Hamburg - Santos
Als Passagiere auf einem Containerschiff nach Brasilien. 2014
 
Zentimeterweise, kaum merklich, schiebt sich der Koloss von der Kaiwand weg, angetrieben von zwei Seitenstrahlrudern, das eine am Bug, das andere am Heck. Die Lampen am Vordermast, die während des Löschens und Ladens eingeschaltet waren und deren helles Licht bis in unsere Kabine flutete, sind erloschen, seit die Hafenarbeiten beendet sind und die Containerbrücken ihre Riesenarme senkrecht gestellt haben. Auch der hintere Teil des Schiffs liegt jetzt im Dunkel. Die Container, deren bunte Reihen gerade noch etwas beinahe Fröhliches gehabt hatten, haben ein einheitliches Grau angenommen. Doch lediglich bei unserem Schiff hat die Dunkelheit Einzug gehalten. Um uns herum, am Kai vor und hinter uns, auf der anderen Seite des Hafenbeckens und dort, wo Tausende und Abertausende Container auf die Verladung warten, herrscht nach wie vor Hochbetrieb - ein Zustand, der die ganze Nacht über andauern wird. Schuften in Schichten rund um die Uhr. Die Nerven der Männer auf der Brücke sind angespannt. Der Kapitän, ein Offizier, einer von der Mannschaft und der Hafenlotse, alles erfahrene Männer, denen ihre Verantwortung bei dem gegenwärtigen Manöver voll bewusst ist. Stolze 333 Meter misst die "Cap San Lorenzo" in der Länge, 48 Meter ist sie breit, und wenn sie voll beladen ist, finden beinahe 10.000 Container auf ihr Platz. In diesen Minuten beginnt ihre neue Fahrt, Hamburg-Südamerika und zurück, ein Liniendienst, den die Reederei Hamburg Süd - ehemals Hamburg-Südamerikanische Dampfschifffahrts-Gesellschaft - bereits seit über 140 Jahren betreibt. Anders als ursprünglich geplant, beginnt die Reise nicht am Abend, sondern erst einige Stunden nach Mitternacht. Aber Frachtschiffe sind nun mal keine Ausflugsdampfer, nach denen man die Uhr stellen kann. Halb fünf ist es, als das Schiff die Mitte des engen Hafenbeckens erreicht und Geradeaus-Fahrt aufnimmt, Meter um Meter auf einer Strecke von - hin und zurück - rund 25.000 Kilometern. Auf knapp der Hälfte der Strecke werden wir diesmal dabei sein. Für Karin ist es ein ganz neues Erlebnis. Für mich ist es ein Déja vu.
 
 
Im Jahr 1966 war es, ich besuchte damals die 10. Klasse, als ein Schreiben des Verbandes Deutscher Reeder unsere Schule erreichte. Ob jemand Lust auf eine Schiffsreise habe, stand dort geschrieben, nicht als Passagier, sondern als Schiffsjunge bzw. als Decksjunge, wie es in den Unterlagen korrekt hieß. Ein Werbeversuch einer Branche, die Nachwuchssorgen hatte. Doch was scherte mich das. Ich hatte nicht die geringste Absicht, später zur See zu fahren, aber eine Schiffsreise als 16jähriger Schüler? Na klar! Also hob ich den Finger, und ein paar Wochen später erhielt ich die Nachricht, ich sei für eine siebenwöchige Fahrt nach Südamerika ausgewählt worden. Zum verabredeten Zeitpunkt ging ich an Bord, und obwohl jede Menge Arbeit angesagt war - man schenkte uns nichts -, war diese Fahrt eine Traumreise für mich. (Über meine Äquatortaufe auf dieser Reise habe ich bereits berichtet.) Und da Träume es so an sich haben, dass man sie gern wiederholen will, reifte in mir über die Jahre der Gedanke, eine Fahrt wie die damalige noch einmal zu unternehmen. Nicht als arbeitendes Mitglied der Crew natürlich, sondern als zahlender Passagier. Zusammen mit Karin, der ich immer wieder von meinen Erlebnissen vorgeschwärmt hatte, auf einem ebensolchen Frachtschiff wie damals.
Auf einem ebensolchen Frachtschiff? Schon meine ersten Erkundigungen ergaben, dass es Schiffe dieser Art gar nicht mehr gibt, denn längst hatte die Containerschifffahrt den Seeverkehr erobert. Riesige Schiffe mit Tausenden dieser stählernen Kisten, mit denen der Güterverkehr zwischen den Kontinenten abgewickelt wird. Etwas ganz anderes also als mein 1966er Frachtschiff - und auf einem solchen Kistentransporter sollten wir fahren? Es kostete uns einige Überwindung, diese Frage mit Ja zu beantworten, doch da es keine Alternative gab, schlugen wir zu. Frei nach dem Motto: Besser zwischen Kisten als gar nicht. Als Ziel unserer Reise entschieden wir uns für New York. Eine schlechte Entscheidung, wie wir schnell feststellten, denn es folgte ein nervendes Hin und Her in Gestalt mehrerer Terminverschiebungen. Mal war ein Sturm schuld an der Änderung des Fahrplans, mal gab es nicht genügend Fracht zu transportieren oder das vorgesehene Schiff wechselte in ein anderes Fahrgebiet - bis wir nach der fünften Änderung die Nase voll hatten und uns von New York verabschiedeten. Und wäre da nicht die nette Dame im Reisebüro der Hamburg Süd gewesen, so wäre dies unser genereller Abschied von jeglicher Frachtschiffreise gewesen. Doch sie zauberte eine neue Fahrt aus dem Hut und noch dazu eine, die nachgerade ein Muss für uns war: eine Reise nach Südamerika, und das nicht nur auf derselben Strecke wie 1966, sondern obendrein auf einem Schiff mit demselben Namen wie mein - längst verschrottetes - altes: "Cap San Lorenzo"! Dieses Angebot hören und ihm zustimmen waren eins, und im Nu hatten wir gebucht: von Hamburg nach Santos in Brasilien, mit Zwischenstopps in Antwerpen und Le Havre, eine Reise von insgesamt 18 Tagen.
 
Es ist der 8. September 2014, als wir am Containerterminal Burchardkai in Hamburg an Bord gehen. Als Folge der Anschläge auf das World Trade Center sind die Sicherheitsbestimmungen im Hafengebiet streng, keine Chance für private Exkursionen, aber als Passagiere haben wir natürlich Zugang. Ein Shuttlebus bringt uns direkt bis zum Schiff, auch deshalb, weil jedes unkontrollierte Herumlaufen zwischen den gigantischen Maschinen viel zu gefährlich wäre. Hatten wir uns einen freien Blick auf die "Cap San Lorenzo" erhofft - nicht zuletzt für ein paar Fotos -, so werden wir enttäuscht: Hinter den riesigen Containerbrücken ist das Schiff in seiner Gänze nicht auszumachen, lediglich die steil aufragende Bordwand empfängt uns und die aufs Oberdeck hinaufführende 72-stufige Gangway. Oben angelangt, heißt uns der Kapitän an Bord willkommen, aber nur kurz, denn im Hafen hat jeder alle Hände voll zu tun. Der Zweite Offizier bringt uns zu unserer Kabine. Sie befindet sich auf dem G-Deck und damit ein Deck über dem Kapitän und zwei unter der Brücke. "Owners's Cabin" heißt diese Kabine. Sie steht dem Schiffseigener zur Verfügung, in diesem Fall also der Familie Oetker, der die "Cap San Lorenzo" gehört. Doch wenn Angehörige dieser Familie die Kabine nicht nutzen - was üblicherweise der Fall ist -, wird sie vermietet, in diesem Fall an uns als die einzigen von insgesamt drei Passagieren. Für die dritte Person, eine Frau aus Süddeutschland, steht jene Kabine bereit, die für einen Schiffsmechaniker vorgehalten wird. Als wir über die Schwelle unseres 18-Tage-Domizils treten, sind wir beeindruckt: Rund 30 Quadratmeter umfasst der Wohnraum, daneben gibt es einen etwas kleineren Schlafraum, von dem ein Badbereich abgetrennt ist. Ein attraktives Ambiente, hätte der Einrichter die Räumlichkeiten nicht mit meterlangen Bücherregalen ohne Bücher vollgestopft. Aber sei's  drum - unsere Kabine ist groß, abgesehen von dieser Einschränkungen ansprechend möbliert und damit eine äußerst angenehme Bleibe für die nächsten zweieinhalb Wochen. Besonders erwähnenswert: Die Fenster unserer Kabine gehen nach vorn hinaus und bieten damit denselben Ausblick, den man von der Brücke hat.
 
 
Drei Stunden nach unserer Ankunft gibt es für uns das erste Abendessen an Bord - in der Offiziersmesse (es gibt daneben noch eine Messe für die Mannschaft), zusammen mit der dritten Passagierin und den drei wichtigsten Männern auf dem Schiff: dem Kapitän, dem Ersten Offizier und dem Chief Engineer, dem Verantwortlichen für die Maschine. Alle drei stammen aus der Ukraine, keiner spricht Deutsch, ebenso wie fast alle anderen auf dem Schiff, die Bordsprache ist Englisch. Gewöhnungsbedürftig ist für uns der Ablauf des Essens: kein gemütliches Zusammensitzen bei netten Gesprächen, vielmehr eine von Eile geprägte Nahrungsaufnahme von Leuten, die eben mal für ein paar Minuten ihre Arbeit unterbrochen haben. Ein Gläschen Wein oder ein Bier? Fehlanzeige, hier gibt es Tee. Und weil alle ihn trinken, verkneifen wir uns die Frage nach einer Alternative. Stattdessen essen und trinken wir wie die anderen still vor uns hin - und stehen bereits wenig später auf einem von insgesamt elf Decks, um zu sehen, was um uns herum im Hafen so alles geschieht. Eine Menge, wie wir schnell feststellen. So viel, dass ich mich diesem Thema sowie einigen anderen Themen in gesonderten Berichten widmen werde.
 
Eine zusammenfassende Bemerkung zu unserer Frachtschiffreise aber schon vorab: Die folgenden 18 Tage verbringen wir in einer Situation, die einzigartig ist. Obwohl wir keine Seeleute sind, keine Ahnung von dem Funktionieren eines Containerschiffes haben und für die Aufgabe dieses Schiffes keinen Handschlag tun, sind wir dennoch für die Zeit unseres Aufenthalts auf eine ganz spezielle Weise ein Teil der Crew. Anders formuliert: 18 Tage lang ist die "Cap San Lorenzo" auch unser Schiff. Wir dürfen gehen, wohin wir wollen, dürfen uns ansehen, was uns interessiert, dürfen selbständig auch noch die hintersten Winkel des Schiffes erkunden und den Angehörigen der Besatzung Löcher in den Bauch fragen. Auf der Brücke sind wir ebenso willkommen wie im Maschinenraum, wir haben Zugang zu den Ladeluken und können in den Häfen aus allernächster Nähe das Löschen und Laden beobachten, wozu wir sonst niemals Zugang hätten. Den rund 600 Meter langen Passageway unter Deck (ich werde darauf zurückkommen) zu durchwandern ist uns ebenso erlaubt, wie ganz unten im Schiff in den engen Tunnel für die Ölleitung zu klettern. Auch noch im Nachhinein erscheint mir diese Situation irgendwie unwirklich. Wo sonst wäre es möglich, als Außenstehender in einen derart sensitiven Bereich einzudringen und an dem dortigen Geschehen teilzuhaben? Auf einem Flughafen? Bei der Feuerwehr oder der Polizei? In einem Kraftwerk? Nein, natürlich geht das nicht, und es gibt gute Gründe, warum das so ist. Hier aber, auf einem Containerschiff der Superklasse, ist es möglich, und deshalb sind es immer wieder Wörter wie "unfassbar", "überwältigend" und "faszinierend", die mir über die Lippen kommen. Geschätzte 5.000 Personen nutzen in jedem Jahr als Reisende auf einem Frachtschiff die Chance für ein solch ungewöhnliches Erlebnis. Im Jahr 2014 sind wir zwei davon. Und wir genießen jede einzelne Minute.
 
 
Die Dunkelheit hat das Land noch fest im Griff, als unser Schiff an anderen vorbei das Hafenbecken verlässt und sich in die Elbe einfädelt. Rote und grüne Leuchtbojen markieren die Fahrrinne, wir sehen Lichter am Ufer, in der Regel Straßenlaternen, da die meisten Menschen noch schlafen. Mit der zulässigen Geschwindigkeit gleiten wir den Fluss hinunter in Richtung Nordsee, eine Strecke, die weit länger ist, als sie mir bis dahin auf Landkarten immer erschienen war. Und dann auf einmal - ich schwöre, dass es so war! - steigt der Vollmond über den Horizont, taucht unser Schiff in ein milchiges Licht und gibt den bis dahin in Dunkelheit verharrenden Containern Konturen. Der Beginn einer Reise, die uns 10.000 Kilometer weit auf die südliche Halbkugel führen wird. Was für ein berauschendes Erlebnis! Eine Stimmung, die Gänsehaut macht! Erst als die Dämmerung einsetzt und der Mond verblasst, verebben diese Gefühle allmählich und nüchterne Gedanken treten an ihre Stelle: Wie weit ist es noch bis zum offenen Meer?  Wann werden wir in Antwerpen sein? Werden wir am Tag in den Hafen einlaufen oder bei Nacht? Vor allem aber: Was werden wir auf diesem Schiff in den nächsten zweieinhalb Wochen alles entdecken können, und welche Erfahrungen werden wir machen? Wir haben in unserem bisherigen Leben schon viele tolle Reisen unternommen - aber bereits in diesem Augenblick wissen wir, dass die gerade begonnene eine unserer tollsten sein wird.
 
Manfred Lentz

Die neuen Berichte auf reiselust.me erscheinen jeweils
am 10., 20. und 30. jedes Monats