Cassoulet in Carcassonne.
Das glückliche Zusammentreffen von la Cuisine und la Histoire. Südfrankreich 2005
 
Das Cassoulet ist eine kulinarische Offenbarung, und das selbst hier, wo nicht la maman mit ihrem seit Generationen weitergegebenen Geheimrezept am Herd steht, sondern wo vermutlich mehrere angestellte Köche unter Druck Massen von Cassoulet für Massen von Touristen anrichten. Wir sitzen unter einem Sonnenschirm auf einem lauschigen Platz in der Cité de Carcassonne, der Burgstadt von Carcassonne im Süden Frankreichs, um uns herum mehrere dickstämmige Platanen und liebevoll eingerichtete Läden, vor uns auf dem Tisch eine Flasche Rotwein, und wir sind hungrig vom vielen Herumlaufen und Schauen. Neben einem Brunnen gibt ein Akkordeonspieler französische Lieder zum Besten, die jeder kennt und die perfekt zu dem blauen Himmel passen, zur Sonne und zu dem Wein, der uns bereits in einen Zustand angenehmer Leichtigkeit versetzt hat. Dann erscheint der Ober. Er stellt zwei Terrinen vor uns ab, und im selben Augenblick steigt uns ein würziger Geruch in die Nase. Erwartungsvoll lecken wir uns über die Lippen. Cassoulet ist ein deftiger Eintopf aus der Region, dem Languedoc. Er besteht aus Bohnen, Speck, gepökeltem Schweinefleisch und Würstchen, wozu wahlweise Lammfleisch hinzugegeben wird oder auch Gans oder Ente. Eine nüchterne Beschreibung einer - ich wiederhole mich - kulinarischen Offenbarung, alles beste Zutaten, alles perfekt kombiniert und auf den Punkt abgeschmeckt. Ein neuerlicher Beleg für die Berechtigung jener Redewendung, die so selbstbewusst in die Vollen greift: Vivre comme Dieu en France - Leben wie Gott in Frankreich. Genau das ist es, was wir gerade tun.
 
 
Mit einem Lob auf la cuisine habe ich diesen Bericht begonnen, doch die südfranzösische Küche ist natürlich nicht das Entscheidende, wenn man an diesem Ort ist. Carcassonne - das ist vor allem la histoire, eine zumeist glorreiche, gelegentlich tragische Geschichte, die sich insbesondere in jenem Bauwerk verkörpert, das sich dank beispielhafter Restaurierung als ein einzigartiges Beispiel mittelalterlicher Verteidigungstechnik erhalten hat und in dem wir uns gerade befinden: la Cité de Carcassonne. Als ich sie das erste Mal hinter Weinbergen auftauchen sah - das war im Jahr 1974 -, da schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, an den ich mich bis heute erinnere: Wie eine Spielzeugburg aus meiner Kinderzeit sieht sie aus, mit starken Mauern, trutzigen Türmen und auf einer Anhöhe gelegen, die die Angreifer - meine damaligen Spielkameraden - unmöglich hätten einnehmen können. Aber Carcassonne ist keine Spielzeugburg, sie ist nicht die Fantasie eines kleinen Jungen - diese Burg ist real. Ihr Anblick ist imponierend, vor allem wenn man sich vom Fluss her nähert, von der Aude, so wie wir das an diesem Morgen getan haben. Eine Brücke, ebenfalls aus dem Mittelalter, und dahinter ein Ensemble von Mauern, Wehrgängen und Türmen, wie ich es in diesen Dimensionen noch nicht gesehen habe. Jetzt in einer prächtigen Rüstung auf einem Pferd sitzen, das scharf geschliffene Schwert an der Seite, ein Fahnenträger voran und hinter mir ein Gefolge stolzer Krieger, von denen jedermann zwischen dem Massif Central und den Pyrenäen nur im Ton höchster Bewunderung spricht. An der Pforte dann die Losung, die uns Einlass verschafft, der Burghauptmann mit einem Willkommenstrunk, auf dem Turm eine holde Jungfrau mit schmelzendem Blick, auf ihren zartrosa Lippen die honigsüßen Worte: "Endlich bist du da, mein stolzer Recke! Komm und sei mein!" Doch das sind die Tagträume meiner frühen Jahre, denn natürlich erscheinen wir nicht als edle Ritter hoch zu Ross. Wir kommen zu Fuß. Vor uns stürmt eine Gruppe kamerabewehrter Japaner den Weg zur Burg hinauf, von hinten drängt eine lärmende Schulklasse heran, und auf dem Turm steht keine holde Jungfrau, sondern eine überdrehte Touristin, die den Eindruck erweckt, als habe sie die letzten Stunden in einem Weinfass verbracht.
 
Ein Mauerring von drei Kilometern, 52 Türme, ausgestattet mit allerlei militärischen Raffinessen, dahinter eine zweite Mauer von annähernd der gleichen Länge. Die beiden Ringe umschließen eine Fläche von 14 Hektar, auf denen bis zu 4.000 Bewohner lebten, und das angesichts der massiven Befestigung die meiste Zeit über so sicher wie in Abrahams Schoß. Neben den Wohnhäusern gibt es noch eine gesondert befestigte innere Burg sowie die gotische Basilika Saint-Nazaire, einen der bedeutendsten Sakralbauten Südfrankreichs. Heute leben nur noch etwa 200 Menschen  in der Burgstadt, dafür halten sich um so mehr Tagesbesucher dort auf, Tausende und Abertausende, die allein oder in Gruppen durch die Straßen schlendern, auf der Mauer spazieren oder die zahlreichen Läden nach Mitbringseln durchkämmen. Der übliche Touristenrummel an einem Ort, der auf der Liste der herausragenden Sehenswürdigkeiten des Landes ganz weit oben steht.
Im Jahr 1997 erklärte die UNESCO die Cité de Carcassonne zum Weltkulturerbe und setzte damit ein Ausrufezeichen hinter eine rund zweitausendjährige Geschichte. Einst von den Galliern gegründet, erlangte die Siedlung unter den Römern strategische Bedeutung aufgrund ihrer Lage an einer wichtigen Handelsstraße zwischen Mittelmeer und Atlantik. Eine Stadtmauer wurde errichtet, die allerdings dem Ansturm der Westgoten im 5. Jahrhundert ebenso wenig stand hielt wie um 725 den Arabern und danach jenem merowingischen Herrscher Pippin dem Kleinen, dessen Name einer frühmittelalterlichen Comedyshow entstammen könnte, hätte es so etwas damals schon gegeben. Der überwiegende Teil der Burgstadt wurde im Hochmittelalter errichtet, zu jener Zeit, als auch von hier aus ein gnadenloser Kampf gegen die Katharer geführt wurde, eine Sekte, die sich gegen den Papst gewandt hatte und die von diesem zusammen mit der weltlichen Macht bis zur Ausrottung bekämpft wurde. Über Jahrhunderte war die Burg von Carcassonne uneinnehmbar, bis sie mit dem Aufkommen neuer Waffen ihre strategische Bedeutung verlor und zu verfallen begann. Im 19. Jahrhundert schließlich setzten aufwändige Restaurierungsarbeiten ein, und es entstand jene idealtypische "Spielzeugburg", die wir heute so sehr bewundern.
 
Angela Merkel ist Kanzlerkandidatin geworden, lesen wir am Nachmittag in einer Zeitung, als wir uns auf unseren Campingplatz unterhalb der Cité zurückgezogen haben. Ob sie es wohl schaffen wird, fragen wir uns? Aber in diesem Augenblick ist uns das egal, wir sind im Urlaub, und die Beschäftigung mit der großen Politik mag bis zu unserer Rückkehr warten. Stattdessen blättern wir einmal mehr in unserem Reiseführer und stoßen dabei auf die zwar nette, jedoch völlig unglaubwürdige Legende, wie Carcassonne zu seinem Namen kam. Einst, so lesen wir, wurde die Festung belagert, das war zu einer Zeit, als eine Frau namens Madame Carcas Herrin der Burg war. Eine Frau als Herrin der Burg? entfährt es uns gleichzeitig. Aber egal - also weiter: Die Belagerung hielt an, und nach einer Weile forderte der Hunger erste Opfer. Da gab Madame Carcas den Befehl, mit den letzten noch verbliebenen Kornvorräten ein Schwein zu mästen. Man tat wie geheißen, und als das Tier fett war, warf man es von der Burgmauer zu den Belagerern hinunter. Diese dachten beim Anblick des Schweins, dass es in der Burg noch genug Vorräte geben müsse, wenn man sich eine solche Verschwendung leisten könne. Und so gaben sie die Belagerung auf und zogen ab. Als zum Jubel darüber die Burgglocken läuteten, soll jemand ausgerufen haben "Madame Carcas sonne", was soviel heißt wie: "Madame Carcas läutet". Womit die Stadt zu ihrem Namen gekommen war. Nun ja ...
 
 
Am Nachmittag machen wir uns noch einmal auf den Weg in die Burgstadt. Ziellos bummeln wir in den Kopfsteinpflastergassen umher, durchkämmen die Läden, von denen einige Kunst anbieten, die meisten jedoch Kitsch - vor allem mittelalterlichen aus naheliegendem Grund -, und landen schließlich wieder auf jenem Platz, auf dem wir die Mittagszeit verbracht haben. Der Ober bringt abermals eine Flasche Wein, dazu die Speisekarte, letztere überflüssigerweise, denn wir wissen bereits, was wir wollen. Es dauert nicht lange, und zwei weitere Terrinen Cassoulet stehen vor uns auf dem Tisch. Im Mittelalter galt die Völlerei als eine der sieben Todsünden - wie schön, dass diese Zeit lange vorbei ist, deshalb greifen wir herzhaft zu. Erst bei Anbruch der Dunkelheit verlassen wir zusammen mit den anderen späten Besuchern die Burgstadt. Wie viele historische Bauten auf der Welt ist sie angestrahlt, Mauer und Türme sind in ein warmes, gelbliches Licht getaucht. Die Cité geht zur Ruhe, bevor sie am nächsten Morgen erneut von Besuchern aus aller Welt gestürmt werden wird. Schwer liegen Würste und Speck in unseren Mägen, und schwer rumort der Wein in unseren Schädeln. Im Mittelalter wäre uns dafür das höllische Erleiden ewiger Qualen sicher gewesen. Heute drohen lediglich unruhiger Schlaf und beim Aufwachen ein Kater. Auf halbem Weg zu unserem Campingplatz drehen wir uns noch einmal um und sehen die Cité auf dem Hügel liegen - ein Bild von einer Burgstadt, ein stimmungsvoll angeleuchtetes Ensemble, das sich malerisch gegen den Nachthimmel abhebt. Ohne dass es vieler Worte bedürfte, sind wir uns einig: Carcassonne und Cassoulet - das ist fürwahr eine unschlagbare Kombination!
 

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