Töten als Show.
Das Kolosseum hat mehr Blut gesehen als andere Bauten. Rom 2013
 
Dieses verdammte c! Geht Zäsar nun in den Zirzus, und ist er mit Zizero verfeindet? Oder trägt der Gegner von Kikero den Namen Käsar und geht in den Kirkus? Es ist diese Frage, mit der Lateinlehrer Generationen von Schülern genervt haben, und das überflüssigerweise, denn bis heute ist die Frage nicht endgültig geklärt. Zwar hat sich die klassische Aussprache des c als k in Deutschland inzwischen durchgesetzt, aber die tatsächliche Aussprache kann von Schule zu Schule und von Lehrer zu Lehrer abweichen, da die Schulgrammatiken und die Lehrpläne Raum für unterschiedliche Auffassungen lassen. Mag damit also letztlich noch immer nicht eindeutig sein, ob Cäsar nun in den Zirzus ging oder in den Kirkus und ob er sich mit Zizero oder Kikero stritt - dass er es in der Gegend tat, in der wir uns im April 2013 befinden, ist klar. Und es war nicht nur Cäsar, der sich vor uns hier aufhielt. Augustus war es ebenso, Nero und Trajan auch, dazu Vespasian, Marc Aurel und wie immer die Herrscher in jener Zeit hießen.
 
Die Gegend, in der wir uns befinden - das ist ein Areal im Zentrum der heutigen Stadt Rom. Wir sind die beliebte Einkaufsstraße Via del Corso aus der Richtung der Piazza del Popolo hinuntergelaufen, haben das "Vittoriano", das Nationaldenkmal (siehe Bericht 58), rechter Hand liegen gelassen und sehen uns nun einer Ansammlung von Ruinen gegenüber, die uns sagt: An dieser Stelle schlug vor rund 2000 Jahren das Herz der antiken Stadt Rom. Oder genauer: zwischen dem 21. April des Jahres 753 v.Chr. - das vermeintliche Gründungsdatum der Stadt - und dem 5. nachchristlichen Jahrhundert, in dem nach Ansicht vieler Wissenschaftler das römische Reich untergegangen ist. Mehr als 1000 Jahre antikes Rom also, eine lange Zeit, in der viel geschehen ist und in der - was hier interessiert - viel gebaut werden konnte, insbesondere von einer Weltmacht, denn das waren die Römer zu ihrer Zeit, so wie heutzutage die US-Amerikaner. Der Reiseführer listet die wichtigsten Bauwerke auf: das Forum Romanum, die Kaiserforen, die Säule des Trajan, die 40 Meter hoch in den Himmel ragt und heute noch beinahe so gut erhalten ist wie zur Zeit ihrer Errichtung. Und da ist noch ein Bauwerk, es steht am Ende der Via dei Fori Imperiali, und vor allem dieser Bau ist es, der die Scharen der Touristen anzieht wie ein Magnet: das Kolosseum.
 
 
Mit drei Sternen adelt der Reiseführer das Bauwerk, und schon aus der Entfernung sind wir überzeugt, dass es sie wert ist. Dieser Eindruck bestätigt sich, als wir nahe dran sind und uns in die Warteschlange vor der Kasse einreihen. 48 Meter hoch ist das "Colosseo", 527 Meter beträgt sein Umfang, und es gibt 80 Bögen, die als Ein- und Ausgänge genutzt wurden. Durch einen von ihnen betreten wir das größte der im antiken Rom erbauten Amphitheater, genau so, wie auch die Bürger der Stadt und ihre Besucher es einstmals getan haben, eine zweistellige Millionenzahl vermutlich in gut vierhundert Jahren. Orientierungsschwierigkeiten haben wir nicht. Obwohl es sich um ein altes Gebäude handelt, ist uns das System, nach dem das Publikum zu den Plätzen geleitet wird, von unseren modernen Stadien her bekannt. Als wir aus dem Treppenhaus hinaustreten und das Rund des Kolosseums vor uns sehen - oder richtiger: die Ellipse -, entfährt unseren Mündern ein beeindrucktes "Wow!". Als eines der besterhaltenen Bauwerke der römischen Antike gilt das Gebäude, und das offensichtlich zu Recht. Zwar befindet es sich nicht im Originalzustand - wie könnte es das auch über einen solch langen Zeitraum hinweg! -, aber das Übriggebliebene ist noch allemal Anlass zum Staunen. Gesehen haben wir das Kolosseum schon oft, angefangen von unseren Schulbüchern bis hin zu Fernsehen und Filmen. Nun stehen wir mitten drin, und der oft beschworene "Atem der Geschichte" fällt mit Macht über uns her.
Aber auch der Mundgeruch, um in diesem Bild zu bleiben. "Dort unten in den Kellern befand sich der unterirdische Zugang von der benachbarten Gladiatorenkaserne her, außerdem lagen dort die Käfige für die wilden Tiere und die Kerker für die zum Tode Verurteilten", hören wir einen Fremdenführer in unserer Nähe. Obwohl er die Worte herunterleiert - vermutlich hat er sie schon tausendmal aufgesagt -, bewirken sie bei seinen Zuhörer ein Gruseln. Zu Recht, denn gruselig muss es gewesen sein, was sich hier einst als antike "Unterhaltungskultur" präsentierte. Panem et circensis, so lautete das Motto der Herrschenden, um die Beherrschten bei der Stange zu halten, Brot und Spiele, und dieses Prinzip hat gut funktioniert. Der Eintritt in das Kolosseum war für alle freien Bürger Roms kostenlos, und die Mächtigen wetteiferten darum, den Zuschauern Beeindruckendes zu bieten. Anfänglich - und das heißt: nach der Eröffnung im Jahr 80 n.Chr. - gehörten sogar Seeschlachten zum Programm, nachdem die Arena geflutet worden war. Damit war allerdings Schluss, als man die Kellerräume errichtete. Fortan bildeten Tierhetzen die Highlights (vornehmlich von exotischen Tieren), dazu die Tötung von zum Tode Verurteilten sowie Kämpfe von Gladiatoren. Wir versuchen, uns die Szenerie jener Zeit vorzustellen: In der Arena das blutige Abschlachten und Sterben, zuckende Leiber und abgerissene Glieder, in den Rängen das Publikum, 50.000 Zuschauer, die schrien und johlten, sich bei kühlen Getränken und Knabbereien amüsierten und die zugleich jede Regung der Todgeweihten aufmerksam verfolgten, sowohl der Menschen als auch der zum Sterben verurteilten Tiere. Emotionen wie heutzutage bei einem Fußballspiel, nur dass das Geschehen in der Mitte ein gänzlich anderes war. Anwesend waren sie alle: in seiner Loge der Kaiser und die Senatoren, die Vestalinnen und die männlichen Priester, in den Reihen darüber die Ritter und die gewöhnlichen Bürger Roms, auf den schlechten Plätzen die armen Männer der Stadt und darüber - noch schlechter - Stehplätze für ihre Frauen. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich die Auftritte der Gladiatoren, Männer, die gegen wilde Tiere antraten oder gegen andere Männer, darunter oft solche, die sich in früheren Kämpfen bereits einen Namen gemacht hatten und auf die man nun wettete, denen man zujubelte und deren Aktionen man wortreich kommentierte. Vermutlich war es mucksmäuschenstill, wenn der Kaiser die Hand ausstreckte und jeder darauf lauerte, ob er seinen Daumen nach oben oder nach unten zeigen ließ - Gnade für den Kämpfer oder den Tod, der augenblicklich vollstreckt wurde. Für Abwechslung sorgte die Ausstattung der Gladiatoren: Mal traten sie sich mit Schwertern und Schilden gegenüber, mal mit Lanzen, dann wieder - vom Publikum besonders geschätzt - mit einer Kombination aus Wurfnetz, Dreizack und Dolch. Es gab Bogenschützen unter den Gladiatoren, solche zu Pferde oder in Streitwagen, ja selbst Gladiatorinnen gab es, Amazonen genannt, die gegeneinander kämpften oder, wenn sie Geschicklichkeit bewiesen, auch gegen Männer. Was immer einen Nervenkitzel versprach, wurde in die Tat umgesetzt - heute würden wir formulieren: was immer perverse Gehirne sich ausgedacht hatten. Etwa 300.000 bis 500.000 Menschen ließen nach Ansicht mancher Historiker in dieser Arena ihr Leben, dazu viele Millionen Tiere - Zahlen, die andere für stark übertrieben halten. Aber wie auch immer - sehr viele sind es auf jeden Fall gewesen in jenen rund 400 Jahren, in denen das Kolosseum seiner Aufgabe diente. Viel zu viele!
 
 
Um das Jahr 500 n.Chr. kam das Aus für die grausamen Spiele, denn der Wind hatte sich gedreht. Das Römische Reich lag am Boden, und das sich ausbreitende Christentum hatte für derlei Zeitvertreib nichts übrig. In der Folge verfiel das Kolosseum. Bewohner der Stadt richteten in den Arkaden und Gängen Behausungen ein, Erdbeben setzten dem Bau zu, und ein Übriges tat die verbreitete Praxis, historische Bauwerke als Steinbrüche zu nutzen. Hätte sich eines Tages nicht die Kirche eingeschaltet, würde es das Kolosseum vermutlich gar nicht mehr geben. So aber trat im 18. Jahrhundert Papst Benedikt XIV. auf den Plan und erklärte das Kolosseum zu einer Märtyrer-Stätte. Er richtete einen Kreuzweg mit Kapellen ein und ordnete mittels eines Edikts den Erhalt des Gebäudes an. Bis zum Erscheinen mitteleuropäischer Bildungsreisender und an Forschungen interessierter Archäologen war es dann nur noch ein kurzer Weg. Was die Kirche anbelangt, so hat sie auch heute noch eine Hand auf dem heidnischen Bauwerk: Seit 1964 findet im Kolosseum an jedem Karfreitagabend ein Kreuzweg mit dem Papst statt.
 
Und noch etwas gibt es über das Kolosseum zu berichten. Wir lesen es in unserem Reiseführer, während wir von oben in die Arena hinunterschauen und immer noch aufgewühlt sind von dem, was wir über das grausige Geschehen an diesem Ort erfahren haben. Seit 1999, so steht dort geschrieben, gilt das Kolosseum auf Initiative mehrer Menschenrechtsorganisationen als ein Monument gegen die Todesstrafe. Jedesmal, wenn irgendwo auf der Welt ein Todesurteil ausgesetzt wird oder ein Staat die Todesstrafe abschafft, wird das Kolosseum 48 Stunden lang in bunten Farben angestrahlt. Ich lasse meine Blicke über die Reihen schweifen, wo einst die 50.000 gesessen und auf die Tötungsshow gestarrt haben, und ein Gedanke geht mir durch den Kopf: Was hätten sie wohl zu dem gerade Gelesenen gesagt?