Oktoberfest München.
Wer nicht reserviert, den bestraft das Leben. 2013
 
 
München-Hauptbahnhof, ein Samstag Ende September, morgens um 7.05 Uhr. Auf Gleis 14 fährt der Nachtzug aus Berlin ein, die Fahrgäste steigen aus, noch ein wenig schlaftrunken und leicht gerädert von den harten Liegen. Auch wir verlassen den Zug. München ist für uns ein Zwischenhalt auf dem Weg zu Verwandten, allerdings haben wir den Besuch bei ihnen so terminiert, dass wir auf der Hinfahrt noch jenes Ereignis mitnehmen können, dass zu den Highlights im deutschen Eventkalender gehört: das Oktoberfest, oder wie die Einheimischen es nennen: die Wiesn. An den Samstagen geht es um 9 Uhr los, verkündet die Website des Veranstalters, also werden - so unsere Annahme - München und sein Hauptbahnhof bei unserer Ankunft noch ein wenig verschlafen daliegen. Aber ach - wir Naiven, wir völlig Ahnungslosen, wie haben wir uns mit dieser Annahme getäuscht! Auf dem Bahnhof ist bei unserer Ankunft bereits die Hölle los. Dirndln und Lederhosen, wo immer man hinschaut, es müssen Hunderte sein, vielleicht tausend oder noch mehr, fast alles Leute um die 20 oder 30, die teils allein, zumeist aber in Gruppen von überall herandrängen und dabei erkennbar eine bestimmte Richtung favorisieren: die Richtung zur Festwiese. Sichtlich gut drauf, bahnen sie sich ihren Weg, schwatzend und singend, aber nur ausnahmsweise krakeelend - darauf achtet die bereitstehende Polizei -, sie halten Bierflaschen, Schnaps und Weinpappen zum Vorglühen in den Händen, manche tragen Imbisstaschen mit fester Nahrung, aber dass die flüssige dominiert, ist nicht zu übersehen.
 
 
Gleich am Bahnhofsausgang ein "Trachten-Outlet" für diejenigen, denen es an der zünftigen Ausstattung mangelt. Doch das sind nur wenige. Die meisten sind bereits in folkloristischem Outfit erschienen, in Dirndln mit weit ausgeschnittenen Oberteilen das weibliche Geschlecht, in Krachledernen und Wadenstrümpfen das männliche, gelegentlich auch eine Frau, was selbst im traditionsbewussten Bayern schon längst kein Stein des Anstoßes mehr ist. Überhaupt die Tradition: Wo sonst in Deutschland, so fragen wir uns bei diesem Anblick, findet man noch so viele Träger von Trachten, und das nicht nur bei Jung und Alt, sondern auch bei Menschen aus den unterschiedlichsten Schichten, die ansonsten nur wenig gemein haben! Gar nicht zu reden von den Auswärtigen, die sich mit einer ebensolchen Selbstverständlichkeit dieser bajuwarischen Mode unterwerfen. Wir selbst bleiben abstinent und wenden uns - anstatt beim "Trachten-Outlet" nachzurüsten - einem Imbissstand zwecks Frühstück zu, einem leichten nach dem Motto: Nur nicht zu viel, den restlichen Hunger füllen wir später auf der Wiesn auf.
 
Der Zeiger der Uhr rückt auf die 8, und die Bahnhofshalle füllt sich immer mehr. Um halb 9 beschließen wir, uns in den Strom der Massen einzureihen, auch wenn uns unklar ist, warum sie unbedingt schon zu so früher Zeit auf der Festwiese sein wollen. Doch als wir eine halbe Stunde später den Ort des Geschehens erreichen und uns dem nächstbesten Zelt zuwenden, in dem wir unsere erste Maß trinken wollen, da sehen wir den Grund für diese frühmorgendliche Eile: Das Zelt ist brechend voll, sämtliche Plätze sind besetzt bis auf diejenigen am Rand, die - das machen Schilder deutlich - für einen späteren Zeitpunkt reserviert sind. Dicht an dicht sitzen all jene, über deren Hast wir gerade noch verwundert den Kopf geschüttelt haben, vor sich jedoch keine Maß, weder halbe Hendl noch Schweinshaxen und auch von keiner zünftigen Musik unterhalten, denn auf dem Podium für die Kapelle herrscht gähnende Leere. Aber die vom Hauptbahnhof haben Sitzplätze - und wir Wiesn-Greenhorns, die mit den Sitten dieses Events völlig unvertraut sind, stehen irritiert am Rand und schauen verkniffen in die fröhliche Runde. Zwei, drei Versuche, an einem der Tische wenigstens noch einen Platz für eine halbe Pobacke zu ergattern, schlagen fehl - ein Schulterzucken und ein: wir sollten es woanders noch mal probieren. Das tun wir, aber vor dem nächsten, ebenfalls bestens gefüllten Festzelt wartet bereits eine Schlange, und vor allen weiteren, bei denen wir anschließend unser Glück versuchen, ist es nicht anders.
Und was erwartet uns außerhalb der Zelte? Sämtliche Buden und Fahrgeschäfte sind noch geschlossen, nur hier und da beginnen Schausteller, ihre Arbeitsplätze für den Tag herzurichten. Der graue Himmel und das unfreundliche Wetter verstärken noch unsere höchst unerquickliche Situation. Es muss etwa halb 10 sein, als bei uns zum ersten Mal das Wort "Hofbräuhaus" fällt, soll heißen: wenn nicht hier, dann eben woanders ... Doch dann entschließen wir uns zu einem letzten Versuch, sprechen bei den reservierten Tischen eine Bedienung an - und haben Glück! Relatives Glück zumindest. Ja, sagt sie, wir könnten uns dort hinsetzen, aber ab 12 sei dieser Tisch reserviert, dann müssten wir uns einen anderen Platz suchen. Keine beglückende Perspektive, aber dennoch setzen wir ein strahlendes Gesicht auf und zeigen uns höchst erfreut. Kaum sitzend, nehmen wir kurz darauf unsere erste Maß in Empfang - 9,70 € kostet sie in diesem Jahr, heiß diskutiert von den Medien wie immer -, begrüßen wenig später acht aufgedrehte Italiener an unserem Tisch und sind zufrieden. Obwohl die Musik erst gegen 11 Uhr beginnt, ist die Stimmung im Zelt bereits zu dieser Zeit bombig. Nicht zuletzt wegen der Ex-Trinker - junge Männer, die auf Tische steigen, eine Maß ansetzen und sie - hast du's nicht gesehen! - in einem Zug hinunterschütten. Eine Leistung, die vom ganzen Zelt mit lautem Geklatsche und Gejohle gewürdigt wird. Nun ja ... Frenetische Beifallsbekundungen gibt es bald darauf auch für die Musiker und überdies ein reges gesangliches Engagement, wenn ein Lied gespielt wird, das alle kennen. Wir singen ... ach was: wir gröhlen ebenfalls mit. Auch wenn diese trunkene, schunkelnde Blasmusikstimmung normalerweise nicht unsere Welt ist - hier ist sie es! Genau diese Atmosphäre ist der Grund, weshalb wir hier sind!
 
Aber das war's dann auch schon: Kurz vor 12 hat unser Stündlein geschlagen, und wir müssen gehen, "Pfiat Eahna!" (Auf Wiedersehen), kurz und schmerzlos. Auch wenn unsere zweiten Maßkrüge noch halb voll sind und das Trinken im Gang verboten ist, wie uns der Mann von der Security unmissverständlich mitteilt. Wir tun es trotzdem, was sollten wir auch sonst tun! Und dann sind wir endgültig draußen, eingekeilt zwischen Massen von Menschen, die sich über die Festwiese schieben. Wir reihen uns ein und versuchen uns dabei ein Bild zu verschaffen von dem, was das größte Volksfest der Welt - so der Werbeslogan - zu bieten hat: rund 200 Schaustellerbetriebe aller Art, davon 80 Fahrgeschäfte, viele von ihnen die größten, die wir jemals gesehen haben, mit Überschlägen und Steilfahrten ohne Zahl, Achterbahnen, gegen die die gleichnamigen Attraktionen unserer Jugendzeit wenig mehr als ein gemütliches Sitzen auf Omas Kanapee waren, dazu gibt es Geisterbahnen, Varietés und Irrgärten und immer wieder Stände mit Süßem, darunter jenen "Ich liebe Dich"- und "Gruß vom Oktoberfest"-Herzen, bei deren Anblick Zahnärzte vermutlich in Jubel ausbrechen. Das alles gibt es hier und noch viel mehr, nur eines gibt es nicht: Bier. Nicht, dass unsere Seligkeit davon abhängen würde - auch Apfelschorle (die gibt es) kann lecker sein. Aber wir sind nun mal auf dem Oktoberfest, und wenn es ein kulinarisches Synonym für dieses Spektakel gibt, dann ist es das speziell für diese Tage gebraute Bier. Doch das wird nur in den Zelten ausgeschenkt - alle besetzt - und in deren angeschlossenen Biergärten - ebenfalls alle besetzt, und das trotz der niedrigen Temperatur - und sonst nirgends. Bis 17 Uhr halten wir unser zielloses Umherwandern durch, werfen den Festzelten neidische Blicke zu, wo um diese Zeit die Luzi abgeht, dann werfen wir das Handtuch. Wir kehren zum Bahnhof zurück, kaufen uns etwas zu essen und spülen Bier durch unsere ausgetrockneten Kehlen.
 
 
18 Uhr. Wir sitzen im Zug auf der Fahrt zu unseren Verwandten. Der Wagen ist so voll, dass nicht einmal eine Stecknadel zu Boden fallen könnte. Ihrem Outfit und dem Verhalten nach alles Heimkehrer vom Oktoberfest. Später berichtet uns ein Verwandter, der vor Jahren des öfteren auf der Wiesn war, wie es damals zuging. Man setzte sich in ein Zelt, erzählt er, trank eine Maß, erfreute sich an der Musik und der Stimmung, wechselte dann ins Freie, um ein paar Schaubuden zu besuchen, machte eine Fahrt mit dem Riesenrad, um anschließend hungrig und durstig das nächste Zelt anzusteuern, wo alles von vorne begann - so lange, bis man sich bei Schließung der Wiesn bestens gelaunt und mit leichtem Schräggang auf den Heimweg begab. Genau so hätte es uns auch gefallen, kommentieren wir beide mit Nachdruck. Doch diese Zeit scheint vorbei, keine Spontaneität mehr, nur noch frühzeitiges Reservieren oder der Besuch eines Rummels, den es auch andernorts gibt (wenngleich nicht in diesen Dimensionen), und zum Trinken Apfelschorle, Tequila und Sekt. Aber kein Bier. Reservieren, Rummel oder zu Hause bleiben - das scheinen heute die Alternativen für das Münchner Oktoberfest zu sein. Wir haben unsere Wahl getroffen.
 
 
Der nächste Bericht auf reiselust.me erscheint voraussichtlich am
Samstag, den 2. November 2013