Die Ziege auf dem kalten Blechdach
oder: Auch auf dem Dach eines Busses kann man reisen. Indien 1994
 
Die Ziege schaut mir direkt in die Augen, wobei sie leicht hin- und herschwankt, als wäre sie betrunken. In ihrem schwarzen Fell zaust der Wind, ebenso wie in den Haaren ihres Besitzers und der anderen Männer, die vor uns sitzen. Außer bei denen, die sich in weiser Voraussicht eine Mütze aufgesetzt oder ein Tuch um den Kopf geschlungen haben. Einige grinsen uns an, distanzlos könnte man sagen, man könnte es aber auch solidarisch nennen. Anderen merkt man an, dass wir an ihrem Weltbild kratzen. Aber sie alle sind Teil der Gemeinschaft, die sie und wir für eine begrenzte Zeit sind. Denn wir alle haben eines gemeinsam: Wir sitzen im selben Boot, oder in diesem Fall zutreffender: auf demselben Bus.
 
Schon als wir uns dem Halteplatz näherten, wussten wir, dass es eng werden würde. Etliche Reisende warteten bereits, unter ihnen auch einige Touristen, denn der im indischen Rajasthan gelegene Rattentempel von Deshnok ist nun mal ein Ort, der neben Einheimischen auch jede Menge Touristen anzieht. Die meisten von ihnen gehören zu Reisegruppen, ihre An- und Abfahrt ist kein Problem. Manche dagegen sind auf eigene Faust unterwegs so wie wir und folglich auf öffentliche Transportmittel angewiesen. In diesem Fall auf einen Bus. Was theoretisch auch gut funktioniert, wenn die Zahl der verfügbaren Plätze und die der Reisewilligen sich in etwa die Waage halten. Doch an diesem Januartag im Jahr 1994 ist das - wieder einmal? - nicht der Fall. Zwei Dutzend wartende Einheimische zählen wir, dazu drei Rucksacktouristen, Zahlen also, die ein weitgehend leerer Bus problemlos aufnehmen könnte. Aber der Bus, der nach längerer Wartezeit endlich vorfährt, ist beinahe voll. Eingehüllt in eine Wolke aus Staub kommt er an dem Halteplatz zum Stehen - und ich frage mich nicht zum ersten Mal, warum die Inder von ihrer einstigen Kolonialmacht nicht das queueing übernommen haben, das geordnete, allen Streit und jede Hektik ausschließende Bilden einer Warteschlange. Vielleicht widerspricht es ihrer Mentalität, vielleicht ist es auch ein bewusster Affront gegen ihre einstigen Herren, doch wie auch immer - kaum hat der Bus gehalten, da bricht der nervenaufreibende Kleinkrieg um die noch verfügbaren Plätze auch schon los. Einige der Kämpfenden haben Erfolg, unter ihnen die drei mit den Rucksäcken. Wir hingegen scheitern. "Full!", ruft der Fahrer lautstark und macht dazu eine abwehrende Geste, als wolle er böse Geister bannen. Full indeed, das sehen wir, und angesichts des Drängelns im Bus kann man ihm seine Geste nicht einmal übel nehmen. Nur ist - anders als bei uns in Berlin - mit dem nächsten Bus nicht in zehn Minuten zu rechnen, sondern allenfalls in einigen Stunden, falls an diesem Tag überhaupt noch einer fährt. Was sehr ärgerlich für uns wäre, denn wir wollen nach Bikaner zurück. In die Stadt, aus der wir am Morgen zu den heiligen Ratten aufgebrochen sind.
 
 
Doch wäre Indien nicht Indien, gäbe es für unser Problem keine Lösung. In diesem Fall kommt sie von oben. "Hey, come up!", ruft uns eine Stimme zu. Wir heben die Köpfe und schauen in die Augen von mehreren Indern, die eng aneinandergedrängt auf dem Busdach kauern und auf eine Stelle deuten, wo offensichtlich noch ein Plätzchen für uns frei ist. Ich sehe Karin an, sie sieht mich an, und wir schlucken. Natürlich ist uns das Auf-dem-Dach-Reisen von früheren Asienaufenthalten bekannt. Wiederholt haben wir es beobachtet und dabei jedes Mal die oben Sitzenden bewundert, wie sie trotz ihrer ungemütlichen, vor allem aber gefährlichen Position eine Unbeschwertheit ausstrahlten, als säßen sie - Sicherheitsgurte inklusive - auf gepolsterten Sitzen. Aber wir selbst? Bisher noch nie. Doch welche Alternative haben wir? Auf den nächsten Bus warten? Oder falls es keinen mehr geben sollte, uns in Deshnok eine Unterkunft suchen? Aspekte, die eigentlich gut überlegt sein wollten, indes bleiben uns leider nur wenige Sekunden, bringen sich neben uns doch bereits andere Dach-Aspiranten in Stellung. Also nach oben. Etwas hilflos suchen wir noch nach einem geeigneten Aufstieg, als plötzlich kräftige Hände nach uns greifen und uns aufwärts ziehen. Im nächsten Augenblick befinden wir uns auf dem Dach inmitten einer Schar grinsender Inder. Ihre Zurufe verstehen wir nicht, doch allem Anschein nach sind sie von unserer Aktion sehr angetan. Wortreich schütteln sie unsere Hände, sind uns beim Hinsetzen behilflich - wobei wir in dieser exponierten Lage bestimmt keine elegante Figur machen -, und dann prasseln auch schon jene Fragen auf uns nieder, die jedem Indienreisenden noch wochenlang nach seiner Rückkehr in den Ohren klingen: "Where you from?" (wie immer ohne das eigentlich dazugehörige are) und "What's your name?" Und während wir uns noch in unsere ungewohnte Lage hineinzufinden versuchen, geht auf einmal ein Ruck durch den Bus und er fährt los. Und wir auf dem Dach.
Dachfahrten ohne unsere Beteiligung. Nepal 1984 und 1987
Wir groß unsere Distanz bis zum Erdboden ist, weiß ich nicht, aber ich will auch nicht darüber spekulieren. Für einen Knochen- oder einen Genickbruch dürfte es reichen, im Zweifel auch für beides. Unsere neuen Freunde deuten auf das niedrige Geländer, das sich um das Busdach herumzieht. Zweifellos wurde es für Gepäck angebracht, jedoch erweist es sich auch für menschliche Zuladung als nützlich. Dankend nehmen wir den Hinweis auf und klammern uns fest, während der Bus auf holprigen Straßen den Ort durchquert und anschließend auf ebensolchen Straßen in die Landschaft eintaucht. In die Wüste Thar, die einen erheblichen Teil des Bundesstaates Rajasthan ausmacht, und durch die wir nun mit geschätzten 50-60 Stundenkilometern fahren. Da wir im Januar unterwegs sind, ist es kalt. Allmählich versiegt das Fragen unserer Dachreise-Gefährten, und ihre Scherze verebben. Wie wir, so ziehen auch sie die Köpfe ein und versuchen auf diese Weise, dem Wind so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Selbst die Ziege vor meinen Füßen macht sich klein und legt den Kopf zwischen ihre Beine. Und wenn der Fahrer nun plötzlich bremsen muss? geht es mir durch den Kopf, und das nicht nur ein Mal. Doch wie es aussieht, bin ich mit diesem Gedanken allein, von Karin einmal abgesehen, die neben mir sitzt. Unseren indischen Mitreisenden hingegen scheint diese Frage nicht das geringste Kopfzerbrechen zu bereiten. Eine Frage der Gewohnheit? Oder macht die Erwartung ihrer Wiedergeburt sie resistent gegen die Angst vor dem Tod?
 
 
Mehrmals halten wir an, meist in der Nähe kleiner Dörfer, zu unserer Verwunderung aber auch einige Male auf freier Strecke. Fahrgäste steigen aus, und andere nehmen ihre Plätze ein, bis sich die Situation nicht weit vor unserem Ziel abrupt ändert. "Police!", ist das einzige Wort, das ich verstehe, als sich unsere Dachfreunde samt Ziege plötzlich eilig an den Abstieg machen. Wir folgen ihnen. "Police" - vollständig übersetzt heißt das vermutlich: Irgendwo vor uns lauert die Polizei, und da das Fahren auf dem Dach verboten ist, könnte sie dem Fahrer des Busses und den Dachreisenden Schwierigkeiten bereiten. Wie diese aussehen würden, weiß ich natürlich nicht, aber offensichtlich sind sie ausreichend, die Betroffenen - und mit ihnen auch uns - zu diesem unverzüglichen Platzwechsel zu veranlassen. Wir alle, die wir eben noch oben auf dem Bus saßen, zwängen uns nun in dessen Inneres. Nur gut, dass die meisten Fahrgäste Inder sind und damit überwiegend schlank. In einem Bus voller übergewichtiger Touristen hätte die Aktion vermutlich Gewaltausbrüche heraufbeschworen. So jedoch kommen wir alle mit, wenngleich es nun mehr als eng ist, nicht zuletzt für die Ziege, die zwischen Füßen und Gepäck unter einem Sitz landet. Noch während wir uns sortieren, setzt sich der Bus erneut in Bewegung. Ein Stück weiter treffen wir dann tatsächlich auf zwei Polizisten. Während sich der eine gelangweilt vor seinem Wachhäuschen fläzt, bedeutet sein Kollege unserem Fahrer anzuhalten. Wortlos und mit ausdrucksloser Miene umrundet er unseren Bus, späht ins Innere, was ihm wegen der Fülle kaum wesentliche Erkenntnisse bringen dürfte und richtet den Blick dann nach oben. Dass sich auf dem Dach fast kein Gepäck befindet, dürfte ihm nicht entgehen, doch er kommentiert diese Tatsache nicht. Weil es Absprachen zwischen den Vertretern der Staatsmacht und den Busfahrern gibt? Mit einer lässigen Handbewegung signalisiert der Polizist, dass er nichts zu beanstanden hat. Unserer Fahrer legt den Gang ein und gibt Gas. Nur noch wenige Kilometer sind es bis Bikaner. Aber diesmal sitzen wir nicht auf, sondern im Bus.

                                                                                                              Manfred Lentz
 
 

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