Sri Lanka per Bahn
Die Strecke von Nuwara Eliya nach Ella ist eine der schönsten des Landes. 2013 (Teil 1)
 
Aus dem Fernseher unterhalb der Decke dröhnt ohrenbetäubender Lärm. Schüsse mischen sich in das Schreien von Menschen, Autos rasen mit getunten Motoren so schnell durch belebte Straßen, dass einem Angst und Bange um die Passanten wird. Ein Junge, der von seinem Sitzplatz den Fernseher gut im Blick hat, schreckt zusammen, als in einer Großaufnahme der Bösewicht erscheint. Die beiden Mädchen neben ihm interessiert das nicht. Sie streiten lautstark um etwas, was die eine hat und die andere haben will. In der Reihe hinter uns redet ein Mann in einem Tempo auf seinen Sitznachbarn ein, das Bewunderung verlangen würde, wäre es nicht so nervig. Und dabei hat es Samantha so gut mit uns gemeint!
 
Wir sind mit der Eisenbahn von Nuwara Eliya nach Ella unterwegs. Samantha, unser Fahrer auf der 17-tägigen Tour durch Sri Lanka, hat die Tickets für uns besorgt. Natürlich hätten wir das auch selbst geschafft, aber nein: Es war sein Job. Als er mit den Fahrkarten für die 1. Klasse zurückkehrte - das Stück für wenig mehr als einen Euro pro Person -, da strahlte er, als wäre er der Hauptgewinner in einem Organisier-Wettbewerb. "Aircondition and TV", pries er das Juwel des sri lankischen Bahnverkehrs an. Um ihn nicht zu kränken, haben wir anerkennend genickt. Obwohl wir Aircondition nicht brauchen, da es in dieser Höhe nicht sonderlich warm ist. Und was das TV anbelangt - nun ja ... Doch wir sind entschlossen, uns die gute Laune nicht vermiesen zu lassen. Wir sind hier, um die Fahrt zu genießen. Die Fahrt auf einem Teilstück einer Strecke, die Reiseführer ebenso wie Eisenbahnfreaks als die schönste der Insel bezeichnen - ja, manche vergeben sogar das Attribut "eine der schönsten der Welt". Der Zug ist etliche Stunden vorher in Colombo losgefahren, hat sich auf steilen, kurvigen Wegen ins Hochland hinauf gequält und hat Kandy bereits hinter sich gelassen, die alte Königsstadt mit dem Tempel, in dem ein Zahn Buddhas aufbewahrt wird. In Nuwara Eliya steigen wir zu, oder um genau zu sein: in der außerhalb der Stadt gelegenen Bahnstation Nanu Oya. Die britischen Kolonialherren haben Nuwara Eliya einst gegründet, 1800 Meter über dem Meeresspiegel und damit in einer Höhe, in der es sich während der heißen Monate des Jahres gut aushalten lässt. Koloniales Flair beherrscht noch heute die Stadt: ein Golfplatz, eine Pferderennbahn sowie zahlreiche Gebäude wie das "Hill Club"-Hotel, die genauso gut in Brighton, Newcastle oder Nottingham stehen könnten. Ein Erbe der Briten ist jedoch nicht nur dieser Ort - auch die Eisenbahn geht auf ihre Anwesenheit auf der Insel zurück. Ein Streckennetz von gut 1.500 Kilometern, dessen Bau vor allem im Hochland alles andere als eine Kleinigkeit war.
 
 
Manche Dinge im Leben erledigen sich erfreulicherweise von selbst, und so entdecken wir bald nach unserer Abfahrt eine Möglichkeit, dem anhaltenden Lärm um uns herum zu entgehen. Sri lankisches Bahnreisen - so lernen wir - findet nicht nur in den Abteilen auf den Sitzplätzen statt, sondern gleichermaßen am Anfang und Ende jedes Waggons bei den Türen. Der offenen Türen! Was sich bei einem deutschen ICE zwangsläufig verbieten würde, der mit 200 Stundenkilometern oder mehr durch die Landschaft rast. Aber die Bahn, mit der wir an diesem Tag unterwegs sind, ist kein ICE, sie ist ein Bummelzug, der gemütlich durch eine kurvenreiche Landschaft zuckelt - von Nuwara Eliya bis zu unserer Endstation Ella in zweieinhalb Stunden, und das für gerade einmal 62 Kilometer! Als gemütlich empfinden auch diejenigen dieses Reisetempo, die sich nicht nur an die offenen Türen stellen, nein, die sich sogar in ihnen hinsetzen und die Beine nach draußen baumeln lassen. Allem Anschein nach ein sri lankisches Gewohnheitsrecht, denn der Schaffner zeigt sich in keiner Weise irritiert. Mir selbst ist das zu unheimlich, weshalb ich mich mit dem Stehen an der offenen Tür begnüge. Und während ich das tue, genieße ich einen Ausblick, der sich nur als großartig beschreiben lässt. Teeplantagen ohne Ende ziehen an uns vorüber, hellgrüne Sträucher in ordentlichen Reihen, dazwischen gelb blühende Akazien als Schattenspender gegen die kräftige Sonne. Hier und da sehe ich Pflückerinnen mit großen Körben auf dem Rücken bei der Arbeit, die Hände in ewig gleicher Bewegung, "two leaves and a bud", zwei Blätter und eine Knospe, nur das Beste, denn schließlich hat der Tee aus Sri Lanka - dem vormaligen Ceylon - einen exzellenten Ruf zu verteidigen. Über Viadukte und Brücken geht die Fahrt, durch Tunnel und an steil abfallenden Berghängen entlang, die atemberaubende Ausblicke gewähren. Dann und wann kommen wir an Dörfern vorbei, dazwischen reihen sich Bananenplantagen und Eukalyptuswälder aneinander, mächtige Rhododendron-Büsche und riesige Farne, wir sehen Felder mit Gemüse und dazwischen immer wieder Tee und Tee und abermals Tee.
Wir sind bereits eine Weile unterwegs, als ich auf zwei junge Männer aufmerksam werde, die in meiner Nähe stehen geblieben sind und strahlen. Während mein Blick noch auf ihnen haftet, wird mir plötzlich bewusst, dass die beiden von vorn gekommen sind. Ich stutze. Von vorn - das kann nur die Lok sein, denn wir befinden uns im ersten Waggon. Erregung erfasst mich, die Erregung eines Mannes, der in seiner Kindheit hingebungsvoll mit einer elektrischen Eisenbahn gespielt hat und dessen erster Berufswunsch wie bei den meisten seiner Altersgenossen - damals war das jedenfalls so - der eines Lokomotivführers war. Ein paar Schritte entfernt steht der Schaffner. Ich gehe zu ihm und deute mit einer Kopfbewegung fragend nach vorn, während ich gleichzeitig einen Geldschein aus meinem Portemonnaie fische. Den ignoriert er, meine Kopfbewegung hingegen beantwortet er mit einem "Ok" - so selbstverständlich, als hätte ich bei einem deutschen Schaffner um die Erlaubnis für den Speisewagen angefragt. Ohne zu zögern packe ich den Stier bei den Hörnern und betrete die Lok, in der ein Gang an dem riesigen Dieselmotor vorbei nach vorn führt. Ein so schmaler Gang, dass ich mich eng an ein Geländer drücken muss, um nicht aus Versehen das heiße Metall der Maschine zu berühren. Als ich den Führerstand betrete, wendet der Lokführer den Kopf für eine Sekunde zur Seite, sagt kurz "Hello" und richtet seinen Blick gleich wieder auf die Strecke. Woraus ich schließe, dass das Erscheinen neugieriger Touristen in seinem Reich für ihn ganz normal ist. "Hello" sage ich ebenfalls. Mehr fällt mir in diesem Moment nicht ein, denn der unbehinderte Blick nach vorn hat mich bereits in seinen Bann gezogen. Frauen werden für ein solches Verhalten vermutlich eher weniger Verständnis aufbringen, aber der Blick aus einer fahrenden Lok hat für uns Männer - zumindest für die meisten von uns - etwas geradezu Hypnotisches. Was das genau ist, kann ich nicht beschreiben, aber an dem Kribbeln auf meiner Haut merke ich, dass es da ist. Es erinnert mich an die Bahnfahrten im Fernsehen ("Mit dem Zug durch ..."), aber das hier ist schöner, denn das hier ist live.
 
Für den Mann an den Hebeln und Knöpfen hingegen ist es der Alltag, spannender bin ich für ihn. "Where you from?", erkundigt er sich ohne aufzusehen (wie üblich ohne das dazugehörige "are"). "Germany", antworte ich. Germany - das kennt er gut. Sehr gut sogar, denn von dort stammt seine Lok. "Very good", sagt er, und deutet auf den entsprechenden Schriftzug. Dann: "First time in Sri Lanka?" Ich antworte einsilbig, denn mir steht nach ganz anderem der Sinn. "Second time." Er nickt anerkennend und zeigt anschließend mit einem Finger nach vorn. "Good?", will er wissen. "Yes", entgegne ich, und danach noch "very good", und dann schweige ich. Er tut es zu meiner Freude ebenfalls, und für zehn Minuten verwandle ich mich nun in den Führer dieser Lok, in den wichtigsten Mann in diesem Zug. Routiniert nehme ich jede Steigung, gehe mit dem richtigen Gefühl in alle Kurven, betätige das Horn, wenn Kinder sich den Gleisen nähern oder bremse ab, wenn eine Kuh dieselben nur zögernd verlässt. Nach einer Weile fahre ich in einen Bahnhof ein. Ich halte an, lasse Fahrgäste aus- und einsteigen, und auf das Signal des Schaffners hin setze ich meinen Zug wieder in Bewegung. Eingefleischten "Pufferknutschern" wären in dieser Situation vermutlich Tränen der Rührung über die Wangen gelaufen. Zu denen gehöre ich nicht, aber ein Kindheitstraum, zumindest ein kleiner, findet in diesen Minuten seine Erfüllung. Als hinter mir der nächste Neugierige in dem engen Führerstand auftaucht - verdammter Störenfried! -, verabschiede ich mich von dem Lokführer und quetsche mich an der Maschine vorbei zurück in meinen Waggon. Einen erneuten Versuch, mich bei dem Schaffner erkenntlich zu zeigen, weist dieser abermals und diesmal noch entschiedener zurück - gerade so, als wolle er das so oft bemühte Bild von der in Asien verbreiteten Bestechlichkeit als eine böswillige Unterstellung entlarven.
 
 
Den Bahnhof von Ella auf einer Höhe von 1000 Metern erreichen wir mit einiger Verspätung, aber Unpünktlichkeit bei der Bahn sind wir Deutschen ja gewohnt. Samantha erwartet uns bereits. Er ist uns mit dem Auto gefolgt, und nun bringt er uns in einer kurzen Fahrt in unser Hotel. Ella ist ein kleiner Ort mit vielen Touristen, vor allem mit solchen, die uns durch ihre freakige Art und ihr Outfit an unsere Reisen nach Nepal erinnern: viel Zeit, immer einen Joint griffbereit und das Bett für die Nacht in einer leicht gammeligen Unterkunft, in der sie sich die Matratze mit allerlei Kleinstlebewesen teilen. Der Reiseführer zeichnet ein anderes Bild von Ella, aber natürlich schließt das eine das andere nicht aus: eine wunderschöne Landschaft, die zum Wandern einlädt, romantische Wasserfälle, tiefe Schluchten und hohe Berge, von deren Gipfel man einen Blick über weite Teile der Insel hat. "Tomorrow we see Nine Arcs Bridge", verkündet Samantha, bevor er sich am Ende des Tages von uns verabschiedet - eine Brücke mit neun Bögen, über die wir mit unserem Zug gefahren wären, hätten wir ihn nicht kurz vorher verlassen. "See you tomorrow", antworten wir. Und zu dem Jungen in dem Restaurant unseres kleinen Hotels - herrlich am Berg gelegen und mit einem weiten Blick über das Land - sagen wir, während wir behaglich die Beine ausstrecken und uns entspannt in unseren Stühlen zurücklehnen: "Two beers, please."
 
(Wird fortgesetzt.)
                                                                                                                   
Manfred Lentz
 

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