Mykerinos - na und?
Die Berliner Schnauze und eine ägyptische Pyramide. 1980
 
Dass wir Berliner die Größten sind, weiß jeder. Nun gut, nicht unbedingt was unsere Taten anbelangt. Aber was unsere Klappe betrifft, da kann uns so schnell keiner was vormachen. "Berliner Schnauze" steht auf den Ansichtskarten, die auf dem Kudamm und am Alex an die Touristen verkauft werden, und wenn daneben ein Herz aufgemalt ist, dann wirkt das sogar irgendwie sympathisch. Alle schmunzeln, und dem Berliner wird sein loses Mundwerk verziehen. Lassen wir die Frage offen, woher diese Mentalität stammt - dass sie existiert, dieses "Was-kostet-die-Welt?", dieses "Uns-kann-keener-aber-uns-können-alle!", das kann jeder bezeugen, der sich auch nur einen Tag in der Stadt aufgehalten hat. Die Schnauze gehört zum Berliner wie die Sturheit zum Mecklenburger, eine gewisse Unterkühltheit zum Hamburger oder die Weißbiergeselligkeit zum Bayern. Und was in einem drin steckt, das legt man nie ab, auch dann nicht, wenn man auf Reisen ist. So wie ich 1980 in Ägypten.
 
 
Veranstaltungen im Rahmen einer deutsch-ägyptischen Begegnung, organisierte Stadtrundfahrten, eine Führung durch das Ägyptische Museum, eine Fahrt zu den Pyramiden von Gizeh - und dann endlich, endlich ein wenig freie Zeit, die auf einer straff durchgeplanten Gruppenfahrt so wohltuend wirkt wie ein paar Aspirin nach einer durchzechten Nacht. Kaum sind die letzten Worte des Pyramiden-Erklärers verklungen, da kehren wir der Gruppe auch schon den Rücken. Wir - das bin ich, und das ist Bruno, den ich erst auf dieser Reise kennen gelernt habe, der aber genau so tickt wie ich, weshalb wir am Ende der Führung ein Paar sind. "Ob man auf die Dinger raufklettern kann?", fragt er mich. Mein Blick schweift über die drei Pyramiden: die große von Cheops, 139 Meter hoch, die beinahe gleich große von Chephren und die kleine des Pharaos Mykerinos, die gerade einmal 62 Meter misst. Wären die Außenseiten der Pyramiden noch so glatt wie zur Zeit ihrer Erbauung, so käme eine Besteigung nicht in Betracht. Doch die Verkleidung ist bis auf spärliche Reste verschwunden. Heute sehen die Bauten aus, als hätten Riesenkinder Würfel aus einem Riesenbaukasten stufenförmig übereinandergesetzt. Warum also sollte man da nicht raufklettern können? "Klar können wir das", antworte ich, "aber ob wir es dürfen?" Ich denke einen Augenblick nach, aber eigentlich ist das überflüssig, denn die Begeisterung für diese Idee hat mich bereits gepackt. "Wir können ja mit Mykerinos anfangen", sage ich. - "Es gibt Wächter", erklärt Bruno, "die sollen darauf aufpassen, dass niemand die Dinger besteigt. Allerdings werden sie so schlecht bezahlt, dass sie sich Geld dazuverdienen, indem sie die Leute raufklettern lassen." Eine Minute später stehen wir vor einem dieser amtlichen Aufpasser und deuten mit einer Handbewegung nach oben. Nein, sagt der Mann auf Arabisch, eine Sprache, die wir nicht verstehen, aber die Art, wie er es sagt, ist eindeutig. Ich hole mein Portemonnaie hervor und entnehme ihm einige Münzen. Er wiederholt das Wort, worauf ich nachlege. Sein Blick hängt an meinem Portemonnaie. So ähnlich müssen die Nilkrokodile in pharaonischen Zeiten die liebreizenden Jungfrauen fixiert haben, bevor ihnen diese zum Fraß vorgeworfen wurden. Bruno erhöht den Einsatz, erst ein Mal, dann ein zweites Mal, schließlich nimmt der Wächter das Geld und wendet sich ab mit einer Geste, die besagt: Macht, was ihr wollt!
Und genau das machen wir. Die Pyramide misst 102 Meter in der Länge, 105 Meter in der Breite und besteht aus einigen Hunderttausenden großer Steinblöcke, jeder von ihnen etwa 1 Meter hoch. Ein gigantischer Steinhaufen also, bei dem wir uns nicht recht vorstellen können, wie er zusammengefügt wurde. Allerdings ist das auch nicht unser Problem - unsere Aufgabe ist es, die einzelnen Stufen zu erklimmen, und das ist gar nicht so leicht. Denn mögen die Stufen auf Bildern auch klein aussehen, wenn man direkt vor ihnen steht, hat man einen ganz anderen Eindruck. Aber wir sind ja Berliner, so sagen wir uns, warum sollten wir nicht schaffen, was die Erbauer der Pyramide vor ein paar Jahrtausenden geschafft haben! Also die Hände auf den ersten Steinblock gelegt, den Körper hochgestemmt, ein Knie auf den Block gezogen, aufgestanden, und schon haben wir die erste Stufe bezwungen. Wir schütteln Sand von den Händen und nicken uns zu: Eine Kleinigkeit, dieses Pyramide, da sind wir schneller oben als Mykerinos' Handwerker gebraucht haben, um auch nur die erste Hieroglyphe seines Pharaonennamens in eine Kartusche zu meißeln! Die Hände auf den nächsthöheren Block gelegt, den Körper hochgezogen, Knie aufgestützt und schon stehen wir auf der zweiten Stufe. Der Wächter kassiert derweil Geld von drei Mädchen, die ihn so nett anhimmeln, dass der von ihnen zu entrichtende Preis vermutlich deutlich unter unserem liegen wird. Aber das ist uns egal - Mykerinos ist bezahlbar, und außerdem soll er ein Erlebnis sein, von dem wir noch unseren Enkeln erzählen. Also weiter auf die dritte Stufe: hochstemmen, Beine nachziehen und gleich im Anschluss mit Verve auf die vierte. Der Wächter sieht jetzt schon etwas kleiner aus, ebenso die Männer mit den Kamelen, die am Fuß der Pyramide auf Kunden warten, und am Horizont tauchen bereits die ersten Gebäude von Kairo auf. (Heute ist die Stadt bis fast an die Pyramiden herangewachsen.) Ein aufmunterndes "Weiter!" von Bruno, dann ein Anlauf auf die Stufen fünf, sechs und sieben, wo ich aufhöre zu zählen. Schließlich wollen wir die Pyramide nicht vermessen, wir wollen auf die Spitze, und dazu müssen wir nach jedem Block eben noch einen Block höher. "Schau mal, die Sphinx!", ruft Bruno. Müsste er nicht eigentlich "der Sphinx" sagen, geht es mir durch den Kopf? So jedenfalls steht es im Reiseführer. Doch ich will nicht pingelig sein, und deshalb richte ich meinen Blick kommentarlos auf sie oder auf ihn und bemerke bei dieser Gelegenheit, dass wir uns schon ein gutes Stück über diesem Mensch-Löwe-Mischwesen befinden. Und ich bemerke, und das zum ersten Mal, dass es bis zur Spitze noch ein gutes Stück ist, einiges mehr, als es von unten den Anschein hatte. Aber ach, wische ich den Gedanken gleich wieder beiseite, was ist schon diese Pyramide! Wir sind Berliner, und als solche gewissermaßen Ägypten-Spezialisten, schließlich haben wir ein ägyptisches Museum, nicht so groß wie das in Kairo, zugegeben, aber dafür haben wir die Nofretete. Und überhaupt - wir sind jung, wir sind top-fit, also weiter. Det wär doch jelacht!
 
 
Wir klettern auf die x-te Stufe, auf die danach und auf die darüber, und irgendwann drehe ich ein weiteres Mal den Kopf, um zu sehen, was wir bereits geschafft haben. Als ich den Blick nach unten richte, entfährt mir ein erschrockenes "Ohh!" - "Was ist?", ruft Bruno. Nichts, will ich entgegnen, aber das Wort bleibt mir im Hals stecken, denn der ist auf einmal ganz trocken. Ich erinnere mich an die Beschreibung im Reiseführer: Danach beträgt der Böschungswinkel der Mykerinos-Pyramide 51°, allerdings habe ich mir unter einem Böschungswinkel von 51° zum Zeitpunkt des Lesens nicht viel vorstellen können, es hat mich auch nicht wirklich interessiert. Doch jetzt, wo ich hier oben stehe und nach unten schaue, jetzt interessiert dieses Thema mich sehr. 90° sind ein rechter Winkel, daran erinnere ich mich aus der Schule, also sind 51° eigentlich gar nicht so viel. Aber wer weiß, vielleicht hat sich der Reiseführer geirrt und der tatsächliche Winkel beträgt 60° oder 70° oder gar mehr? Auf jeden Fall sieht es verdammt steil aus. Viel steiler, als ich es mir jemals hätte vorstellen können. Ich drehe mich zu Bruno um. "Von hier aus hat man eigentlich auch schon einen guten Ausblick, da müssen wir gar nicht bis auf die Spitze. Und außerdem wollen wir nachher noch etwas unternehmen, also sollten wir jetzt vielleicht umdrehen ..." Noch während ich die Worte ausspreche, taste ich mich bereits mit einem Bein abwärts, vorsichtig, sehr vorsichtig, dabei auf einem Block sitzend, die Hände nach hinten gestreckt, um den Schwerpunkt des Körpers möglichst nahe an der Pyramide zu halten. Erst in diesem Moment wird mir so richtig bewusst, dass auf den Steinblöcken loses Geröll liegt und feiner Sand, der den Händen keinen festen Halt gibt sondern sie rutschen lässt, und das genau in die falsche Richtung. In die Richtung nach unten. Schlagartig ist jedes "Mykerinos - na und?" verschwunden, und ich verspüre Angst, ja mehr noch: ich verspüre eine Angst, wie ich sie bis dahin in meinem Leben noch nicht kannte. Ich befinde mich in diesem Augenblick auf halber Höhe der Pyramide, also etwa 30 Meter über dem Boden, vor mir liegt ein steiler Abstieg über große Blöcke und auf rutschigem Sand, kein Geländer, kein Seil, keine Hilfe, während vom Fuß der Pyramide ein paar Touristen mit Fotoapparaten zu mir heraufschauen, vielleicht um Zeuge zu werden, wie ich herabfalle wie eine Traube Datteln von einer Palme. Das Herz klopft mir bis zum Hals, als ich mich tastend auf die nächsttiefere Stufe hinablasse. Wo Bruno ist, weiß ich in diesem Moment nicht, es interessiert mich auch nicht, ich weiß nur noch, dass ich so schnell wie möglich nach unten will. Dass ich mein Leben noch nicht beenden will - nicht hier in Ägypten, nicht hier auf dieser Pyramide und nicht durch die Schuld dieses elenden geldgierigen Wächters, der mich skrupellos in eine solche Lage gebracht hat. Eine Stufe nach unten, ich wische mir den Schweiß von der Stirn, zwei, drei weitere, dann nehme ich meinen Mut zusammen, auch wenn nicht mehr viel davon übrig ist, und mache ein paar schnelle Bilder zur Erinnerung. Für den Fall, dass ich unten heil ankommen sollte, was in diesem Augenblick allerdings noch keineswegs ausgemacht ist, denn noch habe ich etliche Steinblöcke vor mir, über die ich mich mit derselben Feinfühligkeit bewegen muss wie ein Soldat in einem Minenfeld. Aus dreißig Metern werden zwanzig, dann fünfzehn, dann zehn, schließlich noch weniger, denn der Wächter, der gerade wieder ein paar Münzen einstreicht, erscheint mir nun schon recht groß. Ein paar Stufen noch, dann stehe ich am Fuß der Pyramide.
 
Erleichterung durchflutet mich mit Macht, und das Wort vom "neu geboren" drängt sich in meinen Kopf. Gleich darauf empfinde ich Verärgerung. Ein Schild, denke ich, warum haben sie kein Schild aufgestellt mit einer Warnung für Menschen mit Höhenangst und solche, die nicht schwindelfrei sind! Ich blicke nach oben. Bruno steht auf der Spitze der Pyramide und winkt mir zu. Ich winke zurück, neidisch, enttäuscht, und plötzlich erfasst mich abermals ein neues Gefühl: Vielleicht wäre es doch nicht so schlimm gewesen bis nach oben, immerhin hatte ich die Hälfte bereits hinter mir, und außerdem ... wenn die Erbauer es schafften und andere Touristen, warum hätte ich es nicht schaffen sollen? Ich verschränke die Arme vor der Brust, und frisches Selbstbewusstsein strömt in mich hinein. Zugegeben, ein wenig schwindlig war mir schon, 30 Meter sind ja auch keine Kleinigkeit, aber so richtig schlimm war es nicht, und außerdem war es ein tolles Erlebnis. Nein, eigentlich ... eigentlich bin ich mir sicher, dass ich den Rest auch noch geschafft hätte. Vorausgesetzt, ich hätte es nur richtig gewollt. Aber geschafft hätte ich es auf jeden Fall, das weiß ich. Schließlich bin ich ein Berliner!