"Starker Stier"
Begegnung mit einem Pharao der Superlative. Ägypten 1980
 
Unterschiedliche Zeiten stellen unterschiedliche Fragen. Ich bin im Ägyptischen Museum in Kairo, vor mir - durch eine Glasplatte geschützt - liegt die Mumie des Pharaos Ramses II. Der Körper ist mit einem Tuch abgedeckt, nur der Kopf ist zu sehen. Neben mir beugen sich zwei junge Touristinnen ebenfalls über die Mumie. "Und was ist mit seinem Ding ... na, du weißt schon", höre ich die eine der anderen zuraunen. Worauf die beiden kichern und ganz genau hinschauen, ohne indes etwas zu sehen. Es ist das Jahr 1980, und eine korrekte Antwort auf diese "delikate" Frage zu erhalten, wäre für Außenstehende zu dieser Zeit schwierig gewesen, vielleicht sogar unmöglich. Heute dagegen, wo viele Tabus gefallen sind, wo der Krebs prominenter Politiker oder die Brustamputation von Angelina Jolie medienwirksam vermarktet werden, ist das ganz anders. "Schließlich wurde der Penis entfernt, gesondert mumifiziert und wieder angesetzt", heißt es in der Wikipedia im Zusammenhang mit der Haltbarmachung des Ramses. Also ist "das Ding" dran, aber natürlich versteckt, und das ist auch gut so. Schließlich ist das, was hier vor uns liegt, nicht etwa eine Schnitzfigur oder ähnliches, sondern ein Mensch. Und was für einer!
 
 
Ramses II. war einer der bedeutendsten Pharaonen, die das Reich am Nil in seiner langen Geschichte hervorgebracht hat. Unter seiner Regentschaft erreichte das Land eine wirtschaftliche und kulturelle Blüte, wie unter keinem seiner Nachfolger mehr. Weshalb Ramses zu Recht auch Ramses der Große genannt wird. Andere Beinamen unterstreichen seine herausragende Stellung: "Starker Stier", "Löwe mit starkem Willen", "Geliebter des Re, der jedes Fremdland niedertritt unter seinen Sohlen". Ob unter seiner Herrschaft die Israeliten ihren Exodus aus der ägyptischen Gefangenschaft antraten, ist umstritten. Fakt ist dagegen, dass er im Jahr 1213 v.Chr. im biblischen Alter von rund 85 Jahren das Zeitliche segnete, von denen er volle 66 Jahre auf dem Thron gesessen hat. Sofort nach seinem Tod begannen Priester mit der Mumifizierung des Leichnams. 70 Tage dauerte die Prozedur, dann betteten sie ihn in einen Sarkophag und bestatteten diesen ... nein, nicht in einer Pyramide, das tat man damals schon lange nicht mehr, sondern in einem Grab im Tal der Könige nahe dem heutigen Theben. Ein eher unscheinbares Areal, in dem man nicht nur ihn, sondern auch andere Pharaonen versteckt hat, um sie vor Plünderern zu schützen. Meist vergeblich.
 
Auch das Grab des großen Ramses wurde nicht verschont, weshalb mehrere Umbettungen der Mumie in andere Gräber erfolgten. Als man sie im Jahr 1881 anlässlich eines Prozesses gegen einen Plünderer wiederentdeckte, wurde sie umgehend auf einem Dampfschiff in ein Kairoer Museum überführt. Obwohl sinnigerweise als Transport von "Trockenfleisch" deklariert, sprach sich unter der Bevölkerung schnell herum, um welche Art Fleisch es sich handelte. Als das Dampfschiff den Nil hinunter glitt, feuerten Männer Salutschüsse für ihren berühmten Vorfahren ab, während Frauen den Toten beweinten. Die Jahre danach bescherten der Mumie eine wechselvolle Geschichte. Viel zu ungeduldig untersucht und dabei teilweise zerstört, 1976 per Flugzeug nach Paris transportiert und dort mit militärischen Ehren empfangen, wurde die Mumie von Experten von Pilzen befreit, mit Kobalt-60 bestrahlt und konserviert und im darauffolgenden Jahr nach Kairo zurückgeflogen, wo sie in jenem Saal des Ägyptischen Museums ihren Platz fand, an dem ich ihr im August 1980 gegenübertrat. Der Pharao lag in einem hölzernen Sarg mit einem Deckel aus Glas neben mehreren anderen Herrschern und war auch nach drei Jahrtausenden erstaunlich gut erhalten. So gut, dass man sogar noch einzelne Haare erkennen konnte. Die Haare eines Toten - aber auch die Haare eines Ausstellungsstücks, das wie eine alte Vase oder antiker Schmuck Neugierigen aus aller Welt gezeigt wurde. Unter dem ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat wurden die Herrschermumien ein Jahr nach meinem Besuch mit dem Argument, Menschen stelle man nicht zur Schau, aus der Ausstellung entfernt. Doch wie zu erwarten war, siegte schon bald wieder das kommerzielle Denken, und die Pharaonen einschließlich Ramses II. kehrten zurück.

Die folgenden Bilder sind in den Gräbern von Ramses II., Sethos I. und Tut-ench-amun entstanden. Zu welchem Grab welche Bilder gehören, daran kann ich mich leider nicht mehr erinnern.

Der August ist die heißeste Zeit des Jahres, und unsere Schweißdrüsen arbeiten auf Hochtouren, als wir den Weg vom klimatisierten Bus in das völlig vegetationslose UNESCO-Weltkulturerbe-Tal der Könige zurücklegen. 64 Gräber gibt es hier - vermutlich die endgültige Zahl, denn es scheint eher unwahrscheinlich, dass noch ein weiteres entdeckt wird. So wie 1922, als Howard Carter auf das bis dahin unbekannte, weitgehend unversehrte Grab des Pharaos Tut-ench-amun stieß. Das Grab von Ramses II - KV7 ist die offizielle Bezeichnung - ist schon lange bekannt. Es ist gut untersucht, ausführlich dokumentiert und im Jahr 1980 ohne zeitliche Begrenzung für Besucher freigegeben. Was uns natürlich freut, aber was gewiss schon damals vielen Fachleuten schlaflose Nächte bescherte, die befürchteten, ihre einzigartigen Gräber könnten dauerhaften Schaden nehmen. Wenn all diese Schätze der Menschheit nach Tausenden von Jahren noch immer so gut erhalten sind, dann vor allem wegen der im Tal herrschenden Trockenheit. Besucher aber transpirieren, sie verströmen Hektoliter von Schweiß in den Gräbern, der sich auf die Wände setzt und dort Pilze wachsen lässt - kleine Killer, die die farbenprächtigen Bilder und Inschriften langsam, aber stetig zerstören. Gar nicht zu reden von dem schädlichen Einfluss des Lichts. Nicht umsonst präsentiert man in modernen Museen alte Stoffe, handbeschriebene Pergamente oder seltene Landkarten in abgedunkelten Räumen. - Drei unterirdische Anlagen besuchen wir, die von Ramses II., Sethos I. und Tut-ench-amun, und ich erinnere mich gut, dass es für unsere Fotoorgien nicht die geringsten Beschränkungen gab. Ran an die Malereien, scharf gestellt und geblitzt, aus einer anderen Perspektive gleich noch einmal, und dann Platz für den Nächsten, der die uralten Farben erneut mit der vollen Power seines leistungsstarken Kamerablitzes überzieht. Gott sei's gedankt - oder meinetwegen Re oder Horus oder wem auch immer -, dass diese Zeiten vorbei sind! Heute ist selbst schon die bloße Mitnahme von Kameras in das Tal verboten! Darüber hinaus ist geplant, von den bedeutendsten Gräbern 1:1-Kopien anzufertigen, die anstelle der Originale besichtigt werden können. Ein Verfahren, wie es bei der Steinzeithöhle von Lascaux bereits seit dem Jahr 1983 Anwendung findet.
 
 
Als wir das letzte Grab verlassen, wartet bereits der offizielle Vertreter auf uns, der uns auf unserer Rundreise durch Ägypten begleitet, und mahnt nachdrücklich zur Eile. An diesem Tag stehen noch der Tempel der Hatschepsut und der Große Tempel von Karnak auf unserem Programm, am Tag darauf die Fahrt zum Staudamm nach Assuan. Eine groteske Situation: Vor rund 3000 Jahren wurden einige der größten Herrscher eines der ältesten Reiche der Menschheitsgeschichte ins Grab gelegt, und für einen kurzen Moment hatte ich bei unserem Besuch das Gefühl, die Zeit würde sich dehnen. Nun strafft sie sich wieder. Eintauchen in die Geschichte sieht anders aus. Aber Ägypten ist so übervoll an Geschichte, dass es in diesen wenigen Tagen unseres Aufenthalts gar nicht anders sein kann. Also raus aus dem letzten Grab, noch rasch eine Notiz ins Tagebuch geschrieben, und schon geht es weiter.
                                                                                                                             Manfred Lentz
 
 
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