Der Blick nach oben.
Ohne Genickstarre kommt man nicht durch New York. 2011
 
Skyscraper heißen sie auf Englisch, Wolkenkratzer auf Deutsch - weil sie so hoch sind, dass sie an den Wolken kratzen. Zumindest sieht es so aus, denn die Wolken müssen schon sehr tief hängen, damit die Gebäude das tatsächlich tun. Aber sei's drum - hoch sind sie tatsächlich, und in New York gibt es besonders viele davon. Vor allem in Manhattan, der Halbinsel zwischen dem Hudson River und dem East River, die wir gewöhnlich meinen, wenn wir von New York sprechen. Beinahe 6.000 Gebäude in der Stadt sind höher als zwölf Stockwerke, eine geradezu fantastische Zahl, wenn man sie etwa mit Städten in Deutschland vergleicht. (Hier ist das höchste Bauwerk der Commerzbank-Tower in Frankfurt mit 300 Metern einschließlich Antenne.) Den Rekord in New York hielt vor kurzem wieder das Empire State Building mit 443 Metern (ebenfalls inklusive Antenne). Wieder, weil es diesen Rekord schon einmal gehalten hatte, bis es Anfang der 1970er Jahre von den Twin Towers des World Trade Centers abgelöst wurde. Jenen beiden Türmen, die am 11. September 2001 einem Terroranschlag zum Opfer fielen.
 
Doch der Höhenrekord des Empire State Buildings war nur ein vorübergehender. Die Bauarbeiten am Nachfolger des WTC, dem One World Trade Center, sind weitgehend beendet, für Anfang 2014 ist die Fertigstellung geplant. Mit 541,32 Metern ist dieses Gebäude heute das höchste der Stadt - 1776 feet nach dem amerikanischen Maßsystem, eine symbolische Zahl, die sich auf das Jahr der amerikanischen Unabhängigkeit bezieht. Womit das One World Trade Center mitnichten das höchste Gebäude weltweit ist, hier gelten inzwischen ganz andere Maßstäbe. Beeindruckende 828 Meter misst der 2010 eingeweihte Burj Khalifa in Dubai, in der südchinesischen Stadt Changsha - schon mal den Namen gehört? - wächst zur Zeit die "Himmelsstadt" mit 838 Metern in die Höhe, während die saudi-arabische Stadt Dschidda ab 2019 den 18,7 Milliarden teuren Kingdom Tower ins Rennen schicken will. Als erster soll dieser Turm die 1000-Meter-Marke knacken. Der Strahlkraft des "Big Apple" werden diese Rekorde indes keinen Abbruch tun. New York und seine Wolkenkratzer - das ist keine bloße Ansammlung von Gebäuden, die man in den letzten Jahren unter Einsatz modernster Technik aus dem Boden gestampft hat. New York und seine Wolkenkratzer - das ist eine mehr als hundertjährige Geschichte.
 
 
Einen ersten Eindruck von den himmelstürmenden Gebäuden erhalten wir, als wir an der Central Station im Zentrum Manhattans aus dem Bus steigen, der uns vom Flughafen JFK in die Stadt gebracht hat. Für uns ist die Szenerie eine Premiere. Ganz klein fühlen wir uns in der Straßenschlucht aus Stahl, Beton und Glas, fast ein wenig hilflos stehen wir neben unserem Gepäck. So ähnlich müssen sich Menschen fühlen, die es zum ersten Mal vom Land in die Stadt verschlagen hat. Unsere Blicke wandern die Fassaden der Häuser empor, wir drehen uns in alle Richtungen, um eine nach der anderen zu erfassen, bis uns schwindlig wird. Und bis wir uns das Genick reiben - eine Bewegung, die wir im Verlauf unseres Aufenthalts in New York noch oft wiederholen sollen. Was Höhe bedeutet, erfahren wir auch wenig später an der Rezeption unseres Hotels am Times Square (siehe Bericht 007), als wir die Schlüsselkarte für unser Zimmer in Empfang nehmen. Gebucht hatten wir für eine der preiswerteren unteren Etagen, aber durch irgendein Wunder, das wir nicht verstehen und dem wir aus naheliegenden Gründen auch nicht weiter nachspüren wollen, steht auf unserer Schlüsselkarte eine 57, die zweithöchste Etage. Ein Fall für den Expressaufzug, der die unteren 30 Etagen ignoriert und gleich ganz nach oben strebt. Die meisten deutschen Hochhäuser liegen in dem Bereich, den wir gerade ausgespart haben, geht es mir durch den Kopf, während ich auf die Anzeigetafel starre.
Koffer auspacken, einrichten, dann erste Schritte "ums Haus", und schon ist unsere Erwartung bestätigt: New York - das ist eine Überflutung mit Reizen, deren Verarbeitung alles andere als eine Kleinigkeit ist. Massen von Menschen, ein dichter Verkehr, viel Polizei der Sicherheit wegen, unzählige Reklamen, die um unsere Aufmerksamkeit buhlen - alles flackert, flimmert und bewegt sich, darüber ein Klangteppich aus sämtlichen Sprachen der Welt und ein beständiges Klicken von Fotoapparaten, wie man es andernorts allenfalls an ganz besonderen Tagen erlebt. Hier aber ist kein besonderer Tag, hier ist es der Alltag in einer Stadt, die zu den vitalsten der Welt gehört. Jedes Mal, wenn wir in den folgenden zwei Wochen aus unserem Hotel treten, entdecken wir Neues, und nur allmählich gelingt es uns, aus der Orgie an Sinnesreizen Details herauszufiltern. Auch für die Gebäude gilt dieses sukzessive Entdecken. Sie alle sind hoch, sie alle sind massig, aber irgendwann wird uns bewusst, dass die einen Stein auf Stein gebaut sind - es sind die älteren, sie wirken wuchtig und stemmen sich schwer gegen den Boden -, während die anderen, die neueren, aus Stahl, Glas und Beton bestehen und eine geradezu spielerische Leichtigkeit vorgaukeln. Eine Entwicklung der Bautechnik, deren rasante Fortschritte die Voraussetzung für Bauwerke einer ganz neuen Art schufen. Vielleicht stimmt ja die Anekdote, die man sich von einem Architekten erzählt - wie er auf dem Käfig seines Vogels ein schweres Buch ablegte und wie ihm plötzlich bewusst wurde, dass die dünnen Gitterstreben dieses Gewicht problemlos zu tragen vermochten. Die Geburtsstunde einer neuen Bauweise: zuerst ein relativ leichtes, gleichzeitig aber äußerst stabiles Skelett aus Stahl, in das anschließend nach einem "Vorhangsystem" die Wände eingehängt wurden (auch solche aus Glas), die nichts mehr zu tragen hatten. Die Folge dieser Revolution: Der Run auf die Höhe konnte beginnen und ebenso das Experimentieren mit neuen Formen.
 
Hoch gebaut, fantasievoll gestaltet und das bis in die allerhöchsten Spitzen. Ein paar Tage nach unserer Ankunft in der Stadt kommt mir die Idee, meine Kamera einmal ganz bewusst nach oben zu richten, auf die oberen Stockwerke von New York sozusagen, um der Kreativität früherer und heutiger Architekten nachzuspüren. Wobei meine Möglichkeiten allerdings begrenzt sind, fehlt mir von unten doch der Blick auf jene bunte Welt, die Alex MacLean in seinem Buch "Über den Dächern von New York" dokumentiert: Terrassen mit Swimmingpools, Gärten, in denen Kräuter und Gemüse gezüchtet und Bienen gehalten werden, ja selbst Golfanlagen soll es in luftiger Höhe geben. Ein erheblicher Anteil der Fläche New Yorks, so der Autor, entfällt inzwischen auf Dachlandschaften dieser Art. All das bleibt uns beim Blick von unten natürlich verborgen, aber auch so gibt es genug zu entdecken: geometrische Muster aller Art, strenge Formen und ornamentale Spielereien, Anleihen an die Historie mit Türmchen, Kuppeln und Säulen und immer wieder das spannende Nebeneinander von Alt und Neu. Und es gibt etwas sehr Profanes dort oben: fassähnliche hölzerne Behälter, die uns immer wieder auffallen, mit denen wir zunächst aber nichts anfangen können. Erst das Recherchieren im Internet verrät uns, dass es sich um Wassertanks handelt.
 
Wassertanks im Zeitalter von Computern, Nanotechnologie und Satellitenreisen durchs All? Der Grund für diesen scheinbaren Widerspruch liegt im System der New Yorker Wasserversorgung begründet. Anders als in Deutschland haben die unterirdischen Leitungen einen sehr großen Durchmesser und als Folge davon einen niedrigen Druck. Wollte man das Wasser zum sofortigen Verbrauch - bei gleichmäßigem Druck - in die Gebäude leiten, so benötigte man dazu ein aufwändiges System von Pumpen. Dieser Aufwand lässt sich aber leicht umgehen, zahlreiche Städte beispielsweise im Süden Europas geben das Modell dafür ab: Man pumpt das Wasser nach oben in einen Tank - gegebenenfalls während der Nacht, wenn die Nachfrage gering ist - und schafft damit ein Reservoir, aus dem Wasser, wann immer es benötigt wird, gleichmäßig nach unten abfließen kann. Ob für die Dusche, fürs Kochen oder als Löschwasser für die Feuerwehr - vorausgesetzt, der Behälter ist einigermaßen gefüllt, strömt das Wasser stets mit der gleichen Geschwindigkeit und dem gleichen Druck nach unten. Ab einer Geschosshöhe von sechs Stockwerken sind in New York solche Behälter vorgeschrieben, was nichts anders heißt, als dass selbst die modernsten Hochhäuser auch heute noch auf dieses System zurückgreifen. Die meisten Wasserbehälter sind verdeckt, an etlichen Gebäuden aber kann man sie sehen: hölzerne Tanks, zumeist aus Zedernholz oder aus dem Holz des kalifornischen Mammutbaums, die sich für die ihnen zugedachte Aufgabe nach wie vor besser eignen als etwa Behälter aus Stahl. Zigtausende solcher archaisch anmutenden Riesenfässer sind es also, die seit Jahrzehnten die Wasserversorgung der Weltmetropole New York sichern.
 
 
Und noch etwas fällt uns ins Auge, wenn wir den Blick an den Gebäuden nach oben richten: Feuerleitern, wie wir sie aus amerikanischen Filmen gut kennen. Feuerleitern in New York - wer würde bei diesem Stichwort nicht sofort an das Musical "West Side Story" denken, an die Halbstarken-Geschichte von den beiden Liebenden Tony und Maria, die nicht zusammenfinden dürfen? Wie in der Shakespeareschen Vorlage "Romeo und Julia" begegnen sich die beiden in einer romantischen Szene, jedoch wurde Julias Balkon durch eine Feuerleiter ersetzt, und den akustischen Hintergrund bilden weder Nachtigall noch Lerche, sondern Schlager aus dem Musikautomaten eines benachbarten Drugstores. Der Grund für die Feuerleitern: Als die hohen Gebäude entstanden, hatte man keine Notausgänge vorgesehen. Brannte es, so blieb für die Eingeschlossenen nur der Weg durch das Treppenhaus oder - wenn der versperrt war - der Sprung aus dem Fenster, der oft genug einem Sprung in den Tod gleichkam. Schließlich erließ die Stadt eine Vorschrift zum Anbringen von Feuerleitern. Noch heute kann man sie sehen, wenn auch nicht an den wirklich hohen Gebäuden. Manche von ihnen sind profan und hässlich, andere dagegen regelrechte Schmuckstücke, ja für manches Gebäude sind sie geradezu das sprichwörtliche Tüpfelchen auf dem i.
 
Der dritte Tag unseres Aufenthalts in New York führt uns in den Central Park, ein Zufall, aber wir sind froh, dass es nach den vielen vertikalen Blicken endlich mal wieder eine Blickdominanz in der Horizontalen gibt. Natürlich sieht man die Wolkenkratzer auch vom Park aus, aber da zwischen uns und ihnen eine nicht geringe Entfernung liegt, nimmt der Himmel einen wesentlich größeren Teil unseres Blickfeldes ein. Fast atmen wir ein wenig auf - nicht etwa, weil die Höhe uns nicht faszinierte, ganz im Gegenteil, das tut sie sehr wohl. Aber aus Deutschland kommend, sind wir Weite gewöhnt, selbst in einer so großen Stadt wie unser Heimatstadt Berlin. Eine Weile schlendern wir durch den Park, während unsere Augen sich erholen. Doch irgendwann tauchen wir wieder in die Stadt ein. Und sofort - Genickstarre hin und Genickstarre her - wandern unsere Blicke abermals nach oben. Dorthin, wo es so viel Sehenswertes zu entdecken gibt.
 
 
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