Grachten, Fietsen und eine chinesische Ente.
Ein Abstecher nach Amsterdam. 2007
 
Es ist das Jahr 2007, es ist Sommer, und wir sind auf dem Weg von Berlin nach Schottland. Im niederländischen Zandvoort haben wir Station gemacht, einer kleinen Gemeinde am Meer, die sich von einem verschlafenen Fischerdorf zu einem Seebad von einiger Bedeutung gemausert hat. In zwei Tagen wird unsere Fähre in See stechen, die uns von dem nahe gelegenen Hafen Ijmuiden (siehe Bericht 62) ins britische Newcastle unweit der schottischen Grenze bringen soll. Natürlich könnten wir ebenso wie viele andere Touristen auf Liegen in der Sonne schmoren, uns im Wasser tummeln oder in einer der gemütlichen Strandbars an Cocktails nippen. Aber das ist nicht unser Ding. Wenn wir schon so weit fahren, dann wollen wir auch etwas sehen. Und was liegt in Zandvoort näher als ein Ausflug in jene Stadt, die in den Katalogen für Städtereisen stets einen der vorderen Plätze einnimmt: Amsterdam. Weniger als vierzig Kilometer beträgt die Entfernung, die Bahnverbindung ist gut, also machen wir uns auf den Weg.
 
Eine knappe Stunde später haben wir die niederländische Hauptstadt erreicht. (Um möglichen Einwänden zu begegnen: Jawohl, Amsterdam ist die Hauptstadt des Landes. Den Haag ist "nur" der Regierungssitz.) Unser Zug läuft in der Centraal Station ein, dem Hauptbahnhof, und damit sind wir bereits mitten im Getümmel. Betrachtet man den Stadtplan von Amsterdam, so gibt es eine von der Bahn markierte annähernde Gerade, auf deren einer Seite der Hafen liegt und auf deren anderer sich die Altstadt mit den Grachten befindet, von denen sich mehrere halbkreisförmig durch die alten Stadtviertel ziehen. Unser erster Weg führt uns zu einem jener Pommes-Läden, von denen es in der Umgebung des Bahnhofs gleich mehrere gibt. Obwohl noch früh am Vormittag, ist der Andrang erheblich, wobei die meisten Kunden wie Touristen aussehen. "Pommes mit Mayo" sind eben nicht nur ein niederländisches Klischee, sondern auch eine niederländische Realität. Für mich sind sie seit meinem ersten Besuch bei unserem Nachbarn vor vielen Jahren genauso typisch für dieses Land wie Matjes und Käse.
 
 
Typisch sind auch die Grachten, wobei es entgegen manch fälschlicher Annahme nicht nur in Amsterdam welche gibt. Das Wort "Gracht" bezeichnet zu Deutsch einen Kanal oder Wassergraben, und Kanäle gibt es auch in Alkmaar und Delft, in Utrecht und Haarlem und in anderen holländischen Städten. Am bekanntesten aber sind zweifellos jene von Amsterdam, deren Bilder in keinem Reiseführer fehlen. Ach ja, und dann sind da natürlich auch noch die Fahrräder, die sind nicht weniger typisch und ebenfalls kein Klischee. Holländer sind leidenschaftliche und fleißige Radler, und wenn auch in Deutschland die Zahl der Radfahrer in den letzten Jahren ganz erheblich zugenommen hat, so haben wir zu den dortigen Verhältnissen noch längst nicht aufgeschlossen. "Fietsen" heißen die Räder, ein Wort, das etymologisch auf "Ersatzpferde" verweist, auf "Stahlrösser", wie die Holländer ihre Gefährte auch nennen. Wie viele wir an diesem Tag sehen? Keine Ahnung, aber es müssen Tausende oder gar Zehntausende sein. Oft begegnen wir ihnen in langen Reihen abgestellt an den Grachten, ein schönes, typisch niederländisches Fotomotiv.
 
Im Jahre 1612 - Amsterdam erlebte gerade eine Zeit wirtschaftlicher Prosperität - wurde auf Initiative des damaligen Bürgermeisters mit der Anlage des "Amsterdamer Grachtengürtels" begonnen, der heute die Besucher der Stadt so sehr begeistert. Insbesondere als Transportwege für Güter spielten die neu angelegten Kanäle eine Rolle, daneben dienten sie Verteidigungszwecken und den Anwohnern überdies als Kloake. Herengracht, Keizersgracht und Prinsengracht sind die bekanntesten von ihnen. An ihren Rändern wachsen Ulmen, die einzige akzeptierte Baumart, da deren Wurzeln nur in die Tiefe wachsen und nicht die Kanalwände durchdringen. Rund zweitausend mit Wasser und Strom versorgte Wohnboote liegen fest vertäut in den Grachten. Auf uns machen sie den Eindruck einer Bohème-Idylle, die Unabhängigkeit, Gemütlichkeit und eine gewisse Romantik ausstrahlt. Zumindest während der warmen Jahreszeit dürfte dieses Bild auch zutreffend sein, aber was ist, wenn es kalt wird? Wir bummeln an der Prinsengracht entlang und müssen dabei wiederholt PKWs und Lieferwagen ausweichen, denn der Platz zwischen der Gracht und den Häusern ist eng. Eng dürfte es auch im Inneren vieler Häuser sein. Sie sind schmal, mit der Folge, dass sich das Wohnen oft in mehreren Etagen abspielt, ein ständiges treppauf und treppab. Kein Ort zum Altwerden also?
Touristenboote gleiten an uns vorüber, wir hören die Stimmen der Fremdenführer, die wortreich Loblieder auf "Amsterdam, das Venedig des Nordens" singen. Als wir das Haus Prinsengracht 263-267 passieren, entdecken wir eine Tafel, die auf Anne Frank hinweist. Augenblicklich weicht unsere Unbeschwertheit einem Gefühl der Beklemmung. Wie mag es für dieses jüdische Mädchen gewesen sein, versteckt in einem Haus zu leben, stets in Todesangst vor der Entdeckung, während draußen tagein und tagaus ihre späteren Henker vorbeiliefen? Gottseidank ist diese schreckliche Zeit vorbei. Heute braucht sich hier - und auch bei uns - niemand mehr zu verstecken. Einmal mehr wird uns bewusst, dass wir, die wir der Nachkriegsgeneration angehören und diese Verhältnisse nicht miterleben mussten, das große Los gezogen haben.
 
Der Blumenmarkt. Wem klänge nicht das Lied von den Amsterdamer Tulpen in den Ohren, die man schicken werde, "wenn der Frühling kommt"? Vermutlich den Touristen aus Asien, die hier recht zahlreich vertreten sind. Von den Deutschen allerdings dürfte dieser Liedtext bei einem Bummel über den Blumenmarkt immer mal wieder gesummt werden, auch wenn der Frühling und damit die Zeit der Tulpen bereits vorbei ist. Aber was soll's - da sind ja noch die Massen von Zwiebeln für die nächste Saison. Daneben gibt es jede Menge anderer Blumen und Pflanzen und nicht zu vergessen: den einschlägigen Krimskrams, den viele Touristen so lieben. Holzschuhe in Daumennagelgröße etwa für die Verwandten daheim.
 
 
Was die Touristen - die normalen zumindest - nicht lieben, was sie aber dennoch interessiert, sind die Coffeeshops. Von ihrem Reiseleiter darauf aufmerksam gemacht, sehen wir eine Gruppe Franzosen auf einen Shop starren, als sei er nichts weniger als das Entrée zu Sodom und Gomorrha. Es ist ein anderer Typ von Besuchern, der sich von diesen Läden angezogen fühlt, bei denen der Coffee das Allerunwichtigste ist. Das Credo dieser Einrichtungen erinnert mich an den Ulkspruch der 1960er und 1970er Jahre: Haschu Haschisch in den Taschen, haschu immer waschu naschen! In Amsterdam ist Haschisch bereits seit vielen Jahren legal, sofern es sich um den Konsum handelt, nicht aber um den Anbau oder die Einfuhr. - Sehr speziell ist auch eine zweite Klientel von Touristen in der holländischen Hauptstadt. Der Comedian Mario Barth hat sie in einer seiner wie ich finde witzigsten Nummern beschrieben, seine Reise mit einem Freund nach Amsterdam. Aber zweifellos ist das Milieu in dieser Stadt ebenso wenig witzig wie das in anderen Städten. Leicht bekleidete, von Rotlicht beleuchtete Damen hinter Schaufenstern, auffordernde Blicke und anzügliche Gesten, Reisegruppen, die sich in einer Mischung aus neugierigem Prickeln und mehr oder weniger authentischem Abscheu die Straße entlangschieben und darauf warten, dass einer der scheinbar ziellos umherschlendernden Männer den Schritt durch die Lustpforte wagt. Ein knallhartes Geschäfts, das sich von dem in anderen Städten allenfalls durch die Lage in einer attraktiven Umgebung unterscheidet.
 
Professionell und routiniert geht es auch ein paar Straßen weiter im chinesischen Viertel zu, dem ältesten auf dem europäischen Festland. Rund fünftausend Menschen leben hier, es gibt einen buddhistischen Tempel, zahlreiche Geschäfte mit allem, was Chinesenherzen begehren, und es gibt Restaurants. Abgesehen von ihren Namen erkennt man sie leicht an den tief goldbraun gebratenen Enten, die in den Fenstern hängen. Hungrig vom Sightseeing steuern wir das nächstliegende Restaurant an und wissen schon beim Eintreten, dass wir hier richtig sind. Helles, ungemütliches Licht beleuchtet ein Kantinen-Interieur, der Geräuschpegel unterscheidet sich nur unwesentlich von dem eines Bahnhofs. Nachdem wir uns gesetzt und aus der Speisekarte ausgewählt haben, erscheint ein völlig emotionsloser Kellner (man könnte sein Verhalten auch unfreundlich nennen). Aber die Ente, die kurz darauf in zwei ordentlichen Portionen auf unserem Tisch steht! Zart und knusprig, perfekt gewürzt und verführerisch duftend auf einem Bett von Reis und chinesischem Gemüse, ist sie ein Fest für die Geschmacksknospen auf unserer Zunge. Sie schmeckt so gut, dass wir uns auch noch die Lippen lecken, als wir das Restaurant bereits verlassen haben und uns auf dem Rückweg zur Centraal Station befinden. Bevor wir uns auf die Suche nach unserem Zug machen, werfen wir noch einen letzten Blick zurück. Ja, diese Stadt hat schon was, da sind wir uns einig! Hier könnten wir irgendwann einmal leicht ein paar Tage verbringen. Für dieses Mal ist unsere Zeit allerdings abgelaufen. Noch eine Nacht in Zandvoort, danach geht es in Ijmuiden auf die Fähre und mit ihr zum Ziel unserer Reise: nach Schottland.
      
                                                                                                                                   Manfred Lentz
 

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