Wie das Bier in den Himalaya kommt
 
Träger ist in Nepal ein Beruf wie alle anderen. 1987
 
Es ist ein Spruch aus der Bibel, der mir am Morgen des 17. September 1987 einfällt, als wir uns am Ortsrand von Pokhara mit Durge und Dany treffen: "Einer trage des anderen Last". Der Spruch geht auf Paulus zurück und entstammt seinem Brief an die Galater. Wobei der Apostel natürlich ganz anderes im Sinn hatte als das, woran ich denke. Aber der Spruch passt einfach zu gut auf unsere Situation, auch wenn die Kombination nur ein mäßig intelligenter Witz ist: "Einer" - das sind Durge und Dany; "des anderen" - das sind Karin und ich; und die "Last" sind unsere Rücksäcke. Die beiden Nepalis hat uns der Wirt unseres Guest Houses vermittelt, als wir uns bei ihm nach Trägern für unsere Trekking-Tour erkundigten. Trekking in Nepal bedeutet, tage- oder wochenlang in den Bergen unterwegs zu sein, und das mit einem mehr oder weniger schweren Rucksack, da man das Meiste, was man in dieser Zeit braucht, mitnehmen muss. Nur ist das mit dem Mitnehmen so eine Sache: Acht oder mehr Stunden Laufen am Tag sind eine lange Zeit, und dass es bergauf und bergab geht - was wir Berliner als Flachlandbewohner überhaupt nicht gewohnt sind - macht die Sache nicht leichter. Aber Urlaub soll ja bekanntlich Spaß machen, und damit er das kann, gibt es für diese Art Urlaub Menschen, die tragen. Oder um es mit Paulus zu sagen: "Einer trage des anderen Last".
 
Sind wir Ausbeuter, wenn wir Durge und Dany unsere Rucksäcke aufladen? Fiese Herrenmenschen, die sich auf den Knochen armer Einheimischer eine schöne Zeit machen? Argumente wie diese habe ich wiederholt gehört - 1984, als ich das erste Mal mit Trägern in Nepal unterwegs war und drei Jahre später noch einmal. Doch Argumente wie diese sind dumm. Zum einen sind unsere Rucksäcke, von denen der schwerere 15 Kilogramm wiegt, für Nepalis ein Klacks. Die Lasten, die sie tragen, bewegen sich in ganz anderen Dimensionen. Zum zweiten schaffen wir Arbeit in einem Land, in dem Arbeitslosigkeit ein großes Problem ist. Und schließlich zahlen wir für nepalische Verhältnisse einen guten Lohn, den andere, die nicht tragen, sich mit härterer Arbeit verdienen müssen. Träger für Touristen kann für Einheimische ein Traumjob sein. Ich schreibe ganz bewusst "kann", denn es gibt Strecken, die auch für die Bewohner des Himalaya ans Eingemachte gehen. Dann nämlich, wenn der Weg ganz nach oben auf die höchsten Gipfel der Welt führt, von denen Nepal etliche besitzt. Davon ist in diesem Bericht jedoch nicht die Rede. Hier geht es um Trekking auf mäßig schwierigen Wegen, was für uns durchaus eine Anstrengung ist, für die Einheimischen aber eher eine Kleinigkeit. Eben ein Klacks.
 
 
Durge und Dany erhalten jeder 100 Rupien pro Tag, dazu bezahlen wir das Essen für sie und die Unterkünfte. 100 Rupien sind im Jahr 1987 etwa 8 DM, das ist einiges mehr als der damalige nepalische Durchschnittslohn. Heute muss ein Tourist tiefer in die Tasche greifen, nicht zuletzt deshalb, weil seit 2003 Träger nur noch über spezielle Agenturen vermittelt werden dürfen, die sich ihre Dienste teuer bezahlen lassen. Unsere Träger sind mit dem ausgehandelten Deal sehr zufrieden. Zwölf Tage sind wir mit ihnen unterwegs, von Pokhara nach Muktinath, eine landschaftlich äußerst reizvolle und abwechslungsreiche Strecke, der ich irgendwann einen eigenen Bericht widmen werde. Wir selbst bereuen unser Arrangement mit den beiden keinen Augenblick. Abgesehen davon, dass sie es uns durch das Tragen unserer Rucksäcke ermöglichen, die Wanderung durch den Himalaya zu genießen, bekommen wir viele interessante Informationen über Land und Leute von ihnen, sie weisen uns den Weg - den wir auch ohne sie gefunden hätten, aber so ist es einfacher - und als es einmal gilt, einen abgerutschten und deshalb gefährlichen Hang zu überwinden, sind sie uns eine große Hilfe. Anders gesagt: Die beiden sind beinahe wie Vater und Mutter zu uns. 1984, auf meiner ersten Tour, war es mit den damaligen Trägern nicht anders. Unternehmungen wie diese sind eine klassische Win-win-Situation: Jeder der Beteiligten hat etwas davon, und am Ende der Tour sind alle zufrieden. Durge und Dany auch deshalb, weil sie im Vergleich zu vielen ihrer Trägerkollegen, denen wir unterwegs begegnet sind, weit weniger getragen, aber einiges mehr verdient haben.
Für diejenigen, die wenig über Nepal wissen: Das Land liegt mitten im Himalaya und besteht also im Wesentlichen aus Bergen, von einem Streifen Flachland an der Grenze zu Indien einmal abgesehen. Nimmt man die Tatsache hinzu, dass Nepal eines der ärmsten Länder der Erde ist, so kann man sich leicht vorstellen, wie die verkehrliche Infrastruktur in diesem Land aussieht. Erschlossen sind - abgesehen von dem Streifen an der indischen Grenze - lediglich die beiden Großtäler von Kathmandu, der Hauptstadt, und Pokhara. Beide Städte sind durch eine rund 200 Kilometer lange Straße miteinander verbunden, ein paar weitere Straßen gibt es auch noch, ebenso einige inner-nepalische Flugverbindungen, aber in puncto Verkehr ist das auch schon alles. Die vielen kleinen Dörfer und Einzelgehöfte sind durch Jahrhunderte alte Fußwege miteinander verbunden, die ausschließlich von Menschen und Tieren benutzt werden können, nicht aber von dem modernen Verkehr. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, diese Lebensinseln miteinander zu verbinden und sie mit allem Nötigen zu versorgen, und das sind Tragtiere und Träger. Kein Wunder also, dass Träger in Nepal ein Beruf ist. Kein sehr angesehener, aber ein notwendiger Beruf. Und nur allzu oft ein verdammt harter.
 
Als wir die Männer mit den Kunststoffrohren auf uns zukommen sehen, schütteln wir ungläubig den Kopf. Nepalis sind relativ klein und schlank, zumindest solange sie nicht zu den Arrivierten gehören und sich ihren Lebensunterhalt noch mit harter Arbeit verdienen müssen. Wie viel die Rohre wiegen, die sie nur von einem Stirnband gehalten auf dem Rücken tragen, wissen wir natürlich nicht. Aber dass sie sehr schwer sind, ist ihnen anzusehen. Manchen Angaben zufolge bewältigen Nepalis Lasten von 70-80 Kilogramm, andere sprechen sogar von 100 Kilogramm! Die nicht etwa "nur" zu heben sind - nein, die getragen werden müssen, stunden- und tagelang über die Berge, und das oft sogar barfuß. Wie um alles in der Welt ist das möglich? fragen wir uns, schließlich haben Nepalis physiologisch betrachtet die gleichen Körper wie wir. Ist es das Training von Kindesbeinen an? Oder eine Zähigkeit, die unsere Vorfahren ebenfalls besaßen, die den meisten von uns aber längst abhanden gekommen ist? Vielleicht ist es beides, vielleicht auch gepaart mit der Notwendigkeit, sich in einer Welt ohne Hartz IV über Wasser halten zu müssen, koste es, was es wolle - oder hier passender: wiege es, was es wolle. Auch wenn der Körper dabei Schaden nimmt.
 
 
Acht Stunden Laufen am Tag, während der Schweiß uns aus allen Poren rinnt, unsere Zunge am Gaumen klebt und das Genießen der großartigen Landschaft in beständigem Kampf mit der Hoffnung liegt, das Ende der Tagesstrecke möge bald erreicht sein und ein kühles Bier uns erwarten. Als ich am Abend des ersten Tages in unserer Unterkunft tatsächlich ein Bier sehe, denke ich zunächst an eine nepalische Variante einer Fata Morgana. Doch da ist tatsächlich eins, und da der Mensch sich an Gutes schnell gewöhnt, wird daraus im Handumdrehen eine Selbstverständlichkeit, die ich nicht mehr missen will. Und die ich auch nicht mehr missen muss, schließlich gibt es Träger, die jede einzelne Flasche in tagelangen Märschen dorthin schleppen, wo wir Touristen nach ihr verlangen. Verrückt? Ja und nein. Ja, weil man seinen Durst auch mit Tee löschen kann. Nein, weil jedes Bier einen Job sichert. Trinken aus sozialer Verantwortung gewissermaßen ... Heute, im Jahr 2014, wird so mancher Träger der damaligen Situation nachtrauern, denn inzwischen gibt es dort, wo wir 1987 gelaufen sind, eine Straße. Zwar ist sie schlecht zu befahren, aber ganz sicher wird niemand mehr einen Kasten Bier auf dem Rücken in die Berge schleppen. Zumindest nicht auf dieser vom Tourismus meistfrequentierten Route.
 
Dass Durge und Dany lachen, als sie unsere "Leichtgewicht"-Rucksäcke tragen, liegt nach dem Geschilderten wohl auf der Hand. Und so sind die beiden auch gar nicht glücklich, als unsere gemeinsamen zwölf Tage zu Ende gehen. Herzlich verabschieden wir uns auf dem kleinen Flughafen von Jomosom voneinander. Wir fliegen nach Pokhara zurück, da unser Urlaub sich dem Ende nähert, Durge und Dany laufen, wobei sie für die Strecke weniger als die Hälfte der Zeit veranschlagt haben, die wir zusammen unterwegs waren. Andere tragen zu lassen ist Ausbeutung ... Als wir über das Rollfeld auf das Flugzeug zugehen, winken uns unsere beiden Träger hinterher. "Hope to see you again!", haben sie uns beim Abschied gesagt. Wenn Ausbeutung doch nur immer so angenehm wäre wie in diesem Fall!
                                                                                                          
                                                                                                                  Manfred Lentz
 

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