Ciao Roma!
Touristen prägen das Bild der Ewigen Stadt. 2013
 
Es ist eine Szene wie von einem anderen Stern: Eine Frau geht durch menschenleere Gassen, es ist Nacht, die einzigen Geräusche, die man hört, sind ihre eigenen Worte und das Schnurren eines Kätzchens, mit dem sie spielt. Als sie um eine Ecke biegt, steht sie auf einmal vor einem Brunnen und stößt einen Laut der Überraschung aus. Wie sie in den Brunnen hineinsteigt, das sehen wir nicht, aber wie sie sich in ihm bewegt, das sehen wir sehr wohl - geschmeidig dahingleitend wie in einem Rausch, die langen blonden Haaren in den Nacken geworfen, mit lasziven Gesten die üppigen Rundungen ihres Körpers betonend.  Mit verführerischer Stimme ruft sie den Mann, der sich auf einer Bank niedergelassen hat und sie beobachtet. Er steigt ebenfalls in den Brunnen, stellt sich vor sie, während sie schwelgerisch mit geschlossenen Augen den Kopf hin und her wendet, im Hintergrund plätschert das Wasser, weiches Licht fällt auf ihren Körper, und auf der ganzen weiten Erde gibt es nur sie und den Mann und den Brunnen. Plötzlich hört das Wasser zu fließen auf. Der Mann ergreift ihre Hand, und gemeinsam streben sie dem Rand des Brunnens zu, nicht weit entfernt ein Radfahrer, der angehalten hat und ihnen zusieht. Ansonsten Ruhe, nichts weiter als die nächtliche Ruhe einer Stadt, die im Schlaf liegt.
 
 
Die Szene stammt aus dem Film "La Dolce Vita" von Federico Fellini, die Frau ist Anita Ekberg, der Mann Marcello Mastroianni, und bei dem Brunnen handelt es sich - na klar! - um die Fontana di Trevi, den Trevi-Brunnen in Rom. Das war 1960, eine Idylle inmitten der Millionenstadt, Romantik pur an einem Ort, wie er großartiger kaum gedacht werden kann. Im Jahr 2013 sieht das ganz anders aus - für uns jedenfalls, die wir keine berühmten Schauspieler sind sondern nur einfache Touristen, zwei von Millionen, die in jedem Jahr über die Stadt Rom herfallen wie ein Heuschreckenschwarm und dabei auch über eine ihrer herausragendsten Sehenswürdigkeiten, eben jene Fontana di Trevi. Zahllose Menschen umlagern den Brunnen, sie richten ihre Kameras und die Kameras ihrer Smartphones auf ihn und werfen Münzen hinein, weil es Glück bringt ("Three Coins in the Fountain"), zumindest der Caritas bringt es Glück, rund 600.000 € im Jahr, die von städtischen Bediensteten eingesammelt und guten Zwecken zugeführt werden. Das alles geschieht unablässig und es ist erlaubt. Doch sollte jemand auf die Idee kommen, auch nur mehr als einen Finger in das Brunnenwasser zu tauchen, gar nicht zu reden vom ganzen Körper, wie Anita Ekberg es tat, so sähe er sich im Handumdrehen mit der an diesem Ort ständig präsenten Staatsmacht konfrontiert, die - wir haben es erlebt - auch bei kleinsten Verstößen kein Pardon kennt.
 
Aber wie sollte das auch anders sein in einer Stadt, die so voll von Touristen ist, wie wir es noch in keiner anderen Stadt jemals erlebt haben! Es ist Ende April, als wir dort sind, neben dem Herbst wohl die beste Reisezeit für Rom, und deshalb wimmelt und wuselt es überall, allein und als Paare und in Reisegruppen bevölkern sie die Straßen, Gassen und Plätze zwischen dem Petersdom und dem Kolosseum, schieben sich von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten, sitzen während der Mittagszeit in gefühlten hunderttausend Pizzerien bei Spaghetti und Pizza, belagern die Spanische Treppe, die als Treppe vor lauter Menschen kaum noch zu erkennen ist und bilden Schlangen vor jedem Bauwerk, das in den Reiseführern mehr als einen Stern hat. Und davon gibt es in der Stadt am Tiber nicht wenige. Rom - das ist die wohl einzigartige Situation einer Stadt, deren Tourismus gleich auf drei Standbeinen steht: Mittelpunkt eines Weltreichs vor rund 2000 Jahren, Zentrum einer Weltreligion mit dem Papst an der Spitze (auf beide werde ich in späteren Berichten eingehen) und obendrein die Hauptstadt eines Landes, die in dieser Funktion ebenfalls Highlights hervorgebracht hat. So vor allem das Nationaldenkmal für die Einigung Italiens im 19. Jahrhundert, von den Italienern zumeist Vittoriano genannt. Ein Denkmal von so gigantischen Ausmaßen, dass es spielend mit den gigantischen Bauwerken der früheren Vergangenheit Schritt hält und das bei einem Rundblick über die Stadt, wo immer man auch steht, nicht zu übersehen ist. Außer, man steht auf ihm selbst - nachdem man es bezwungen hat wie einen Berg, den größeren Teil davon zu Fuß, den Rest mittels eines Fahrstuhls bis auf die obere Plattform, von der aus man einen grandiosen Blick über die Stadt hat. Zu Füßen das Herz der einstigen Weltmacht mit dem Forum Romanum und dem Kolosseum, in der entgegengesetzten Richtung die Gegend um die Via del Corso mit den schicken und teuren Geschäften, ein Stück weiter die riesige Kuppel, mit der Michelangelo den Petersdom krönte, die Kirche des Papstes, der seit kurzem Franziskus heißt und der zweifellos auch seinen Anteil daran hat, dass die Stadt in diesen Tagen so unsäglich voll ist.
Als wir vom Nationaldenkmal herabsteigen - ja eigentlich herabwandern, denn es dauert lange -, überfällt uns auf einmal der Gedanke, warum wir in Berlin nicht ein ebensolches Denkmal haben. Verlief doch die deutsche Geschichte ähnlich wie die italienische, als die "verspätete" Bildung eines Nationalstaats gegen Ende des 19. Jahrhunderts, eines Zusammenschlusses bis dahin selbständiger Königreiche, Fürstentümer usw. zu einem größeren politischen Gebilde, das im Konzert der traditionellen Großstaaten mithalten konnte. Warum, so fragen wir uns, sollte den Deutschen damals nicht recht gewesen sein, was den Italienern zur selben Zeit billig gewesen war. Aber außer dem Niederwalddenkmal bei Rüdesheim, das der deutschen Einigung von 1871 gedenkt, gibt es nichts, was sich mit dem Vittoriano der Italiener vergleichen ließe. Eine Anwort auf unsere Frage finden wir nicht. Ebenso wenig wie eine Antwort auf die Frage, was die Italiener veranlasst hat, ein derart gigantisches Denkmal zu errichten, von dessen Ausmaßen man schier erschlagen wird.
 
Touristen, Touristen, Touristen - auch am letzten Tag unseres Aufenthaltes in Rom ist es nicht anders. Es ist ein Sonntag. Nach Tagen mit durchwachsenem Wetter zeigt sich endlich die Sonne, und alle Einwohner der Stadt sowie sämtliche Besucher scheinen gleichzeitig auf den Beinen zu sein. Auf einen letzten Abstecher zum Trevi-Brunnen verzichten wir, der dürfte vor Menschen kaum zu sehen sein. Stattdessen wenden wir uns noch einmal in Richtung der Piazza Navona, jenes großartigen Platzes, der nicht weit von unserem Hotel entfernt liegt. Unser Weg führt am Parlament vorbei, wo an diesem Tag noch mehr Polizei anwesend ist als gewöhnlich. Der Grund: Nach wochenlangen Querelen gibt es endlich eine neue Regierung unter dem Ministerpräsidenten Enrico Letta, und genau zu dieser Stunde wird sie im nahegelegenen Quirinalspalast, dem Sitz des Staatspräsidenten, vereidigt. Wir biegen auf den Platz vor dem Parlament ein, gehen an einem halben Dutzend Carabinieri vorbei, die miteinander reden und lachen und dabei das sonntägliche Treiben beobachten, und als wir gerade mal 20 Meter von ihnen entfernt sind, hören wir auf einmal in unserem Rücken einen Knall. Wir ignorieren ihn, vielleicht die Fehlzündung eines Motors, aber schon im nächsten Augenblick ertönt ein zweiter Knall, danach weitere, wir halten inne und schauen uns um und sehen, wie einer der Polizisten, an denen wir eben vorbeigegangen sind, zu Boden stürzt. Schlagartig begreifen wir, was geschieht. Um uns herum bricht Hektik aus, Polizisten stürmen herbei, um ihren Kollegen zu helfen, die Passanten, die gerade noch so gemächlich umherspazierten, hetzen in alle Richtungen davon, wir ebenfalls, denn wer kann schon wissen, was in einer solchen Situation als Nächstes geschieht. Vielleicht ist es "nur" die Tat eines Einzelnen, vielleicht aber der Auftakt für mehr, also nehmen wir unsere Beine in die Hand und flüchten. Beim Eingang zum Parlament suchen wir Schutz, aber die Tür ist geschlossen, also rennen wir weiter zum Ende des Platzes und in eine Gasse hinein. Schon ertönen Polizeisirenen, erst aus einer Richtung, dann auch aus anderen, während wir in einem Bogen um den Tatort herum zu unserem Hotel zurücklaufen. Vergessen ist der letzte Ausflug, wir hätten ohnehin nur noch zwei Stunden gehabt, also das Gepäck in ein Taxi, dann in einen Bus und durch das Gewimmel der sonntäglichen Stadt zum Flughafen. Als wir dort ankommen, scheint es bereits festzustehen: Ein einzelner Mann hat auf die Polizisten geschossen, zwei wurden verletzt, einer davon lebensgefährlich, außerdem eine Schwangere, die wie wir zufällig am Ort war. Also keine Organisation und auch nicht der Auftakt für weitere Anschläge. Aber wer weiß das schon, wenn es losgeht.
 
 
Was Fülle heißt, erfahren wir ein letztes Mal auf dieser Reise am Flughafen mit seinen zahlreichen Ankünften und Abflügen, die scheinbar ohne jede Pause den einen Schwung Neugieriger gegen den nächsten austauschen. Als wir ein paar Stunden später in Berlin landen, ist es wesentlich ruhiger, und das, obwohl der Flughafen Tegel wegen der Pannen beim neuen Airport BER am Rand seiner Kapazitäten arbeitet. Doch Berlin ist nicht Rom. So schön die Stadt auch ist, in der wir leben, und so viel sie zu bieten hat, aber Rom - das ist eine ganz andere Liga. Schon die Frage, in welchen Berliner Brunnen Anita Ekberg und Marcello Mastroianni hätten steigen sollen, hätte Fellini seinen Film an der Spree gedreht, macht diesen Unterschied deutlich.
 
 
Der nächste Bericht auf reiselust.me erscheint voraussichtlich am
Samstag, den 20. Juli 2013