Pack, das sich angstschlotternd und ohne Widerstand dem hereinstürmenden Proletariat ergibt. Angeführt von der Partei der Bolschewiki, hat die Revolution des Volkes gesiegt. Nun gilt es, den Worten Lenins zu folgen und den sozialistischen Staat aufzubauen. Und damit jedermann diese zentrale Botschaft auch wirklich versteht, ist der Film an dieser Stelle zu Ende. Jener Film, den der Regissseur Sergej Eisenstein im Auftrag Stalins zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution gedreht hat und der mit seinen suggestiven Bildern für Generationen das Bild vom Ablauf der damaligen Ereignisse prägte.
 
 
Die Wahrheit ist anders, und sie ist weit weniger spektakulär. Am 25. Oktober (nach unserem gregorianischen Kalender am 7. November) drangen die Bolschewiki in das Winterpalais des bereits entmachteten Zaren in Sankt Petersburg ein, das damals Petrograd hieß, verhafteten die Mitglieder der Provisorischen Regierung, ließen diese bald darauf aber wieder frei, nachdem sie sich per Unterschrift zum Rückzug aus der Politik verpflichtet hatten. Blut wurde bei dieser Aktion nicht vergossen - auch in der Stadt nicht, wo das Leben normal weiterlief. Die Theater spielten ihr angesetztes Programm, auf den Straßen flanierten die Bürger, und erst am nächsten Morgen erfuhren die meisten aus den Zeitungen, was sich am Vorabend zugetragen hatte. Leo Trotzki, der Organisator des Aufstandes, notierte später in seinen Erinnerungen: "Alle wichtigen Punkte der Stadt gehen in unsere Hände über; fast ohne Widerstand, ohne Kampf, ohne Opfer." Mit anderen Worten: Die Erstürmung des Winterpalais, die von Eisenstein auf Zelluloid gebannt wurde, hat es so niemals gegeben.
Die Gedanken an das damalige Geschehen gehen uns durch den Kopf, als wir auf dem weitläufigen Platz vor dem Winterpalais neben der Alexandersäule stehen und den Palast betrachten. Wir haben unser Bild von den Ereignissen des Jahres 1917, doch welches Bild mögen die vielen anderen Touristen haben, die den Platz bevölkern, vorausgesetzt, sie haben überhaupt eins? Vielleicht sind diese Ereignisse ihnen ja völlig gleichgültig, vielleicht zählt für sie nur das Bauwerk, dieses Prunkstück des russischen Barock, das in seinem Inneren mit der Eremitage ein weiteres Prunkstück beherbergt, eines der größten Kunstmuseen der Welt. Also weniger ein Ort für jene, die auf den Spuren der russischen Revolution wandeln wollen, als vielmehr eine ganz normale, allerdings besonders hochkarätige Sehenswürdigkeit. Sightseeing für Gäste aus aller Welt, die die Stadt einer UNESCO-Statistik zufolge zu einem der zehn attraktivsten Reiseziele weltweit gemacht haben. Und in der Tat sind die vielen Besucher nicht zu übersehen: Gruppen, die im Eiltempo von einem Programmpunkt zum nächsten hasten, Individualreisende mit Zeit, die ausdauernd in Reiseführern blättern, Bilderknipser und Halbprofis mit teuren Filmkameras und diejenigen, die dem charmanten Werben Peters des Großen oder der Zarin Katharina der Großen erliegen und sich mit diesen für ein paar Rubel ablichten lassen. Amüsiert schauen wir den Letzteren zu. Plötzlich zieht ein Lieferwagen unsere Aufmerksamkeit auf sich, der aus dem Palast kommend auf das nördliche Ende des Platzes zuhält. "Coca-Cola" ist auf dem Wagen zu lesen. Ich muss grinsen. Wenn es einen Namen gibt, der geradezu der Inbegriff all dessen ist, wogegen sich Lenins Revolutionäre einst wandten, dann ist es der auf dem Lieferwagen. "Coca-Cola"- das war der Klassenfeind, den jeder aufrechte Kommunist in die Hölle schicken wollte. Und nun kommt dieser Wagen aus dem Winterpalais gefahren, gerade aus diesem so symbolträchtigen Gebäude, und niemand beachtet ihn, nicht ein einziger, denn seine Existenz an diesem Ort und zu dieser Zeit ist im Jahr 2012 die normalste Sache der Welt. So normal wie die "Jaguar"-Luxuskarossen gleich hinter der Ausfahrt des Flughafens, wie die "Burger Kings" und die "Pizza Huts", wie die Werbetafeln für Sheeba, IKEA und den MediaMarkt oder die aufgestylten Männer, die auf ihren chromblitzenden Harley Davidsons über den Newskij Prospekt (siehe Bericht 22) knattern.
 
 
Am Nachmittag dann der Besuch auf der "Aurora". Auch sie war einst ein heiliger Ort der Revolution, heute ist sie ganz unspektakulär - ebenso wie das Winterpalais - eine Sehenswürdigkeit. Aus der Bugkanone dieses Kreuzers wurde jener historische Schuss abgefeuert, der für die Bolschewiki das Signal zum Angriff auf den Zarenpalast gab und der damit den Beginn der Oktoberrevolution markierte. Im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen versenkt, wurde das Schiff in den 1950er Jahren gehoben, restauriert und liegt seither als Museumsschiff ein Stück weit von seinem ursprünglichen Ort in der Revolutionsnacht entfernt vor Anker. Mehr als 28 Millionen Menschen haben die "Aurora" bisher besucht, und jeden Tag kommen Hunderte hinzu. Darunter auch solche, für die das Schiff nach wie vor eine Reliquie ist - so für die Gruppe schon lang ergrauter Herren in festlicher Kleidung und mit Orden behängt, die sich an diesem Tag sichtlich beeindruckt herumführen lässt. Für alle anderen Besucher scheint die "Aurora" dagegen nur eine normale Sehenswürdigkeit zu sein, ein Schiff mit einer Geschichte, das man sich ansieht, weil es im Reiseführer steht. Und so ist die Stimmung unter den Besuchern denn auch höchst entspannt: eine Hand an die historische Kanone, ein freundliches Lächeln, ein Klick und danach schnell weg, denn schon wartet der Nächste. Erinnerung an einen touristischen Besuch, aber nicht mehr. Gorbatschows Glasnost und Perestrojka haben der kommunistischen Ideologie ein Grab geschaufelt und jene Normalität heraufbeschworen, die auf uns und wohl auch auf die meisten anderen Besucher so wohltuend wirkt. "Völker, hört die Signale!" als ein Aufruf zum letzten Gefecht - das würde heute nur noch lächerlich klingen. Passender wären die Worte als ein Appell des Sankt Petersburger Fremdenverkehrsbüros an die Touristen in aller Welt, ihre Stadt zu besuchen. "Ein Spaziergang auf den Spuren der Oktoberrevolution mit dem Winterpalais und dem Kreuzer Aurora", so könnte eine Besichtigungstour heißen (vielleicht gibt es sie schon?), eine solche wäre interessant und lehrreich, aber sie wäre eine Tour mit Distanz. Wie schön ist es, den Schulklassen zuzusehen, deren Jungen und Mädchen völlig locker über das Deck des Schiffes schlendern, dabei alles erkunden und berühren wie Schüler überall auf der Welt, die nicht stramm stehen, nicht Fahnenappellen beiwohnen oder staatlich verordnete Floskeln herunterbeten müssen! Nach all den Jahren, in denen die Revolution ihre Kinder gefressen hat, sind sie die heutige Realität Russlands. Die neue Zeit, genau so wie der Coca-Cola-Wagen vor dem Winterpalais. Würden Lenin und seine Genossen das sehen, würden sie sich vermutlich in ihren Gräbern umdrehen. Was für ein schöner Gedanke!