700 aufregende Meter
Die Partnachklamm ist eines der "100 schönsten Geotope Bayerns". 2010
 
Zum Glück waren wir nicht am Morgen des 1. Juni 1991 dort, als sich 5.000 Kubikmeter Gestein aus der Felswand am südlichen Ende der Klamm lösten und donnernd in die Tiefe stürzten. Zwar kostete dieses Ereignis niemanden das Leben, was ein reiner Zufall war. Aber der Schrecken dürfte denjenigen, die sich gerade in der Nähe befanden, arg in die Glieder gefahren sein. Zwölf Jahre später kam es während einer regulären Sperrung der Klamm zu einem erneuten Felssturz, einem kleineren, bei dem wegen der Sperrung abermals niemand zu Schaden kam. Glück gehabt, könnte man sagen. Und so haben wir durchaus ein mulmiges Gefühl, als wir uns im August 2010 zu einem Besuch auf den Weg machen. Der Anmarsch ist unspektakulär, ein langer Weg, der von Garmisch-Partenkirchen am Olympia Skistadion von 1936 vorbei hinauf führt, im Hintergrund die Gipfel des Wettersteingebirges. Nicht das geringste Anzeichen von dem, was uns erwartet. Wer Lust hat, kann die Strecke bis zur Klamm laufen, für romantische Naturen bieten sich Pferdekutschen an. Herausgegeben vom Bayerischen Landesamt für Umwelt gibt es eine Liste, in der die "100 schönsten Geotope Bayerns" zusammengestellt sind. Die Partnachklamm - wen wundert's! - ist eines davon: eine 700 Meter lange Schlucht, die die vom Zugspitzmassiv her kommende Partnach in jahrtausendelanger Arbeit in den Fels geschnitten hat.
 
 
Ein Kassenhäuschen bezeichnet den Eingang zur Klamm. Wir zahlen ein paar Euro, dann sind wir drin. Rechts und links ragen Felsen rund 80 Meter in die Höhe. Der Abstand zwischen ihnen ist so gering, dass die Sonne nur selten den Grund der Schlucht erreicht. Den Grund - das heißt die Partnach, die ungebärdig und wild schäumend durch die Felsenge schießt. Hier unten ist die Luft kühl. Obwohl es Sommer ist, sind wir froh, uns etwas wärmer angezogen zu haben - anders als einige Besucherinnen, die mit T-Shirts und auf hochhackigen Schuhen durch die Klamm staksen und alles andere als glücklich aussehen. Unser zweiter Eindruck neben der Kühle: Es ist laut, und zwar so laut, dass man sich an manchen Stellen nur brüllend verständigen kann. Was für ein faszinierender Ort, der bei jedem Schritt einen neuen Anblick bereit hält! Welch ein Hexenkessel, in dem das Wasser wild tost, in dem es über Felsblöcke springt, sich in Strudeln dreht und dabei mit einer solch urtümlichen Kraft durch die Schlucht schießt, dass es empfindsamen Seelen glatt Angst machen kann! Nicht zuletzt deshalb, weil die Partnach an vielen Stellen beinahe zum Greifen nah ist.
Der Weg, den wir gehen, ist von Menschenhand aus dem Felsen gehauen. Oft ist er so eng, dass zwei Personen kaum einander ausweichen können, und zudem ist er auch noch niedrig. Wo immer man hinschaut - überall ist Wasser. Es stürzt in schmalen Schleiern vom Schluchtrand herab, rieselt von den Wänden, tropft uns in den Nacken, sammelt sich in Pfützen auf unserem Weg und macht ihn rutschig. Auf einer Strecke von 100 Metern führt der Weg direkt durch den Fels, ein Tunnel mit "Fenstern" zum Wildbach an der Stelle, an der 1991 die Gesteinsbrocken herabgestürzt sind. Das Ergebnis war eine Stauung oberhalb des Sturzes, mit der Folge, dass sich die Partnach einen neuen Weg suchen musste. Da der ursprüngliche Steig für die Besucher zerstört war, sprengte man den Tunnel in den Fels, durch dessen Öffnungen wir das Naturschauspiel heute ohne  Gefahr bestaunen können. Weitestgehend ohne Gefahr, sollte ich sagen, denn natürlich kann niemand garantieren, dass es nicht erneut einen Steinschlag geben wird.
 
Opfer gab es in früheren Jahren - vor dem Jahr 1912, als die Klamm zum Naturdenkmal erklärt und nach der Anlage eines begehbaren Weges für ein staunendes Publikum geöffnet wurde. Ab dem 18. Jahrhundert hatte man die Partnach als Triftbach genutzt: Oberhalb der Klamm geschlagenes Holz wurde in Stücke zersägt und mit dem Zeichen des Eigentümers versehen in die Fluten geworfen, um in Partenkirchen wieder herausgefischt und als Brennholz verwendet zu werden. Verkeilten sich Stämme in der Klamm, ließ man Holzarbeiter vom Schluchtenrand an Seilen hinunter, um die Blockade aufzulösen. Eine lebensgefährliche Angelegenheit - tonnenschwere Stämme in tosendem Wasser, die einen Mann leicht erschlagen konnten. Für so manche Familie dürfte die Nachricht vom Schicksal des Ehemanns oder des Vaters eine Nachricht aus der Hölle gewesen sein.
 
 
Rund 200.000 Besucher erfreuen sich in jedem Jahr an dem Naturschauspiel, und hätten die umliegenden Gemeinden im November 2013 für die Olympischen Winterspiele im Jahr 2022 gestimmt, anstatt sie so deutlich abzuschmettern, wären es gewiss noch weit mehr geworden. Aber auch so hat die Partnach-Klamm ihre Fans. Der Großteil von ihnen kommt im Sommer, obwohl die Klamm - anders als die meisten vergleichbaren Schluchten - auch im Winter begehbar ist. "Ein Wintermärchen" soll sie dann sein, eine bizarre Szenerie aus Eis und Schnee. Wir jedoch sind im Sommer hier. "Da hinten ist die Klamm zu Ende!", hören wir eine Frau hinter uns ausrufen. Unverkennbar schwingt in ihrer Stimme eine gewisse Erleichterung mit, was auch nicht weiter erstaunlich ist: Wer tagein, tagaus in einer behüteten Umgebung lebt, für den ist die Begegnung mit einer solch extremen Natur halt etwas Fremdes. Ja, mancher mag sie sogar als feindlich empfinden. Hinter dem Ausgang der Klamm sieht das dann allerdings gleich ganz anders aus: Die Sonne scheint wieder hell, in den Bäumen zwitschern die Vögel, und die eben noch in ein enges Bett gewängte Partnach wird von einem breiten Strand gesäumt. Nichts in dieser Idylle deutet darauf hin, dass gerade noch alles ganz anders war. Wer will, kann für den Rückweg denselben Weg durch die Schlucht wählen. Wir entscheiden uns für eine Strecke oberhalb, vorbei an Bergwiesen mit bunt blühenden Blumen und einem Gasthaus mit großartigem Ausblick, in dem es sich trefflich einkehren lässt. Irgendwo unter uns, nicht hörbar und auch nicht zu sehen, liegt die Klamm. "Ein ganz großes Erlebnis!", heißt es in einem Prospekt, den wir vor unserer Tour in der "Tourist Information" in Partenkirchen eingesteckt haben. Stimmt - ein 700 Meter langes ganz großes Erlebnis!
                                                                                                            
                                                                                                          Manfred Lentz
 

Die neuen Berichte auf reiselust.me erscheinen jeweils
am 10., 20. und 30. jedes Monats