"Never on Sunday!"
Stornoway ist das Tor zu den Äußeren Hebriden. Schottland 2009
 
Die Frau hinter dem Tresen der Tankstelle ist Mitte 30, sie ist pummelig, hat eine Nase wie Barbra Streisand, und ihre wässrig-blauen Augen schauen mich an, als hätte ich sie gerade aufgefordert, mit mir aufs Zimmer zu gehen. "Wine?!", wiederholt sie mein Wort, das aus ihrem Mund wie eine Gotteslästerung klingt, und dahinter schwingt eine ganze Tirade mit: Du Schwachkopf, was glaubst du eigentlich, wo du bist? Du willst Wein bei mir kaufen? Alkohol? Das kann doch nicht wahr sein! Bist du ein Depp, oder bist du frech ... Neben mir stehen zwei sonntäglich herausgeputzte Damen, die eine schüttelt wortlos den Kopf, die andere blickt peinlich berührt zu Boden. Beistand erfahre ich von einem Mann, der dicht an mich herantritt und mir fast verschwörerisch zuraunt - so ähnlich muss Macbeth mit seiner Frau über den Mord an Duncan gesprochen haben -, dass es hier keinen Wein gebe, jedenfalls heute nicht, denn heute - er deutet mit dem Kinn auf einen Kalender an der Wand - heute sei Sonntag. Ja, und? will ich schon sagen, aber bevor ich die Worte ausspreche, durchzuckt mich auf einmal die Erinnerung: Die Menschen auf dieser Insel, so hatte ich in unserem Reiseführer gelesen, seien tief religiös, weshalb an Sonntagen manches nicht verkauft werde, ja selbst Benzin erhalte man erst, wenn die Gottesdienste zu Ende seien. In früheren Jahren hätten Fremde sich an Sonntagen nicht einmal auf der Insel aufhalten können - kein Hotel, kein Bed & Breakfast, kein Restaurant -, denn an diesem Tag habe die Arbeit geruht. Jede Arbeit, auf der ganzen Insel. "Sorry, I forgot", sage ich zu der Pummeligen, und um dem "Sorry" mehr Gewicht zu verleihen, füge ich hinzu: "We are tourists." (Als hätte sie das nicht ohnehin schon gewusst, denke ich gleich anschließend.) "Tomorrow!", entgegnet sie in der kürzest möglichen Verkürzung. Und zum Zeichen, dass die Angelegenheit für sie erledigt ist, geht sie an der langen Reihe von Weinflaschen, Schnapsflaschen und Sixpacks vorbei zu einer Vitrine und beginnt, eine Lieferung kleiner Souvenir-Schäfchen mit Schottenmützen neben Röcke tragenden Dudelsack-Männchen zu arrangieren. Wie Hunde mit eingekniffenen Schwänzen verlassen wir die Tankstelle und gehen zu unserem Auto. Glück gehabt, dass wir gerade kein Benzin brauchen!
 
 
Rückblick. Unsere Fähre läuft in das 8.000-Seelen-Städtchen Stornoway ein, den Hauptort von Lewis, einer Insel der Äußeren Hebriden, die westlich von Schottland liegt und zu Schottland gehört. Der Ort verdankt seine Entstehung den Wikingern. Ausschlaggebend war die Lage an dem besten natürlichen Hafen der Insel, ein Pfund, mit dem sich auch heute noch wuchern lässt. Die Fähre gehört der Reederei "Caledonian MacBrayne" und kommt von Ullapool her, einem Ort auf dem Festland. Drei Stunden hat die Überfahrt gedauert. Das Wetter, das uns empfängt, würden manche nicht ganz zutreffend, aber auch nicht gänzlich falsch als "typisch schottisch" bezeichnen: grauer Himmel, frischer Wind und anhaltender Nieselregen. Also alles andere als das, was man sich unter dem idealen Urlaubswetter vorstellen würde, doch wer nach Schottland reist, der hat dafür auch andere Gründe. Stornoway soll unser Standbein sein, um von hier aus Lewis und die Nachbarinsel Harris zu erkunden. Ein Hotel ist schnell gefunden, "Hotel Royal", an einem kleinen Hafen gelegen mit Blick auf ein Castle, 115 Pfund für die Nacht inklusive Frühstück, wobei ein schottisches Frühstück einen erklecklichen Anteil am Zimmerpreis haben kann. "Internet access?", erkundige ich mich an der Rezeption. "Of course!", entgegnet die junge Frau, und es klingt, als könne sie sich das gar nicht anders vorstellen. Wie angenehm ist es doch jedes Mal, wenn man auf Gleichgesinnte trifft!
Ein Spaziergang durch den Ort, und wieder ist es derselbe Eindruck relativer Armut, den wir bereits in anderen Orten im schottischen Norden hatten. Schotten seien geizig, heißt es, und jeder kennt Witze, die in diese Kerbe hauen. Aber Äußerungen wie diese sind bösartig, denn man könnte die Schotten auch als sparsam bezeichnen, so wie wir es bei unseren Schwaben tun, und schon hätte man das Negative ins Positive gewendet. Sparsam, weil ihre Heimat rau und gelegentlich gar feindselig ist, weil sie ihre Bewohner nicht mit Reichtümern verwöhnt, und das Leben in ihr den äußeren Bedingungen immer wieder abgetrotzt werden muss. Wenig Extravaganz, aber viel Hemdsärmel aufkrempelnde Bodenständigkeit - das ist es, was wir im schottischen Norden immer wieder gefunden haben, und hier in Stornoway ist es nicht anders. Die Häuser sind schlicht und oft grau, die Auslagen in den Geschäften zumeist langweilig und bieder, die Kleidung der Menschen entbehrt jener fröhlichen, gelegentlich auch schrillen Farbigkeit, die man in südlichen Ländern oft antrifft. Neugierig auf unser Zuhause für ein paar Tage, schlendern wir durch die mit farbigen Wimpeln geschmückte Fußgängerzone, setzen uns in ein Café - gemütlich, mit leckerem Kuchen - und schauen später bei einem Thai vorbei, gutes Essen, aber kein Bier, sorry, we have no license, was die Insider bereits wissen, weshalb sie sich Bier und Wein mitgebracht haben. Danach ein Bummel zum Hafen, aber dort ist es tot um diese Zeit, deshalb weiter zu einem Gebäude, das sich so gar nicht in das traditionelle Ortsbild einfügen will. "An Lanntair" steht über dem Eingang, ein Kommunikationszentrum, das sich die Bewohner von Stornoway vor ein paar Jahren geleistet haben. Ein Ort, an dem man sich trifft, miteinander redet und isst und trinkt, ein paar Verkaufsstände für Produkte des örtlichen Handwerks und an den Wänden Bilder, in denen sich die Region präsentiert: vor allem Fischerei, ein wenig Ölindustrie, der legendäre Harris Tweed und die Verarbeitung von Algen, dazu Kultur, nicht zuletzt jene Veranstaltungen, in denen die gälische Sprache gepflegt wird, die in diesem Teil Schottlands auch heute noch sehr lebendig ist. "Steòrnabhagh" steht auf einem Plakat, der gälische Name für Stornoway. Auf einem weiteren Plakat entdecken wir ein Gesicht, das uns bekannt vorkommt, jedoch hilft uns der aufgedruckte Name Hans Matheson nicht weiter. Hilfe bringt Google: ein Sohn Stornoways, ein Schauspieler, der in der 2002er Verfilmung von "Doktor Schiwago" den Jurij Schiwago gespielt hat. Aha!
 
 
Die nächsten Tage gehören Ausflügen auf den beiden Inseln Lewis und Harris, die so reich an großartiger Landschaft sind, dass ich ihnen irgendwann einen eigenen Bericht widmen werde. Als nach einer knappen Woche der Abschied naht, sind wir beinahe ein wenig traurig. Doch da meldet sich das Wetter: "Ihr braucht nicht traurig zu sein!", grummelt es hinterhältig, und an dem Abend, bevor uns "Caledonian MacBrayne" wieder aufs Festland bringen soll, verschlechtert es sich. Erst Wind, dann ein aufziehender Sturm, dann Stärke 10 mit der Folge, das kein vernünftiger Mensch auf den Straßen unterwegs ist und kein Kapitän sein Schiff aufs offene Meer lenkt. Auch der Kapitän unseres Fährschiffs nicht, wie uns die Ticketverkäuferin am Anleger mitteilt. Erst am nächsten Tag werde wieder ein Schiff abgehen, sagt sie und fügt achselzuckend hinzu, vorausgesetzt, das Wetter ändere sich. Unsere erste Reaktion ist Verärgerung. "Aber unser Programm!", lamentieren wir. "Wir haben uns für die nächsten Tage noch einiges vorgenommen!" Doch bereits, als wir zu unserem Hotel zurückkehren - uns dabei gegen den Wind stemmend und darauf bedacht, Ästen und umherfliegenden Müllsäcken auszuweichen -, schalten wir runter. Unsere Hausärztin würde dieses Phänomen wohl mit den Worten "Offensichtlich schon erholt!" kommentieren. Und so ziehen wir uns denn in unser gemütliches Zimmer zurück, lesen, essen und trinken, und während der Sturm am nächsten Morgen immer heftiger heult, genießen wir noch ausgiebiger als gewöhnlich das Frühstück, das in unserem Hotel besonders üppig ausfällt. Die folgende Aufzählung soll denjenigen vermitteln, worum es geht, die ein schottisches Frühstück nicht kennen: Cereals, also Körner und Flocken in jedweder Form, Orangensaft, Porridge (ein Haferbrei, der nicht jedermanns Geschmack ist, wohl aber unser), angereichert mit eingeweichten Pflaumen und Grapefruitfilets, Smoked Haddock (geräucherter Schellfisch), Kippers (Bücklinge) und schottischer Lachs mit Rührei, dann das übliche Set aus Eiern und Bacon, gegrillten Würstchen, einer Tomate und Champignons, beides ebenfalls gegrillt, weiße Bohnen in Tomatensoße und Black Pudding (gebratene Blutwurstscheiben). Es folgen Toasts und Croissants mit Orangenmarmelade, die in Großbritannien so gut schmeckt wie nirgends auf der Welt. Und für davor, danach oder dazwischen und für den Fall, dass wir immer noch nicht satt sind, stehen Käse und Schinken sowie Obstsalat, Muffins und Joghurts bereit. Dazu gibt es Tee (English Breakfast Tea, of course) und Kaffee, den man auch im Land der Teetrinker vorzüglich zuzubereiten versteht. Und während draußen der Sturm an den Fenstern rüttelt und der Regen über die Straßen peitscht, sitzen wir trocken, wohlig und warm bei Lukullus am Tisch. That's Scotland!