Shopping in 4.000 Geschäften -
der Große gedeckte Basar in Istanbul ist ein Markt der Superlative. 2010
 
Da stehen wir vor einem der 22 Eingangstore des Großen Basars in Istanbul - Kapali Carsi, wie er auf Türkisch heißt - und schauen uns verblüfft an: Das Tor ist geschlossen. Kein Hinweis auf ein unvorhergesehenes Ereignis, keine aufgebrachten Kunden, die ihrer Verärgerung Luft machen, weil man sie nicht einlässt - nichts. Das Tor ist verriegelt, und wir sind die einzigen, die es anstarren. Wir überlegen. "Vielleicht", beschleicht mich ein Gedanke, "liegt es ja daran ..." - "... dass heute Sonntag ist", vollendet Karin meinen Satz. Bingo! Wir haben ins Schwarze getroffen! Moslems und der heilige Freitag gehören zusammen, wie jeder weiß, aber wir sind hier nicht in irgendeinem beliebigen islamischen Land, wir sind in der Türkei, und in diesem Land ist der arbeitsfreie Tag der Sonntag. Seit 1935 ist das so, seit Mustafa Kemal Atatürk, der "Vater der modernen Türkei", seinen Landsleuten in Angleichung an Europa den freien Sonntag verordnet hat.
 
Am Montag dann ein zweiter Anlauf, und diesmal ist alles ganz anders. Das Tor ist weit geöffnet, die Kunden strömen, und vor uns tut sich jenes riesige Einkaufsparadies auf, das wir den vollmundigen Verheißungen unseres Reiseführers entsprechend erwartet haben. Zu beiden Seiten einer mit türkischen Fahnen geschmückten Straße, deren Ende sich in unbestimmter Entfernung zwischen den Auslagen der Händler verliert, reiht sich ein Geschäft an das andere, viele nur wenige Quadratmeter groß, aber dennoch so vollgestopft mit Waren, dass das Angebot eines mittelgroßen deutschen Kaufhauses in ihnen Platz hätte. Nur verhalten dringt Tageslicht durch die Kuppeln des vollständig überdachten Basars, was indes nicht weiter auffällt, denn der Basar schafft sich sein eigenes Licht. Was unzählige Lampen und Lämpchen ausstrahlen, wird von Messinggeschirr und Kupferkesseln, von Gold- und Silberschmuck und von blank polierten Spiegeln tausendfach reflektiert, bevor es auf bemalte Keramiken und bunt gemusterte Stoffe, auf die farbenfrohen Auslagen der Gewürzhändler und der Verkäufer von Süßigkeiten trifft, eine Orgie von Gegenständen und Farben, die den Besucher unwiderstehlich in diese ganz eigene Welt hinein zieht, die mit dem brodelnden Verkehr in den Straßen der Millionenstadt, mit dem beständigen Hasten der Passanten und dem nervösen Gehupe der Autofahrer nichts mehr zu tun hat. Die Mannigfaltigkeit der Gerüche tut ein Übriges, hinzu kommt das Gewirr zahlloser Stimmen, meist sind es türkische Worte, die an unsere Ohren dringen, aber da der Basar eine der Hauptattraktionen Istanbuls ist, hört man auch alle anderen Sprachen der Welt. Es ist eine Stimmung, der sich kein Besucher entziehen kann, denn wo, wenn nicht hier, ist man dem Orient am nächsten!
 
 
Mehr als 500 Jahre ist der Basar alt. Seine Anfänge reichen in die Zeit kurz nach dem Jahr 1453 zurück, jenem Schicksalsjahr, in dem die Türken die damals noch Konstantinopel genannte Stadt eroberten und damit dem rund tausendjährigen Byzantinischen Reich den Garaus machten. Ein erster Bau im osmanischen Stil entstand, zunächst aus Holz, später aus Stein, der nach etlichen Feuersbrünsten und mehreren Erdbeben immer wieder neu und jedesmal größer aufgebaut wurde. Es war ein Basar, der einerseits der Versorgung der Bevölkerung diente, der durch seine aufwändige Bauweise aber zugleich dem Repräsentationsbedürfnis der herrschenden Sultane entsprach, deren Palast Topkapi Serail sich ebenso wie die Hagia Sophia und die Blaue Moschee nur ein paar hundert Meter entfernt befanden. Und der auch heute noch beeindruckt: Beinahe 4.000 Geschäfte drängen sich auf einer Gesamtfläche von rund 31.000 qm, das entspricht einem Areal von mehr als vier Fußballfeldern. Durch die bereits erwähnten 22 Tore gelangt der Besucher in die Anlage, mehr als 60 Straßen führen ihn hindurch, alle nach Branchen gegliedert, wie das bei orientalischen Städten üblich ist. So findet man etwa die Teppichhändler am Halici Sokagi, während sich in der Kalpaksilar Basi Caddesi ein Schmuckhändler an den anderen drängt. Brunnen übernahmen die Versorgung mit Wasser, Restaurants und Cafés warteten und warten auch heute noch mit allerlei Köstlichkeiten auf, nicht nur für die rund 20.000 Händler, die hier ihren Geschäften nachgehen, sondern ebenso für deren Kunden, eine halbe Million Menschen, die Tag für Tag - außer an Sonntagen - durch die Basarstraßen schlendern. Natürlich fehlt auch eine Moschee nicht, ebenso wie eine Polizeistation, eine Post, Lagerhäuser und Banken - eine Stadt in der Stadt also, und zwar eine, die sich ständig verändert und nie fertig sein wird. Immer wieder kommt Neues hinzu: illegale Hütten und Verschläge auf den Dächern, Abstellräume in Hinterhöfen, und wem sein Geschäft zu klein geworden ist, der baut es um, oft an den Behörden vorbei, um ein paar zusätzliche Quadratmeter Kauffläche für seine Kunden zu erschließen.
Traditionelle Kleidung und moderne, Schuhe und Taschen, Seidenschals, Baumwolltücher für das Hamam, das traditionelle Dampfbad - wer hier nicht das Passende findet, der wird sich auch an anderen Orten schwer tun. Von Touristen gern fotografiert werden die vielfarbigen Keramiken und die Lampen aus gefärbtem Glas, keine Kunstwerke zumeist, aber farbenfroh und schön anzusehen. Auch ein paar Frauen können sich der Anziehungskraft nicht entziehen, drei Meter vor einem Geschäft bleiben sie stehen, aber das reicht dem Händler, um auf sie zuzugehen. Mit sicherem Gespür für ihre Herkunft - eine Fähigkeit, die uns auch bei anderen Händlern immer wieder erstaunt - spricht er die Frauen auf Deutsch an, mit einer Klangfärbung, die auf das Ruhrgebiet schließen lässt. Ein erster Witz entlockt ihnen ein Lächeln, mit einem zweiten zieht er sie an seinen Stand, als hielte er einen Magneten in der Hand. Offenbar sind diese Kundinnen eine seiner leichteren Übungen, denn nach nicht einmal zehn Minuten halten drei von ihnen jeweils ein Päckchen in der Hand. Auf ein Fingerschnipsen des Händlers bringt ein Junge den Frauen Gläser mit Tee, stark und so süß, wie die Türken ihn schätzen - ein untrügliches Zeichen, dass sich das Geschäft für den Händler sehr gelohnt hat. Zwar nimmt das Thema "Feilschen im Basar" in jedem Reiseführer einen nicht unerheblichen Platz ein, doch nicht jeder, der die Anleitung liest, bringt es anschließend auch zur Perfektion. Aber vielleicht haben die Frauen ja trotzdem ihren Spaß an dem Handel gehabt, denken wir und beobachten, wie sie freudig miteinander plaudernd weiter gehen. Anders erleben wir es wenig später ein paar Straßen weiter an einem Stand mit Backgammon-Spielen, ein Kunde und ein Verkäufer, beide sichtlich schlechter Laune, weshalb sie miteinander kommunizieren, als würden sie im nächsten Augenblick einen Krieg gegeneinander beginnen. Alltag im Basar - mal geht es leicht, mal schleppend, und manchmal geht es halt überhaupt nicht.
 
Ein Kebab in einem Restaurant - "Hier sprich mann deutsch!" -, danach einer jener Mokkas, von denen mehr als drei Tassen Tote auferwecken können. Lange sind wir bereits im Basar unterwegs, und längst haben wir jede Orientierung verloren, auch jede zeitliche. Was von weitem interessant schien, wies uns den Weg. Schließlich sind wir an einem Tor angelangt. Wir verlassen den Basar, und unsere Blicke schweifen die Straße entlang. Rechts Läden, links Läden, gerade so, als gäbe es auf dieser Welt nichts anderes als Läden. Wir wollen uns schon umdrehen und zurück in den Basar gehen, als auf einmal lautes Geschrei unsere Aufmerksamkeit erregt. Neugierig folgen wir dem Lärm, und als wir um eine Ecke biegen, entdecken wir seine Quelle: Mitten auf der Straße parkt ein mit riesigen Säcken voll beladener LKW, darum herum bemühen sich etliche Männer, weitere Säcke auf dem LKW zu verstauen. Dass das Fahrzeug seine Kapazität bereits überschritten haben könnte, diese Frage scheint sich hier niemand zu stellen, allem Anschein nach geht es lediglich darum, wie man noch mehr Säcke aufladen kann. Ein Kreis Schaulustiger hat sich gebildet und quittiert jeden weiteren Sack mit einem anerkennenden Nicken. Ich wende mich an einen jungen Mann in der Hoffnung, er verstünde Englisch, und habe Glück. In den Säcken, so erklärt er mir, befänden sich Textilien, die im Basar hergestellt worden seien und die man nun zu den Abnehmern bringen wolle, zu Händlern im ganzen Land. Aber diese riesige Zuladung auf dem viel zu kleinen LKW, wende ich ein. Er hat meine Worte verstanden, dennoch schaut er mich irritiert an. No problem? frage ich und deute auf die Ladung. What problem? entgegnet er lächelnd. Und bevor ich meinen Einwand formulieren kann, sagt er es noch einmal, und sein Lächeln ist noch eine Spur breiter: What problem? Irgendwie habe ich das Gefühl, er will mir eins auswischen. Mir, dem an strenge Regeln und tausenderlei Bestimmungen gewöhnten Deutschen, als den er mich gewiss längst erkannt hat. Die Frage nach den Ursachen für die vielen Unfälle in der Türkei liegt mir auf der Zunge, doch ich beherrsche mich. Wir sind im Urlaub, der Mann ist nett, also schauen wir gemeinsam und ohne weitere Diskussion dem LKW hinterher, wie er ein paar Minuten später schwankend und hupend in den Gassen verschwindet.
 
 
Wir wollen uns gerade entfernen, als der junge Mann noch einmal das Wort an mich richtet. A dance on the vulcano, sagt er und deutet auf den Großen Basar in unserem Rücken. Very beautiful sei er, ein Einkaufsparadies und very interesting for the tourists. Das sehe ich auch so. Aber, fügt er hinzu, dieser Basar sei auch sehr gefährdet, very dangerous, ebenso wie die ganze Stadt, the whole town, denn in Istanbul - seine Hand beschreibt einen Kreis - hat es in der Vergangenheit immer wieder Erdbeben gegeben. Earthquake lautet das Wort im Englischen, es kommt ihm locker über die Lippen und lässt darauf schließen, dass er es schon häufig benutzt hat. Alle Fachleute, fährt er fort, rechneten mit einem Erdbeben in naher Zukunft, vielleicht heute, vielleicht morgen, maybe in five years or later. Aber dass es kommen werde - die Plattentektonik! -, das sei sicher. Und das werde auch Kapali Carsi, der Große Basar kaum heil überstehen: maybe it will be destructed. Worauf sein Gesicht einen traurigen Ausdruck annimmt. This beautiful bazaar, sagt er. Und davon überzeugt, dass das Schicksal unabwendbar ist, fügt er hinzu: unfortunately - leider!
 
Ein wenig deprimiert von seinen Worten wenden wir uns wieder dem Eingang in den Großen Basar zu. Vielleicht hat er ja Unrecht, denken wir, während wir uns erneut in den Strom der Besucher einreihen. Vielleicht können ja noch viele Generationen die Faszination dieses Ortes genießen. Hoffen wir es. Vielleicht.
 
 
Viele nützliche Informationen über den Großen Basar gibt es unter
 folgender Adresse:
http://www.tuerkeireiseblog.de/grosse-basar-istanbul/
 
Manfred Lentz
 
 
Die neuen Berichte auf reiselust.me erscheinen jeweils
am 1. und 15. jedes Monats