Wie Rilkes Panther.
Einige Gedanken über Zoos in der "Dritten Welt". 1987-1993
 
Ein Löwe ist kein Panther. Aber als wir im Jahr 1987 vor dem Löwenkäfig im Zoo von Nepals Hauptstadt Kathmandu stehen, müssen wir sofort an Rainer Maria Rilkes Gedicht über den Panther denken. Geschrieben hat er es etwa im Jahr 1903, und gesehen hat er den Panther im Jardin des Plantes in Paris:
 
Sein Blick ist vom Vorübergehen der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
 
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
 
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf. Dann geht ein Blick hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille
und hört im Herzen auf zu sein.
 
Ein Löwe ist kein Panther, aber das Schicksal "unseres " Löwen ist das gleiche. Er liegt in einem Käfig, dessen Boden aus Beton besteht. Sein Blick geht durch die Gitterstäbe zu den Schaulustigen, die sich vor seinem Käfig versammelt haben. Ihre Stimmung reicht von angespanntem Beobachten bis zu einer Art triumphierender Freude, die zu sagen scheint: Du bist gefährlich, doch jetzt kannst du dich nicht mehr wehren, denn wir waren stärker als du! Einige der Umstehenden versuchen, den Löwen zu necken, was diesen indes völlig kalt lässt. Der "König der Tiere", der hier liegt, ist eine geradezu perfekte Inkarnation der Apathie. Aber was sollte er auch anderes sein in dieser Umgebung, die mit seiner eigentlichen Lebenswelt nichts, aber auch gar nichts zu tun hat!
 
 
"Dritte Welt"-Zoos sind ein Kapitel für sich, und leider nur allzu oft ein trauriges. Neben dem Zoo in Kathmandu haben wir auf unseren Reisen drei weitere Einrichtungen dieser Art besucht: 1990 in El Ateuff, einem Nachbarort der Oase Ghardaia in der algerischen Sahara, 1989 und 1993 in Thailands Hauptstadt Bangkok sowie 1993 in Chiang Mai, einer ebenfalls in Thailand gelegenen Stadt. Unterschiede zwischen diesen Zoos waren nicht zu übersehen. Die Städte Bangkok und Chiang Mai waren zum Zeitpunkt unserer Besuche dem nepalischen Kathmandu um viele Jahre voraus, was sich nicht nur im Straßenbild widerspiegelte, sondern eben auch in den Zoologischen Gärten. Und die Einrichtung in El Ateuff war eine private, die vermutlich mit minimalen Mitteln am Leben erhalten wurde. Doch trotz dieser Unterschiede gab es einiges, was alle gemein hatten.
 
Das Erste war die Tatsache, dass ihr Tierbestand sich im wesentlichen aus dem eigenen Land sowie angrenzenden Ländern rekrutierte, womit sie weit von der Situation unseres Berliner Zoos entfernt waren, der damals der artenreichste Zoo der Welt war und diesen Rang auch heute noch innehat. Womit ich keinesfalls eine Lanze für einen Zoo mit möglichst vielen Arten brechen will. Ganz im Gegenteil - führt ihr Vorhandensein aus Platzgründen doch zu einer nicht-optimalen Haltung dieser vielen Arten, wovon sich jeder Besucher des Berliner Zoologischen Gartens überzeugen kann. Die zweite Gemeinsamkeit bei den von uns besuchten Zoos war die beengte Unterbringung der Tiere, ein Umstand, der einerseits vermutlich einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber den Bedürfnissen der Tiere geschuldet war, der andererseits aber auch auf eine zu geringe finanzielle Ausstattung dieser Einrichtungen zurückzuführen gewesen sein dürfte. Fließt das Geld reichlicher, so gibt es die Tendenz, die Situation zu verbessern, wie schon damals der Bangkoker Zoo erkennen ließ. Im übrigen ist diese Situation nicht ungewöhnlich - auch in unseren Zoos sah es einst nicht anders aus, wie ein Blick in die Fotoalben unserer Großeltern zeigt.
Zahlreiche Schaulustige umlagern den Löwen in Kathmandu, die Tiger in Bangkok und die Flusspferde in Chiang Mai, und bei allen Zuschauern erkenne ich die gleiche Neugier, die auch mich und meine Familie einst zu sonntäglichen Ausflügen in den Berliner Zoo geführt hat. Tiere sehen, die man ansonsten nur von Bildern her kannte - das war der Event. Dass die Bären auf Beton lebten - na und! Oder die Leoparden in viel zu engen Käfigen - was war schon dabei, schließlich handelte es sich nur um Tiere! So nah wie möglich wollte ich ihnen damals sein und ihnen in die Augen schauen, ob diese nun strahlten oder nicht. Ich habe es weder bemerkt, noch hat es mich interessiert. Den Besuchern im Zoo von Kathmandu schien es nicht anders zu gehen. Auch sie wollten Tiere sehen, von denen sie einige zwar bereits aus flüchtiger Anschauung kannten, die meisten aber nur aus Erzählungen oder von Fotos. Die Schlange etwa, die um ihre Häuser und Hütten kroch, den Raubvogel, der ihnen die Hühner stahl, den Tiger, über den in ihren Familien seit Generationen furchterregende Geschichten im Umlauf waren. Was immer sich einfangen, einsperren und vorführen ließ, das wollten sie sehen. Weil es aufregend war und vieles auch fremd.
 
Ein provokanter Gedanke drängt sich auf: Wenn man schon einmal auf dem Trip in die Ferne ist, warum sollte man sich dann eigentlich auf Tiere beschränken und nicht auch Menschen miteinbeziehen? Fremde Menschen in einem Zoo. Doch das gab es weder in Nepal noch in Algerien oder Thailand. Wie hätten wir uns auch darüber echauffiert, wir aufgeklärten Zeitgenossen, die wir den Humanismus bereits mit der Muttermilch aufgesogen haben. Es ist selbstverständlich, dass man so etwas nicht macht. Unsere Großeltern haben das allerdings noch ganz anders gesehen. "Völkerschauen" hieß das damals, ein fragwürdiges Kapitel, über das man heute gern mit Stillschweigen hinweggeht. Im Jahr 1875 gab es die erste Veranstaltung dieser Art bei Hagenbeck in Hamburg, bis 1940 waren es mehr als 300 außereuropäische Menschengruppen, die in Deutschland zur Schau gestellt wurden. In Deutschland, aber ebenso bei unseren Nachbarn sowie in den USA. Lappländer und Eskimos waren darunter, Nubier und Singhalesen, Somalier und Beduinen, deren Leben man sich von ihnen vorführen ließ und die durch diese Zurschaustellung letztlich so etwas waren wie menschliche Tiere. Heute können wir darüber nur den Kopf schütteln. Allerdings sind wir auch um einiges besser dran als unsere Großeltern, verfügen wir doch mit Film, Fernsehen und Internet über Medien, die uns auch ohne solche Veranstaltungen die weite Welt in die Wohnstuben holen.
 
 
Die beiden Feneks auf engstem Raum in El Ateuff; der nepalische Löwe in seinem Gefängnis; die Flusspferde in dem viel zu kleinen Becken in Chiang Mai - ja, sehen die Menschen denn nicht, so haben wir uns damals entrüstet, dass der vorhandene Platz für die Tiere nicht ausreicht? Irgendwann kam mir der Gedanke, dass diese Frage an der Lebenswirklichkeit der dortigen Menschen vorbeiging. Denn warum um alles in der Welt sollte sich jemand über die Enge einer tierischen Behausung im Zoo empören, der selbst in beengten Verhältnissen lebt? Mit viel zu vielen Personen auf kleinem Raum, ohne Platz für die eigene Entfaltung - warum sollte er sich angesichts solcher Umstände über den mangelnden Raum für Feneks oder Flusspferde einen Kopf machen? Artgerechte Tierhaltung in Zoos setzt artgerechte "Menschenhaltung" voraus, und von der ist man in vielen Ländern der "Dritten Welt" noch weit entfernt. Wobei die parallele Entwicklung von mehr Platz für Menschen und mehr Platz für Tiere indes nicht zwangsläufig ist. Unser artenreichster Zoo in Berlin ist ein gutes Beispiel dafür - oder besser: ein schlechtes -, dass auch wir in einem hochentwickelten Land uns nicht einfach an die Brust klopfen dürfen. Und da ich schon bei den eigenen Mängeln bin: Wie halten wir es eigentlich mit jenen Tieren, die wir nicht anschauen, sondern deren Fleisch uns als Nahrung dient? Denn wo ist der Unterschied zwischen dem nicht artgerecht gehaltenen Löwen im Zoo von Kathmandu und dem nicht artgerecht gehaltenen Schwein in unserer industriell betriebenen "Tierproduktion"? Was ist mit den Hühnern in den winzigen Käfigen, mit den Schweinen in engen Buchten oder mit den Rindern, die nie auf einer Weide grasen und deren Zahl millionen- und abermillionenfach größer ist als die Zahl der Zootiere? Nicht nur für Feneks, Löwen und Flusspferde gibt es eine Hölle, sondern auch für Hühner, Schweine und Rinder. Oder sollte die Befindlichkeit der zuletzt genannten Tiere etwa weniger zählen, nur weil es sich bei ihnen nicht um Exoten handelt und sie "lediglich" für unsere Ernährung bestimmt sind?
 
1993 im Zoo von Bangkok: Wir trinken einen Tee an einem hübsch angelegten See, und unser Blick geht hinüber auf eine Insel mit Affen. Schon damals gab es hier ein Areal, in dem die Tiere sich frei bewegen konnten, begrenzt nur vom Wasser. Nicht optimal für ihre Art, aber sehr viel besser als die Situation der Tiger nebenan auf grauem Beton. Gewiss hat sich in den Jahren, seit wir diese Zoos besucht haben, vieles verändert. Aber ebenso gewiss gibt es in ihnen sowie in anderen "Dritte Welt"-Zoos noch eine Menge zu tun. Sehr viel muss sich noch ändern, bis die Tiere endlich als lebende Wesen Anerkennung finden und nicht länger bloße Ausstellungsstücke sind - in Algerien, in Nepal sowie in Thailand. Und auch bei uns.
 
Manfred Lentz
 

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