Newa, Moika und Fontanka.
Eine Bootsfahrt in Sankt Petersburg. 2012
 
Die Lettern auf den Werbeplakaten sind groß, die Bilder anregend, die Botschaft eindeutig: Eine Bootsfahrt auf den Flüssen und Kanälen von Sankt Petersburg ist ein unvergessliches Erlebnis, bei dem man die Stadt aus einer ganz besonderen Perspektive erlebt. Eine solche Fahrt darf man auf keinen Fall versäumen. Das klingt vielversprechend, also machen wir es.
 
Von unserem Hotel nahe der Kasaner Kathedrale bis zur Brücke über die Moika ist es nicht weit, ein Stück den Newskij Prospekt hinunter, die Hauptstraße von Sankt Petersburg (siehe Bericht 22), und schon haben wir unser Ziel erreicht. Eine ebenso freundliche wie aufdringliche Frau liest uns unseren Wunsch von den Augen ab, denn noch bevor wir sie angesprochen haben, deutet sie mit der Hand zum Wasser hinunter. An einer Anlegestelle liegen ein paar Boote, auf einem haben bereits mehrere Personen Platz genommen. "Boot eine Stunde", sagt die Frau. "Sehr schön. Fährt gleich." Und dabei rollt sie das R, wie nur Russen es können. 1000 Rubel kostet die Fahrt, das sind gut 20 Euro. Wir steigen über ein paar Stufen zu dem Boot hinunter, bezahlen an einer Kasse, und schon sitzen wir bei den anderen, Ausflügler aus der Umgebung oder Ausländer wie wir. Viele sind es nicht, aber das Angebot an solchen Fahrten ist erheblich, außerdem hat der große Touristenansturm Anfang Mai noch nicht begonnen. "Von wegen: fährt gleich", grummle ich nach einer Viertelstunde und werfe dem Kapitän einen ungeduldigen Blick zu. Überall die gleichen Tricks. Auch in Russland hat man offensichtlich gelernt, wie Kapitalismus funktioniert. Schließlich, nach weiteren zehn Minuten, ertönt ein Signalhorn, und die Fahrt geht los. "Sdrawstwujte", vernehmen wir die Stimme des Kapitäns über Lautsprecher - "Guten Tag". Dieses Wort verstehe ich noch, aber was er anschließend sagt, geht über meine Russischkenntnisse weit hinaus, so dass ich aus seinem Redeschwall keine für uns brauchbaren Informationen herausfiltern kann. Also schalte ich ab, versuche, seinen durchdringenden Bass zu überhören und konzentriere mich auf das, was er uns zeigt. Und das ist eine ganze Menge.
 
 
Unser Boot gleitet unter dem Newskij Prospekt hindurch, und wir blicken auf Gebäude von weitgehend einheitlichem Aussehen zu beiden Seiten des Flusses, die einer lange zurückliegenden Zeit zu entstammen scheinen. Und genau so ist es: Etliche von ihnen - lässt man ihre Restaurierung nach dem Zweiten Weltkrieg einmal außer acht - sind rund dreihundert Jahre alt. Das war jene Zeit, als sich der russische Zar Peter der Große entschlossen hatte, die alte Hauptstadt Moskau zu verlassen und an der Mündung der Newa in die Ostsee eine neue aus dem Boden zu stampfen. Aus einem sehr sumpfigen Boden. Sein Ziel war es, ein Fenster in das westliche Europa zu schaffen, und genau hier sollte es sein. Viele Freunde machte er sich mit dieser Idee allerdings nicht. Unzählige Leibeigene, die zur Arbeit in den Sümpfen gezwungen wurden, gingen an Ruhr, Skorbut oder sonstigen Krankheiten zugrunde, andere starben an Hunger oder Entkräftung. Weite Teil der Stadt sind auf Pfählen errichtet, aber angesichts der vielen Toten sagen manche, sie sei auf Skeletten gegründet. Auch die Angehörigen des Adels zeigten sich wenig angetan von den Visionen des Zaren, doch sie konnten sich seinen Plänen nicht entziehen. Ganz der absolute Herrscher seiner Zeit, zwang Zar Peter sie, ihre behaglichen Moskauer Wohnsitze aufzugeben und ein neues Leben an der Newa zu beginnen. Mitten in diesem öden, krank machenden Land sollten sie neue Paläste errichten, und das auch noch auf eigene Kosten. Um sein Ziel zu erreichen, war dem Zaren keine Bestimmung zu hart. So verbot er kurzerhand die Errichtung von Steinbauten in anderen Teilen Russlands und ordnete an, dass sämtliche Steinmetze nur noch in seiner neuen Hauptstadt tätig sein durften. Sogar die Ausländer sollten ihr Scherflein zu seinem Projekt beitragen: Lief eines ihrer Schiffe einen russischen Hafen an, so musste es eine bestimmte Anzahl Steine für die neuen Bauten mit sich führen. Drakonische Maßnahmen, wie sie nur ein Herrscher mit unbeschränkter Macht anordnen konnte. Am Ende hatte der Zar sein Ziel erreicht, und es war jene faszinierende Stadt entstanden, die wir dreihundert Jahre später während unseres einwöchigen Aufenthaltes durchstreifen - oder aktuell: auf dem Wasser durchfahren.
Unser Boot biegt nach links ab, und obwohl wir erst kurze Zeit in Sankt Petersburg sind, erkennen wir den schmalen Kanal neben dem Winterpalais, der ehemaligen Residenz der russischen  Zaren (siehe Bericht 49). Der Kanal ist nicht lang, und so haben wir gleich darauf die Newa erreicht. Der Fluss ist an dieser Stelle recht breit und erweckt den Eindruck eines mächtigen Stroms, dabei ist er mit seiner Länge von 74 Kilometern eher bescheiden. Vom gegenüberliegenden Ufer grüßt die Peter-und-Paul-Festung, leicht zu erkennen an dem Turm der Kathedrale in ihrer Mitte, der wie eine spitze Nadel 122 Meter hoch in den Himmel ragt. Die Begräbnisstätten zahlreicher russischer Zaren befinden sich hier, auch die von Peter dem Großen. Außerhalb der Kathedrale trifft man auf Zar Peter in einer modernen Variante. Eine Skulptur zeigt ihn auf einem Stuhl sitzend, mit einem kleinen Kopf und einem großen Körper, ein umstrittenes Denkmal seit seiner Entstehung. Dennoch hat es inzwischen eine gewisse Berühmtheit erlangt: Es zu berühren bringt Glück, so heißt es. Natürlich haben auch wir unsere Hand auf den großen Zaren gelegt, als wir am Vortag in der Festung waren.
 
Höhere Wellen lassen unser Boot schwanken, während wir die Troitsky-Brücke - die Dreifaltigkeitsbrücke - passieren. Nicht weit entfernt liegt die "Aurora" vor Anker, jener Panzerkreuzer, der in der Oktoberrevolution von 1917 eine Rolle gespielt hat (siehe Bericht 49). Doch bevor wir ihn erreichen, biegen wir nach rechts in die Fontanka ein, ein kanalisiertes Nebenflüsschen der Newa. Der Name Fontanka leitet sich von dem Umstand ab, dass aus ihr einst das Wasser für die Fontänen in den Gärten der an ihrem Ufer liegenden Adelspaläste entnommen wurde. Und das sind nicht wenige. Während wir an den geschichtsträchtigen Gebäuden vorbeigleiten, schicke ich meine Fantasie auf die Reise. Uniformierte Herren mit stolz geschwellter Brust tauchen auf, die ihre gesellschaftliche Bedeutung wie einen Schild vor sich hertragen, ich sehe ihre in seidene Roben gekleideten Damen, kostbare Diademe und Armbänder mit glitzernden Diamanten, Diener eilen zwischen den eintreffenden Equipagen hin und her, während golden schimmerndes Kerzenlicht aus den Fenstern dringt, hinter denen ein rauschendes Fest seinen Anfang nimmt. Dann eines Tages das Ende dieser Zeit, die Revolution, die das alte Regime auf den Müllhaufen der Geschichte wirft und aus den Palästen der Wohlhabenden Wohnungen für Arbeiter macht, die aber nur wenige Jahre später Millionen von ihnen in den Untergang treibt. Vieles wurde in diesen Jahrzehnten zerstört. Den Rest besorgten deutsche Truppen im letzten Krieg, als sie die Stadt belagerten, die damals den Namen Leningrad trug, und ihren Bewohner zweieinhalb endlose Jahre bescherten, die ihnen wie ein Aufenthalt in der Hölle erschienen sein muss. Nun fahren wir - Deutsche - an den einstigen Ruinen vorbei und bewundern, wie großartig das russische Volk seine alte Geschichte wiederaufleben lässt.
 
 
Wir halten auf die Lomonossow-Brücke mit ihren Türmchen zu. Einst war sie ebenso beweglich wie jene großen Brücken, die auch heute noch in jeder Nacht zwischen 2 und 5 Uhr aufgeklappt werden, um großen Schiffen die Durchfahrt zu ermöglichen, damit aber gleichzeitig die einzelnen Bezirke der Stadt voneinander trennen. Bereits im 19. Jahrhundert hat man die aufklappbare Lomonossow-Brücke in eine feste umgebaut, um den Verkehr zu erleichtern. Wenig später machen wir abermals einen Schwenk, als wir die Fontanka verlassen und wieder in die Moika einbiegen. Vorbei geht es am Jussupow-Palast, berühmt wegen seines prächtigen Inneren, aber auch wegen der Tatsache, dass in diesem Gebäude im Jahr 1916 der umstrittene Mönch Rasputin - angeblicher Wunderheiler mit engem Kontakt zur Zarenfamilie - einen grausamen Tod fand. Auf der anderen Seite der Moika ragt ein Bauwerk für das Leben in den Himmel, oder wenn man so will, für die Ewigkeit: die riesige Isaaks-Kathedrale, eines der größten Kuppelgebäude der Welt mit Platz für 10.000 Menschen. Nur noch ein kurzes Stück, dann haben wir die Anlegestelle erreicht, an der wir vor einer Stunde losgefahren sind. Schon stehen neue Passagiere bereit, und kaum haben wir unser Boot verlassen, da drängen sie auch schon an Bord. Sankt Petersburg zu Wasser muss man ganz einfach gesehen haben, erinnern wir uns an die Werbung. Wir sind uns einig, dass diese Werbung berechtigt ist.
 

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