Kleine Männer und große Berge
Pokhara ist nach Kathmandu der wichtigste Ort in Nepal. 1978-1987
 
Sein Ruhm brachte seine Stadt in die Medien der Welt: Khagendra Thapa Magar, geboren 1992, anlässlich seines 18. Geburtstags im Guinness-Buch der Rekorde verewigt. Der Grund für seine mediale Größe war die Tatsache, dass sein Körper alles andere als groß war, denn mit gerade einmal 67,08 cm war Khagendra der kleinste Mann der Welt. Zumindest vom Oktober 2010 bis zum Juni 2011, denn anschließend wurde er von dem Filipino Junrey Balawing abgelöst (59,93 cm), der diesen Titel wiederum an den nur 54,6 cm messenden Chandra Bahadur Dangi abgeben musste, ebenfalls ein Nepali. Ein paar Monate allerdings durfte Khagendra sich freuen und mit ihm seine Stadt wegen der Resonanz in den Medien. Vermutlich haben viele Menschen von dieser Stadt damals zum ersten Mal gehört. Anderen hingegen dürfte sie schon länger bekannt gewesen sein, denn nicht umsonst findet sich ihr Name auf der Liste der "1000 places to see before you die": Pokhara.
 
Es ist früh am Morgen, und es ist noch kühl, als wir in Kathmandu in den Bus steigen. In keinen der besser ausgestatteten Touristenbusse - nein, wir haben Tickets für den Local Bus gekauft, mit dem die einheimische Bevölkerung auf Reisen geht. Manch einer wird über diese Entscheidung den Kopf schütteln - eng zusammengedrängt in einer Sardinenbüchse mit minimaler Beinfreiheit, mit Sitznachbarn, die Hühner in Käfigen auf dem Schoß halten und mit Ziegen, die dem Schaffner den Mittelgang streitig machen. Wir dagegen betrachten diese Wahl als eine Möglichkeit, dem Land und seinen Menschen ein wenig näher zu kommen. Außer uns sind noch ein paar weitere Rucksackreisende an Bord, von denen die meisten allerdings aussehen, als würden ihre Geldbeutel sie zu dieser preiswerteren Reisevariante zwingen. Vermutlich gehören sie zu denen, die ihre beschränkten Ressourcen lieber für etwas anderes aufsparen - für ein Abhängen in einer Gegend mit billigen Joints, wo sie für ein paar Wochen oder Monate ihr nepalisches Dolce Vita finden und den lieben Gott - oder den lieben Vishnu - einen guten Mann sein lassen können. Das Pärchen gleich hinter dem Fahrer hingegen scheint ebenso wie wir von dem Wunsch getrieben, die großartige Landschaft um Pokhara herum zu erleben. Subtropisches Klima, warm, feucht und alles ganz saftig, Pflanzen mit großen Blättern, sattgrüne Reisfelder und an den Bäumen Papayas und Bananen. Vor allem aber die unvergleichliche Bergwelt, die Menschen aus aller Herren Länder in diese Gegend zieht. Von den vierzehn Achttausendern der Erde befinden sich acht in Nepal, davon drei in der Nähe von Pokhara (Dhaulagiri, Annapurna, Manaslu), überdies gibt es hier etliche Siebentausender, darunter den Machhapuchhare, das "Matterhorn des Himalaya", auf dessen Spitze dem Glauben der Hindus zufolge die Götter wohnen (weshalb seine Besteigung verboten ist) sowie jede Menge Berge unter 7000 Metern, die aber immer noch höher sind als der europäische Spitzenreiter Mont Blanc. Wer will, kann sie (bis auf die erwähnte Ausnahme) alle besteigen. Wer das nicht will oder wer dazu nicht in der Lage ist, der wandert zwischen ihnen herum. So wie wir. Pokhara ist der Ausgangspunkt für diverse Trekkingtouren, darunter den Jomosom-Treck, den wohl bekanntesten Treck Nepals, der über einen Zeitraum von vierzehn Tagen durch eine atemberaubende Landschaft in die Nähe der tibetischen Grenze führt. (Im Jahr 1987 waren wir auf dieser Strecke unterwegs. Ich werde in einem späteren Beitrag darüber berichten.)
 
 
Zweihundert Kilometer beträgt die Entfernung von Kathmandu nach Pokhara, eine Distanz, für die unsere Sardinenbüchse volle neun Stunden braucht. Pass rauf und Pass runter, über steile Serpentinen und an klaffenden Abgründen entlang mit gelegentlichen Blicken auf Fahrzeugwracks in der Tiefe - Mahnungen an die Fahrer, dass die hinduistischen oder buddhistischen Heiligen auf ihren Armaturenbrettern eben auch nicht allmächtig sind. Aber schlecht gefahren ist bekanntlich besser als gut gelaufen, weshalb wir glücklich sind, dass wir die zweihundert Kilometer nicht wie noch in den 1960er Jahren üblich zu Fuß zurücklegen müssen, sondern über die Straße rollen können, die der große Nachbar im Norden dem Land in den 1970er Jahren spendiert hat. Was heißt, dass die Chinesen sie gebaut haben, ihre Unterhaltung indes sollte Aufgabe der Nepalis sein. Doch vielleicht hat es bei den Verhandlungen zwischen beiden Staaten ja ein Missverständnis gegeben, jedenfalls könnten die unzähligen Schlaglöcher und das immer wieder notwendige Fahren im Schritttempo ein Hinweis darauf sein.
 
Ankunft am Busbahnhof von Pokhara und gleich weiter mit einer Taxe zur Lakeside am Phewa-See, dem Ort, der allen damaligen Backpackers als das eigentliche Pokhara galt. Ein Streifen am See mit billigen Lodges und Guesthouses, mit Restaurants, in denen man für kleines Geld gut und reichlich essen konnte und mit einer Infrastruktur, wie Rucksackreisende sie schätzen - angefangen von kleinen Geschäften mit Ausrüstungsgegenständen für eine Trekkingtour über den Verleih von Fahrrädern und den An- und Verkauf gebrauchter Bücher bis hin zu Einkaufsmöglichkeiten für Souvenirs, oft in kleinen Läden angeboten, meist aber auf ausgebreiteten Decken auf der Erde, auf denen fliegende Händler bronzene Götterfiguren Schmuck jeglicher Art und allerlei Krimskrams feil hielten. Gelegentlich auch Khukris, die schweren gekrümmten Messer der Gurkhas, der legendären nepalischen Soldaten, die der britischen Armee in der Vergangenheit zu etlichen Siegen verhalfen. Hatte man Glück, war der Khukri echt, hatte man Pech, erlebte man den gleichen Reinfall wie heutzutage all jene Berlin-Touristen, die ein "garantiert originales" Bruckstück der Mauer erwerben, in der Hoffnung darauf, dass es echt ist.
"Cosmos Lodge", "Alka Guest House" oder "New Green Lake Hotel" lauteten in den 1970er und 1980er Jahren die Namen der Unterkünfte, in denen man für umgerechnet 5 bis 10 DM übernachten konnte, und das sogar relativ sauber. Restaurants wie das "Cockoo", das "Snowland" oder das "Hungry Eye" boten Mahlzeiten an, überwiegend aus der europäischen Küche, dazu eine beeindruckende Auswahl an Kuchen: Apple Pie mit Vanillesoße, Cinnamon Rolls, Cheese-Lemon-Pie und den fast schon obligatorischen Banana-Chocolade-Cake. Das "Snowland" und das "Hungry Eye" gibt es noch heute, doch inzwischen sind aus den kleinen Restaurants und ihren dazugehörigen Lodges mehrstöckige Hotels geworden, so wie sich ganz allgemein der Uferstreifen am Phewa-Lake in den letzten zwei, drei Jahrzehnten vollständig verändert hat. Längst ist das heute 250.000 Einwohner zählende Pokhara bis an den See herangewachsen, ein dicht bebautes, quirliges Viertel mit zahllosen Hotels und noch mehr Restaurants, auf deren Flat-TV-Screens die neuesten internationalen Filme laufen und aus deren wummernden Boxen die neueste weltweit angesagte Musik dröhnt. Discos und Bars laden zum After-Trekking, und knallbunte Werbetafeln singen das Hohelied auf den Kommerz.
 
Hippies und Junkies, Kletterer und Wanderer ... Daneben gab es eine weitere Klientel, eine wohlhabende, die die Gegend um Pokhara schätzte und die sogar in enger Nachbarschaft zu den Billig-Travellern - wenn auch deutlich von ihnen getrennt - logierte. Da war zum einen die Number One Nepals, der König, mit seinem Sommerpalast am See. Jener König, der wie seine Vorfahren von seinem Volk als Gott verehrt wurde und dessen Welt damals noch völlig in Ordnung war, der aber schon wenige Jahre später mitsamt seiner Familie einem Meuchelmord zum Opfer fiel, wodurch ein anderer seinen Platz auf dem Thron einnahm, der seinerseits von der bald darauf ausgerufenen Republik hinweggefegt wurde. Ein Lehrstück dafür, dass die moderne Zeit auch vor Göttern nicht Halt macht. Gesehen haben wir den Sommerpalast in Pokhara seinerzeit nicht, da er sich hinter hohen Mauern versteckte, wohl aber das Refugium des anderen Teils dieser wohlhabenden Klientel, und dem haben wir sogar einen Besuch abgestattet: Ich meine das Hotel "Fish Tail Lodge", das idyllisch am Phewa-See liegt und für Gäste nur mit einer kleinen Fähre zu erreichen ist. Ein erlesenes Ambiente in einer paradiesischen Umgebung, im Restaurant Köstlichkeiten der nepalischen Küche, von aufmerksamer Bedienung serviert, und dazu ein Fünf-Sterne-Blick über den See hinweg auf die Berge, an dem man sich - gutes Wetter vorausgesetzt - gar nicht satt sehen kann. Nepal at its best! Kein Wunder, dass die Liste der hochkarätigen Besucher lang ist, von Prinz Charles über Jimmy Carter und Henry Kissinger bis zu dem damaligen UN-Generalsekretär Kurt Waldheim. (Um einen Blick auf dieses Refugium zu werfen, benutzen Sie bitte den nebenstehenden Link. Meine eigenen Aufnahmen sind damals ärgerlicherweise einem Laborschaden zum Opfer gefallen.)
 
 
Mit einem kleinen Mann habe ich begonnen, mit einem kleinen Mann will ich enden. Einer unserer Träger hatte uns nach dem Treck zum Abendessen in sein Haus eingeladen. Zu einem Festessen, hatte er gesagt, das seine Frau für uns kochen wollte. Ein Dank dafür, dass wir ihn beschäftigt hatten und bei seiner Entlohnung großzügig gewesen waren. Das Festessen bestand aus viel Reis, ungeschälten Kartoffeln, ein wenig Gemüse und einem kleinen Stück Fisch, das mehr Gräten besaß, als alle anderen Fische meines Lebens zusammen. Aber sei's drum - die Geste zählte, und die war pure Herzlichkeit. Wir hatten unser Mahl gerade beendet, als sich nicht weit entfernt von uns eine Menschenmenge versammelte. Worum es ging, konnten wir nicht sehen. Aber da wir neugierig waren, gingen wir alle zusammen dorthin. Gleich darauf erblickten wir einen kleinen Mann, einen Vorgänger seines späteren Landsmannes und Rekordhalters Khagendra gewissermaßen. Mit dünner Stimme redete er auf die Umstehenden ein und führte dabei jenes "Kunststück" auf, auf das er sich vermutlich am besten verstand und für das er von seinen Zuschauern kleine Spenden erhielt: Er präsentierte sich selbst. Für uns war dieses allgemeine Begaffen mit einem merkwürdigen Gefühl verbunden, es war fast wie in einem Zoo, nur dass der Gegenstand des Interesses nicht ein Erdhörnchen war oder ein Koalabär, sondern ein Mensch. Eine Weile schauten wir zu, dann kehrten wir alle gemeinsam zu dem Haus unseres Trägers zurück und nahmen unser unterbrochenes Gespräch wieder auf. Aber der kleine Mann wollte uns lange nicht aus dem Kopf gehen.
 
Manfred Lentz
 
 
Die neuen Berichte auf reiselust.me erscheinen jeweils
am 10., 20. und 30. jedes Monats