Der Eiffelturm -
das französischste aller französischen Wahrzeichen. Paris 2011
 
Der Eiffelturm ist exakt 164,6 m hoch. Gleich links neben ihm befindet sich der Louvre, zu seiner Rechten die Pariser Oper. Seine stählernen Pfeiler überspannen beide Gebäude. Die erste Plattform des Turms erreicht man mittels eines gläsernen Aufzugs, in ihr befindet sich ein Restaurant, eine der ersten kulinarischen Adressen der Stadt. Der Blick nach draußen geht auf Wasserspiele der besonderen Art - bis zu 140 m hohe Fontänen, die im Takt von Musik tanzen -, auf Palmen, deren Wedel sich im Wind wiegen, und nach Einbruch der Dunkelheit auf die unzähligen Lichter der Stadt. Und im Anschluss an einen Besuch im Restaurant? Vielleicht eine Fahrt in einer Gondel mit den Highlights Venedigs vor Augen und mit einem Gondoliere im Rücken, der mit schmachtender Stimme "O sole mio" singt? Oder lieber ein Bummel über die Brooklyn Bridge hinein in das Herz von New York?
 
Falsch? Ja und nein. Alle Angaben sich richtig, allerdings ist der hier beschriebene Eiffelturm nicht der, den man bei Nennung des Namens gemeinhin erwarten würde. Der hier beschriebene Turm ist eine Kopie im Maßstab 1:2, und er steht 9.000 Kilometer von seinem Original entfernt in den USA, im Bundesstaat Nevada, in ... na, wo wohl: natürlich in Las Vegas! Wie es in der Glücksspielstadt eine Anleihe an New York gibt und eine an Venedig (siehe Bericht 20), so gibt es auch eine Anleihe an Paris, und bei der handelt es sich unter anderem um den Eiffelturm. Hinter ihm befindet sich das Hotel, dessen Aushängeschild er ist, das "Paris Las Vegas", eine Touristenherberge mit beinahe 3.000 Zimmern. Und was den Ausblick aus dem Restaurant anbelangt: Die Palmen stehen auf dem Strip, der Hauptstraße von Las Vegas, bei den Fontänen handelt es sich um das computergesteuerte Wasserballett des Hotels "Bellagio".
Hier die Kopie, dort das Original. Letzteres ist doppelt so hoch und tausend Mal so bekannt, handelt es sich doch nicht nur um eine der größten Sehenswürdigkeiten von Paris, sondern um eines der bekanntesten Highlights weltweit. Jeder kennt den Eiffelturm, und viele haben ihn auch schon besucht - um genau zu sein: etwa 260 Millionen Menschen seit seiner Errichtung. Gegenwärtig liegt die Zahl der jährlichen Besucher bei fast sieben Millionen, er ist eine Attraktion, ohne den zu besuchen sich die meisten Touristen einen Aufenthalt in der Seine-Stadt gar nicht vorstellen können. Würde man ihnen die Frage stellen - und das gilt ebenso für die alteingesessenen Pariser -, ob man den Turm abreißen sollte, so würden sie wohl nur ungläubig dreinblicken und fragen, ob sie sich verhört hätten. Abreißen?! Was für eine dumme, völlig abartige Idee! Indes war die Haltung der Menschen zu dem Giganten aus Stahl nicht immer so eindeutig wie heute.
 
Wir verlassen die Métro an der Station "École Militaire", und kurz darauf können wir La Tour Eiffel auch schon sehen. Was nicht heißt, dass wir ihn bereits erreicht hätten. Zwischen ihm und uns liegt das Champ de Mars, das Marsfeld, einst ein Exerzierplatz des Militärs, später von mehreren Weltausstellungen genutzt, heute eine Grünfläche für erholungssuchende Großstädter. Lesend und in Gespräche vertieft, essend und trinkend bevölkern sie das Grün, wir allerdings marschieren schnurstracks an ihnen vorbei, denn wir wollen zum Turm. Mit jedem Schritt wächst er ein kleines Stück höher in den Himmel, vier mächtige Pfeiler, drei Plattformen und auf der Spitze eine Antenne, mit der er es auf stolze 324 m bringt. "Noch einen Schritt nach links!", dirigiert ein Mann seine Familie in die optimale Position vor dem Turm, alle lächeln, dann macht es Klick, und wieder ist eine Aufnahme im Kasten, eine von zig Millionen, die alljährlich rund um den Eiffelturm geschossen werden. "Voulez-vous?", spricht uns ein Händler an und hält uns einen hellgrünen Mini-Turm vor die Nase. Auf einer ausgebreiteten Decke hat er weitere: rote und blaue, leuchtend gelbe und metallfarbene, und dies alles in mehreren Größen - Souvenirs de Paris, von denen die meisten wohl eines Tages auf den Müllkippen von London, Tokio oder Marseille landen werden. Dankend lehnen wir ab, denn wir sind auf das Original fixiert. Womit wir uns in allerbester Gesellschaft befinden - zwei von den 260 Millionen.
 
 
In den Jahren von 1887-1889 als monumentales Eingangsportal und Aussichtsturm für die Weltausstellung erbaut, war der Turm des französischen Ingenieurs Gustave Eiffel zu seiner Zeit das höchste Gebäude der Welt. Er war ein Bauwerk, das so recht in das Fortschrittsdenken jener Zeit passte, als der Mensch sich mit Hilfe der Technik zu immer kühneren Projekten aufschwang. Doch längst nicht jedermann verspürte damals diese Euphorie, vor allem viele Intellektuelle waren skeptisch. "Wir Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Architekten und leidenschaftliche Liebhaber der bisher unangetasteten Schönheit von Paris", hieß es beispielsweise in einem zeitgenössischen Aufruf, "protestieren im Namen des verkannten französischen Geschmacks mit aller Kraft gegen die Errichtung des unnötigen und ungeheuerlichen Eiffelturms im Herzen unserer Hauptstadt." Gegen den "schwindelerregenden, lächerlichen Turm ..., der wie ein riesiger, düsterer Fabrikschlot Paris überragt." Gegen den "Alptraum".
Ein "lächerlicher Turm"? Wohl eher eine lächerliche Ansicht, ebenso wie das Verhalten des französischen Schriftstellers Guy de Maupassant, eines der entschiedensten Gegner des Eiffelturms, von dem ein Fremdenführer in unserer Nähe einer Gruppe Briten berichtet. Eines Tages, so erzählt er, sei der Schriftsteller aus Protest auf den Turm hinaufgestiegen mit der Begründung, dass dies der einzige Ort in Paris sei, von dem aus er ihn nicht sehe. Kopfschütteln bei den Zuhörern und verständnisloses Gelächter. An den Kassen des Turms treffen wir die Gruppe wieder - und sind neidisch auf sie. Denn während die Mitglieder der Gruppe durch einen besonderen Eingang gehen, um mit einem Aufzug bevorzugt auf die Plattformen zu gelangen, erwartet uns Individualreisende eine Schlange. Eine sehr lange, wie wir frustriert vermerken. Wir rechnen: Fast sieben Millionen Besucher pro Jahr, das macht mehr als 18.000 am Tag und - da der Turm täglich etwa 16 Stunden geöffnet ist - rund 1.200 Besucher in jeder Stunde. Ein Blick in die Runde gibt uns das Gefühl, dass unsere Rechnung stimmt. Plötzlich entdecken wir ein Schild, das auf eine Alternative zu den Aufzügen hinweist, auf eine sportliche Variante: Bis zur zweiten der drei Plattformen darf man laufen. Das sind exakt 704 Stufen, keine Kleinigkeit also, aber das sollten wir schaffen. Entschlossen machen wir uns an den Aufstieg - und werden schon nach den ersten Metern von einer Sicht auf die Details des stählernen Giganten entschädigt, die wir aus einem vollbesetzten Fahrstuhl nicht gehabt hätten. Mit jedem neuen Blick auf die ausgeklügelte Konstruktion wächst unsere Hochachtung vor den Männern, die den Turm vor rund 130 Jahren erdacht, geplant und anschließend aus 18.038 Einzelteilen zusammengesetzt haben.
 
 
Die Menschen verwandeln sich in Ameisen, die Reisebusse werden zu Spielzeugautos, schließlich haben wir die zweite Plattform auf 116 m Höhe erreicht. Sah sie von unten eher klein aus, so erscheint sie uns nun geradezu riesig. 1.600 Personen haben auf ihr Platz, es gibt ein Schnellrestaurant, eines der Haute Cuisine mit einem Sternekoch sowie ein Souvenirshop, in dem man Ansichtskarten und Poster erstehen kann, Bilder und Bücher, Anhänger aller Art, dazu Schneekugeln, Puzzles und Modellbausätze aus Holz und Papier - eine totale Vermarktung des Turms in einem breiten Spektrum aus (viel) Kitsch und (wenig) Kunst wie auch bei anderen Sehenswürdigkeiten auf der Welt. Wir verhalten uns abstinent und wenden uns der Aussicht zu, um deretwillen wir heraufgestiegen sind. Tout Paris liegt zu unseren Füßen, von der Seine, die sich unterhalb des Turms entlang schlängelt bis zur Kirche Sacre Coeur in Monmartre, vom Arc de Triomphe bis zu den heiligen Hallen des Louvre und zur Kathedrale Notre Dame. Einzig den Eiffelturm sehen wir von diesem Standort aus nicht - Guy de Maupassant lässt grüßen ...
 
Klar, dass wir auch auf die dritte Plattform hinauf wollen. Doch als wir die Schlange vor dem Fahrstuhl sehen - eine Besuchertreppe nach oben gibt es nicht -, ist das gar nicht mehr so klar. An schönen Tagen, schreibt unser Reiseführer, könne man von der Spitze aus 80 km weit sehen. Heute ist solch ein schöner Tag, aber wollen wir denn überhaupt so weit sehen? Noch kleinere Menschen, noch kleinere Autos und Notre Dame so winzig, dass man sie als Kirche kaum noch erkennen kann? Nein, das wollen wir nicht, entscheiden wir. Und deshalb kehren wir der Schlange den Rücken und wenden uns noch einmal der "niedrigeren" Aussicht zu. Längst ist der Eiffelturm nicht mehr das höchste Gebäude weltweit. Bereits 1930 wurde ihm dieser Titel vom Chrysler Building in New York abspenstig gemacht, heute steht er in der Liste der höchsten Gebäude weltweit nur noch auf Platz 75. Aber wen stört das? Längst ist La Tour Eiffel mehr als ein Turm - er ist Paris, er ist Frankreich, er ist das französischste aller französischen Wahrzeichen. Der alte Spruch liegt auf der Hand: Gäbe es den Eiffelturm nicht, müsste man ihn erfinden. Aber zum Glück braucht man das nicht, denn Gustave Eiffel hat das vor 130 Jahren bereits getan. Und das war auch gut so!
 

Der nächste Bericht auf reiselust.me erscheint voraussichtlich am
Dienstag, den 10. September 2013