Gekreuziget, gestorben und am nächsten Tag alles von vorn.
Die Passionsspiele in Oberammergau. 2006 und 2010
 
 
War das vielleicht Pontius Pilatus, der uns da eben ein Weißbier eingeschenkt hat? Und die mit dem Dirndl da hinten in der Ecke, die uns so nett angelächelt hat, war das Maria Magdalena? Und haben wir uns vorhin womöglich bei Jesus nach dem Weg erkundigt, bei der Tankstelle, als wir uns nicht sicher waren, wo es zur Ortsmitte ging?
 
Da wir durstig vom vielen Herumlaufen sind, bestellen wir noch zwei Weißbier - ob bei Pontius Pilatus oder nicht, das bleibt offen, denn klar ist das zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Schließlich schreiben wir erst das Jahr 2006, und nur alle zehn Jahre gibt es im bayerischen Oberammergau diesen Statthalter des römischen Kaisers, ebenso wie es nur einmal in einer Dekade eine Maria Magdalena und einen Jesus gibt. "Da müssen Sie bis zum Jahr 2010 warten", hatte uns ein Andenkenverkäufer erklärt - der künftige Paulus womöglich? -, bei dem wir uns nach den nächsten Passionsspielen erkundigt hatten, und nachdrücklich hatte er hinzugefügt: "Dann ist hier richtig was los!" "Dann ist hier die Hölle los!", hätte ich an seiner Stelle formuliert, aber das sagt er natürlich nicht, denn für ihn wie für viele andere ist dieses Ereignis der Himmel. Schon seit dem Jahr 1634 ist das so. Ein Jahr zuvor hatte die Pest den Landstrich heimgesucht, und das mitten im Dreißigjährigen Krieg, als hätte der nicht schon genug Elend mit sich gebracht. Tote gab es damals bereits mehr als genug, und nun also auch noch die Pest, die die Menschen gleich reihenweise dahinraffte. Als die Not am größten war, legten die Bewohner von Oberammergau ein Gelübde ab: Sollte die Pest, so schworen sie, einen Bogen um ihren Ort machen, so wollten sie Gott zum Dank regelmäßig die Geschichte "vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus" zur Aufführung bringen. Ihr Gelübde wurde erhört, und so ging bereits im darauffolgenden Jahr erstmals die Erfüllung ihres Versprechens über die Bühne - auf einem Gerüst, das sie über den Gräbern der Pesttoten errichtet hatten. Im Jahre 1680 - die tödliche Seuche lag bereits zwei Generationen zurück - kamen sie zu der Ansicht, eine Aufführung alle zehn Jahre würde reichen, und bei diesem Rhythmus ist es bis heute geblieben. Nur dass aus dem anfänglich lokalen Ereignis einer kleinen alpenländischen Gemeinde inzwischen ein internationaler Event geworden ist, der in den Katalogen vieler Reiseveranstalter regelmäßig weit oben steht. Oberammergau ist zum Synonym für die größten Passionsspiele weltweit geworden. Und für eine Gelddruckmaschine, die allein im Veranstaltungsjahr 2010 rund 37 Millionen Euro in die Kassen der kleinen Gemeinde gespült hat.
 
 
Die Regeln der Spiele sind klar und haben eine inzwischen jahrhundertealte Tradition, allen voran die Bestimmung, wonach die Mitwirkenden ausschließlich aus Oberammergau stammen dürfen oder zumindest seit zwanzig Jahren dort gelebt haben müssen. Eine Regel, die sich nüchtern anhört, deren Umsetzung für mich aber an ein Wunder grenzt, das dem Wunder der göttlichen Auferstehung nur wenig nachsteht. Ein Zahlenvergleich mag das verdeutlichen: Rund 5.200 Einwohner hat der Ort, davon nehmen etwa 2.000 an den Passionsspielen teil. Zieht man von den 5.200 die Babys und Kleinkinder ab, ferner alle Behinderten und Kranken, für die eine Beteiligung an dem Gemeindeprojekt nicht infrage kommt, so heißt das nichts anderes, als dass beinahe die gesamte Einwohnerschaft des Ortes auf die eine oder andere Weise in die Spiele eingespannt ist. Und das nicht nur als die anonymen Mitglieder zumeist stummer Massen, die in verschiedenen Szenen die Bühne bevölkern, sondern gleichermaßen als Einzeldarsteller, die sich vor einem großen und durchaus kritischen Publikum bewähren müssen - als Schauspieler in anspruchsvollen Rollen, als Musiker im Orchester und als Sänger von Melodien, die alles andere als bergwäldlerische Schuhplattler sind. Vormittags noch zwischen Weißwürsten und Schweinshaxn in einer Metzgerei, abends unter dem Kreuz neben einem Johannes, der ein paar Stunden zuvor noch dem Xaver - dem jetzigen Judas - die Steuererklärung geschrieben hat. Geld machen lässt sich mit diesem Engagement nicht. Von einer Aufwandsentschädigung abgesehen, ist die Mitarbeit eine Sache der Ehre. Selbst Jesus und Pontius Pilatus werden nicht reich, ebenso wenig wie die Beleuchter, die Saalordner oder die vielen, die mit Nadel und Faden monatelang damit beschäftigt waren, sich selbst und ihre Nachbarn in stilechte Römer, Juden und Engel zu verwandeln.
Was Letztere zustande gebracht haben, kann man sich ebenso wie die Spielstätte im Rahmen einer Führung ansehen, und das ist der Grund, weshalb wir im Mai 2006 in Oberammergau sind. Wer in den letzten Jahrzehnten alles hier war, darüber klärt uns der Führer auf: angefangen von Hitler und etlichen von dessen braunen Kumpanen über den amerikanischen Autokönig Henry Ford und Dwight D. Eisenhower (bevor er Präsident wurde), den späteren Papst Pius XII., die bundesdeutschen Gründerväter Adenauer und Heuss, zahlreiche Angehörige von Königs- und Fürstenhäusern und Prominente aus Wissenschaft und Kunst bis hin zu solch schrulligen Käuzen wie Rudolph Mooshammer mitsamt seiner Yorkshire-Dame Daisy. Sichtlich beeindruckt wiegen einige aus unserer Gruppe die Köpfe. Dann geht es zu den Kostümen. Viele von ihnen sind uns seit den Historienschinken à la "Ben Hur" bestens vertraut, andere rufen Erstaunen hervor, sind sie doch von solch schriller Aufdringlichkeit, dass man sie eher im Fundus eines Tuntenballs erwartet hätte. Über einem Stuhl hängt das Jesus-Outfit, ein einfacher Umhang, ein Lendenschurz, davor die Krone, deren lange und hässliche Dornen einer älteren Dame ein spontanes "O Gott!" entfahren lassen. Schließlich das Kreuz, und nur fünf Sekunden später die Frage, die jedem Käufer in einem Baumarkt gut angestanden hätte: Nageln geht nicht - wie also hängt der Oberammergauer Jesus am Kreuz? Unser Führer setzt ein wissendes Lächeln auf. Nein, nageln gehe in der Tat nicht, sagt er, aber Nägel müssten sein, und deshalb habe man gebogene konstruiert, die um die Gelenke herumgingen, was infolge der Art ihrer Anbringung und einer entsprechenden Beleuchtung dem Publikum nicht auffalle. Dazu gehöre ein Klettergurt, wie ihn Bergsteiger benutzten - ebenfalls unsichtbar natürlich - sowie ein kleines Podest zum Aufstellen der Füße. Doch selbst mit dieser Hilfestellung sei das zwanzigminütige Hängen am Kreuz ein Martyrium, erklärt unserer Führer. Oder wie es einige Jahre später der 2010er Jesus Frederik Mayet in einem Interview mit der Bild-Zeitung sagen sollte: "Es ist sehr anstrengend. Ich bin halb nackt. Alle starren mich an. Die Menge verspottet mich, unter dem Kreuz weinen Maria und Johannes. So ausgestellt zu sein, ist unangenehm. Außerdem schlafen die Arme schnell ein, und bei den Proben war es auch sehr kalt. Nach der Kreuzigung musste ich sofort heiß duschen und Tee trinken."
Frederik Mayet ist einer der beiden "Jesusse", der andere ist Andreas Richter, denn es sind stets zwei Oberammergauer, die in wechselndem Rhythmus die Hauptpersonen der Spiele verkörpern. Sie haben bereits etliche Auftritte hinter sich, als wir uns im August 2010 ein weiteres Mal nach Oberammergau auf den Weg machen - mit ein paar im letzten Moment erworbenen Karten, was vermutlich nicht weniger ein Glücksfall ist, als im Schicksalsjahr 1633 die Pest zu überleben. Die Stimmung im Ort ist eine andere als vier Jahre zuvor, eine Mischung aus kontemplativer Feierlichkeit und blau-weißer Festwiese, dazu eine Spannung, die auf etwas Außergewöhnliches hinweist. Zwei Spielhälften sind angesetzt. Die erste beginnt um 14.30 Uhr, die zweite nach einer dreistündigen Pause "um der besseren Wirkung willen" als "Nachtspiel" um 20 Uhr und endet drei Stunden später. Eine Neuerung, die der Spielleiter Christian Stückl gegen den erbitterten Widerstand zahlreicher Traditionalisten durchgesetzt hat, für die jede Änderung des Althergebrachten satanisches Störfeuer ist. Auch über den Text hat man im Vorfeld gestritten, insbesondere über die Darstellung der Juden. "Christusmörder" hat man sie lange Zeit genannt, und "Söhne des Teufels". Doch worüber sich Hitler und seine Entourage noch die Hände gerieben haben dürften, gilt so nicht mehr und ein neues Judenbild musste her, mit Texten, die differenzierter sind und nicht so platt. Auch Jesus hat man für die Gegenwart adaptiert. Bei Stückl ist er nicht nur der Leidende am Kreuz, sondern vor allem der Kämpfer für die Menschen und für eine gerechtere Welt. Wie viele Weißbiere mögen bei diesen Diskussionen durch die Kehlen geflossen sein, bis man sich endlich geeinigt hatte! Doch dann war alles fertig, und die 2010er Spielserie konnte beginnen. Beinahe 5.000 Zuschauer werden am Abend unseres Besuches zugegen sein, und während Jesus vielleicht noch einmal seinen Haltegurt überprüft, Pontius Pilatus zum Bösewicht geschminkt wird und die Engel ihre Flügel anlegen, streben die Zuschauer von allen Seiten auf das Festspielhaus zu. Wir schließen uns an und nehmen zusammen mit ihnen unsere Plätze ein. Allmählich verebben die Gespräche, auch das angeregte Geschnatter einer Reisegruppe, die vermutlich zwischen Neuschwanstein und dem Münchner Hofbräuhaus hier einen Zwischenstopp eingelegt hat, und eine feierliche Stimmung senkt sich über die Zuschauer. Dann beginnt das Vorspiel, und auf einmal ist es so still, dass man das Zwitschern eines Vogels in einem Baum hinter der offenen Bühne hören kann. Insgesamt 109 Mal zwischen Mai und Oktobr wird die Aufführung in diesem Jahr stattfinden. Eine Aufführung, die ebenso ein religiöses Spektakel ist wie ein gutes Geschäft und eine perfekte organisatorische Leistung. Eine Veranstaltung, die - wie immer man auch zu ihren Inhalten stehen mag - einzigartig und deshalb absolut sehenswert ist.