Dumm, hässlich und stumpfsinnig?
Ohne das Kamel hätte der Mensch in der Wüste einen schweren Stand. Algerien und Indien,
Ohne das Kamel hätte der Mensch in der Wüste einen schweren Stand. Algerien und Indien,
1980-1994
Den Namen Alfred Brehm dürften die meisten schon einmal gehört haben: ein deutscher Zoologe und Schriftsteller, Altmeister der populärwissenschaftlichen zoologischen Literatur, 19. Jahrhundert. Sein Hauptwerk "Brehms Tierleben" stand über Jahrzehnte neben Bibel, Knigge und einem Buchclub-Lexikon in unzähligen deutschen Haushalten. Ob Lemuren oder Molche, ob Beutelmarder oder Warzenschlange - sie alle kannte Brehm, und über alle hat er berichtet. Und das in einer Sprache, die uns Heutigen - vorsichtig gesagt - bemerkenswert erscheint. Natürlich kannte der Autor des mehrbändigen "Tierlebens" auch das Kamel, und selbstverständlich hat er auch dieses Lebewesen ausführlich beschrieben. Aber wie! Seine Gestalt sei "unschön", der Kopf "auffallend hässlich" und die Augen "von einem erschrecklich blöden Ausdruck". Die Beine seien "schlecht gestellt", die Hinterschenkel "treten fast ganz aus dem Leibe heraus, und vermehren dadurch also das wüste Aussehen des Tieres." Klar, dass bei einer solchen Beschreibung auch die Psyche nicht punkten kann: Das Kamel, so Brehm, sei ein "dummes", "sehr stumpfsinniges Geschöpf", bei dem auch "eine Beurteilung der geistigen Eigenschaften nicht viel günstiger" ausfällt.
Eine Terminologie, die schmunzeln lässt. Wohl kein gegenwärtiger Student der Biologie würde es wagen, eine Seminararbeit mit einem solchen Text abzugeben. Doch es hieße, dem großen Zoologen Unrecht zu tun, wollte man ihn allein auf die besagten Zitate reduzieren. Brehm kannte Kamele aus eigener Erfahrung, und mehrmals war er auf langen Reisen mit ihnen unterwegs. Neben seinen Charakterisierungen als "dumm", "hässlich" und "stumpfsinnig" hat er das Tier gleichzeitig als das "unzweifelhaft nützlichste aller Haustiere in Afrika" bezeichnet, eine Formulierung, die wohl jeder unterschreiben würde. Nicht nur die modernen Kollegen seiner Zunft, sondern noch weit nachdrücklicher die Menschen in jenen Ländern, in denen diese Tiere genutzt werden. Ja, mehr noch: in denen ein Leben ohne Kamele schlechterdings kaum möglich wäre.
Kamele in der Sahara
Vielleicht haben wir es falsch angepackt, vielleicht haben wir auch nur Pech gehabt, aber auf unseren Wüstenreisen haben wir außer diversen Arten von Vögeln, Insekten und Käfern sowie mehreren Antilopenarten kaum weitere Tiere gesehen. Nicht einmal diejenigen, vor denen sich viele so sehr fürchten und von denen es nach landläufiger Ansicht in der Wüste geradezu wimmelt: Skorpione und Schlangen. Einer Tierart sind wir allerdings immer wieder begegnet, und das nicht nur als Warnhinweis auf Verkehrsschildern, sondern live: Kamelen. Sie sind die Wüstentiere schlechthin, ohne sie kann man sich die Sahara ebenso wenig vorstellen wie ohne Palmen. Kein Wunder, dass eines der am meisten gemalten Motive in den entsprechenden Ländern eine Kombination von Kamelen und Palmen ist. Immer wieder tauchen die "Wüstenschiffe" auf unseren Reisen auf. Oft als Punkte am Horizont, die ihres Weges ziehen und bald wieder aus unserem Sichtfeld verschwinden, gelegentlich als eine größere Herde auf einer Weide. Wobei das Wort Weide sehr relativ ist in dieser Landschaft - vereinzelte Grasbüschel, die jeder deutschen Kuh nur einen ratlosen Blick abnötigen würden. Menschen sind bei diesen Gelegenheiten in der Regel nicht zu sehen. Wir fragen uns, wohin die Tiere gehören, wo ihre Besitzer sind, wann diese sie wieder einsammeln und wie sie sie nutzen werden. Manchmal kommen uns mehrere Kamele entgegen, eine kleine Karawane mit einem Führer auf dem Weg von Nirgendwo nach Nirgendwo, wie es uns scheint. Aber der Führer weiß das natürlich besser. Wir grüßen ihn, er grüßt zurück, macht sich vielleicht ein paar Gedanken über die merkwürdigen Fremden, die mit ihrem Auto zum Spaß durch die Wüste fahren, und ist kurz darauf auch schon wieder weitergezogen.
Kamele in Rajasthan
Dass die Kamele, die uns unterwegs begegnen, eigentlich Dromedare sind, ist wohl den meisten von uns bekannt. Warum wir sie trotzdem Kamele nennen? Keine Ahnung. Kamele haben zwei Höcker, Dromedare nur einen, weshalb für "unser" Kamel gelegentlich auch der Begriff "einhöckriges Kamel" benutzt wird. Warum nicht gleich "Dromedar"? Aber lassen wir das. Auf jeden Fall haben die Höcker - ob nun einer oder zwei - bei beiden Arten die gleiche Funktion. Nicht die eines Wasserspeichers, wie oft angenommen wird, jeder Höcker quasi ein animalischer Wasserkanister. Vielmehr ist es Fett, was in ihnen gespeichert wird - Fett, das bei Bedarf verbrannt wird, wodurch die Tiere bis zu 30 Tage ohne Nahrung auskommen können. Außerdem entsteht bei diesem Prozess Wasser. Nicht viel, und im übrigen ist das auch keine Besonderheit bei den Kamelen, sondern ein ganz normaler Effekt bei jeder Fettverbrennung. Ihren Wasservorrat, der bis zu 150 Liter betragen kann und bis zu zwei Wochen ausreicht, speichern sie in ihrem Magensystem. Beeindruckend ist die Leistung, mit der sie den Vorrat wieder auffüllen können: mehr als 100 Liter in nur 10 Minuten, ohne dass diese Menge zu einer gefährlichen Störung des Wasser-Elektrolyt-Haushaltes ihres Körpers führen würde. Faszinierend ist auch die Ernährung der Kamele, und hier meine ich weniger die erwähnten dürren Gräser als vielmehr jene Pflanze, bei der es uns vor ungläubigem Staunen beinahe die Sprache verschlägt: den Kameldorn, eine Mimosenart. Seine Blätter sind klein, die Dornen dafür um so größer, bis zu fünf Zentimeter lang und spitz wie eine Nadel. Eines dieser Exemplare habe ich mir in den Schuh eingetreten, er war durch die dicke Sohle gedrungen und im Außenleder stecken geblieben. Alfred Brehm hatte seinerzeit weniger Glück: bei ihm hatte ein Dorn einen Zeh durchbohrt, eine zweifellos sehr schmerzhafte und außerdem nicht ungefährliche Angelegenheit. Um so erstaunlicher ist die Tatsache, dass Kamele diese Pflanze als Futter nutzen. Tief beeindruckt beobachten wir, wie sie die dornigen Zweige abreißen, sie in ihr Maul versenken und genüsslich darauf herumkauen, als handele es sich um überreife Bananen. Wir stehen da und staunen.
Erst ein paar Dutzend Jahre ist es her, da zogen noch die legendären Salzkarawanen mit Tausenden von Tieren durch die Sahara. Abgebaut wurde das Salz in der Mitte der Wüste unter erbärmlichen Bedingungen, die Oasen im Norden und Süden waren der Abnehmer. (In meinem Roman "Eine Sklavin für den Kalifen" habe ich diesen Salzabbau für eine frühere Zeit geschildert.) Heutzutage wird der weitaus größte Teil des Transports mit LKWs abgewickelt, aber abseits der Straßen und Pisten gibt es die Karawanen noch immer. Wie früher befördern Kamele die schweren Blöcke. Doch der Wert dieser Tiere für den Menschen erschöpft sich nicht in der Fähigkeit, Lasten zu tragen. Ganz im Gegenteil ist das Kamel eines der am vielseitigsten nutzbaren Tiere. Leder und Wolle, Fleisch und Milch, selbst der Kot findet noch Verwendung als Brennmaterial in dieser holzarmen Welt. Im indischen Rajasthan dienen Kamele oft als Zugtiere vor Wagen oder Karren wie anderswo Pferde und Ochsen, es sind stabile und kräftige Tiere, gewissermaßen die "Haflinger" unter den Kamelen. Eine Funktion habe ich bewusst ausgelassen: das Reiten. Ich werde in einem späteren Bericht darauf eingehen. Hier sei stattdessen noch eine letzte Funktion erwähnt, eine, die die Tiere am Ende ihres Lebens haben, allerdings ist diese Funktion natürlich keine Besonderheit der Kamele: Futter zu sein für andere Tiere. Welche Arten das bei dem toten Kamel waren, das wir in der Sahara abseits der Piste gefunden haben, wissen wir nicht. In Rajasthan konnten wir die Leichenfledderer beim Fressen beobachten: etliche Geier sowie mehrere Hunde. Ein Festmahl für alle, vor allem für diejenigen, die sich die besten Bissen schnappen konnten. Wer das in diesem Fall war? Die Hunde.
Mit Alfred Brehm habe ich angefangen, mit denjenigen, die ihm widersprechen, will ich enden. Als ein dummes Tier hat Brehm das Kamel bezeichnet. Die muslimischen Bewohner der Sahara, die tagein, tagaus mit diesem Tier zu tun haben, für die das eigene Leben ohne das Kamel kaum vorstellbar ist, sehen das ganz anders. 100 Namen besitze Allah, sagen sie. 99 davon kennen sie selbst, den 100. aber kennt allein das Kamel. Was die Frage aufwirft, ob ein Tier mit diesem Wissen denn dumm sein kann!
Manfred Lentz
Die neuen Berichte auf reiselust.me erscheinen jeweils
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