Mal nicht in die Ferne
geschweift ...
Vier Tage in Dresden. 2012 (Teil 1)
 
Kathmandu und Rio, New York, Tamanrasset und Mamallapuram ... und Dresden? Gerade mal 200 Kilometer von Berlin entfernt, entspannt mit Bus oder Bahn zu erreichen, Fahrzeit wenig mehr als zwei Stunden. Noch nie. Irgendwie peinlich? Eigentlich nicht. Schließlich macht es Sinn, zuerst die weiten Reisen zu unternehmen, so lange man noch fit ist. Die Nahziele kann man sich aufsparen für die Zeit, wenn nichts anderes mehr geht. Doch natürlich versäumt man auf diese Weise etwas. Also doch Dresden? Ein paar Tage vom viel zu knappen Urlaub abgezweigt und mal nicht in die Ferne geschweift?
 
Im August 2012 beantworten wir diese Frage mit Ja, was an einem runden Geburtstag liegt und an dem Wunsch, ihn ohne Trubel in trauter Zweisamkeit zu begehen. Vier Tage in der Hauptstadt des Freistaates Sachsen, staulose Anfahrt mit der Bahn, ein schönes Hotel in günstiger Lage. Vier Tage in einer Stadt, die - das Fazit schon vorneweg - einfach top ist. Bereits nach den ersten Eindrücken gefällt sie uns. Unser Hotel liegt auf dem rechten Elbufer, dicht am Fluss und nahe bei der Augustusbrücke, über die man in die historische Altstadt gelangt. Also an der Stelle, von wo aus man den berühmten "Canaletto-Blick" hat - jene Ansicht, die der Maler Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, vor über 250 Jahren auf die Leinwand gebracht hat und die seit der Erfindung der Fotografie vermutlich zu den am meisten abgelichteten Motiven Dresdens gehört. Links die Brühlsche Terrasse mit der Kuppel der Frauenkirche dahinter, in der Mitte das Residenzschloss mit der Hofkirche, weiter rechts die nach ihrem Architekten Gottfried Semper benannte Oper. Eine Silhouette mit einem Wiedererkennungswert wie das Brandenburger Tor in Berlin. Jährlich verfallen rund sieben Millionen Besucher dem Reiz Dresdens, eine Zahl, die zu den Spitzenwerten nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa gehört. Etwa eine halbe Milliarde Euro bringt der Tourismus der Stadt jährlich ein, von denen nun auch ein paar von uns stammen.
 
 
Womit beginnen? Unser Reiseführer überschlägt sich mit Superlativen über das wegen seiner Architektur und seiner Kunstsammlungen auch "Elbflorenz" genannte Dresden, aber irgendwo müssen wir ja anfangen. Wir entscheiden uns für den Zwinger, das Gebäudeensemble, das man ebenso wie die Altstadt-Ansicht von zahllosen Bildern kennt und dessen martialisch klingender Name in einem so merkwürdigen Gegensatz zu seinem Äußeren steht. Einen Zwinger kenne ich als ein eingegittertes Gehege für Tiere - aber hier? Wir finden die Antwort: Das Wort Zwinger beschreibt ursprünglich den Raum zwischen zwei Mauern einer mittelalterlichen Burganlage, was in diesem Fall bedeutet, dass der Name nurmehr aus der Entstehungsgeschichte des Bauwerks verständlich wird. Doch längst ist es ein Name, den die Welt kennt. Erbaut während der Regentschaft des sächsischen Kurfürsten und polnischen Königs August des Starken zu Beginn des 18. Jahrhunderts, gehört der Zwinger heute zu den großartigsten Bauwerken des Barocks in Deutschland. Reich verzierte Pavillons, von Balustraden, Vasen und Figuren gesäumte Galerien sowie der dazugehörige Garten zeugen von der höfischen Prachtentfaltung Augusts und sind gleichzeitig eine Zurschaustellung seiner herrscherlichen Macht. Ein Gesamtkunstwerk aus Architektur, Plastik und Malerei, das jedoch ebenso wenig wie die übrigen historischen Gebäude Dresdens vom letzten Krieg verschont blieb. Als Folge der alliierten Bombenangriffe vom 13. und 14. Februar 1945 versanken große Teile des Schlosses in Schutt und Asche - bei allem Verständnis für die Wut auf diejenigen, die zuvor entsetzliches Unheil über die Welt gebracht hatten, eine Aktion, die sprachlos macht. Bereits im Jahr 1945 wurde mit dem Wiederaufbau dieser Perle der europäischen Architektur begonnen, und heute nun stehen wir davor und sind beeindruckt von dem, was Baumeister und Künstler sowie unzählige namenlose Handwerker einst schufen.
"Vergessen Sie nicht, unsere beiden Engelchen zu besuchen", hatte uns die Dame an der Rezeption unseres Hotels schon bei unserer Ankunft ans Herz gelegt. Hier im Zwinger haben wir die Möglichkeit dazu, denn hier befindet sich die Gemäldegalerie Alte Meister, in der sie zu Hause sind. Die Alten Meister sind nicht das einzige Museum im Zwinger, daneben gibt es die Porzellansammlung, eine der umfangreichsten und kostbarsten der Welt, sowie den Mathematisch-Physikalischen Salon mit Uhren und wertvollen wissenschaftlichen Instrumenten. Aber vermutlich ist die Gemäldegalerie das bekannteste der hier ansässigen Museen. Zu ihrer Sammlung gehören Werke von Cranach und Dürer, von Rembrandt, Rubens und Canaletto und eben auch das Gemälde von Raffael mit den Engeln. In diesem Jahr feiert es seinen 500. Geburtstag, worauf zahlreiche Plakate in der Stadt hinweisen. Eine Weile müssen wir anstehen, denn der Andrang ist erheblich, dann stehen wir mit gefühlten Hunderten anderer Besucher in einem nur spärlich erleuchteten Raum vor dem Gemälde des großen Florentiners: der Sixtinischen Madonna mit dem Jesuskind auf dem Arm und jenen beiden Kerlchen, die vermutlich für etliche der Anwesenden der entscheidende Grund für ihren Besuch in diesem Museum sind. Wer erwartet hatte, Raffael hätte den beiden ein ganzes Bild gewidmet, sieht sich nun in seiner Erwartung enttäuscht - sie sind lediglich eine Art "Beiwerk" am unteren Bildrand der Madonna. Das Wort "allerliebst" kommt mir in den Sinn, Engelchen zum Knuddeln gewissermaßen, deren Konterfei Betttücher und Schirme ziert, Keksrollen und Taschen und tausenderlei andere Dinge. Wie beliebt die beiden sind, hat der Hausherr der Gemäldegalerie sehr anschaulich ausgedrückt: "Wenn wir für jeden Abdruck nur einen Cent bekämen, unser Haus würde im Geld schwimmen."
 
Als wir die Alten Meister verlassen, stellen wir fest, dass sich auf dem kurzen Weg zur Semperoper ein Lokal befindet. Bis zu unserer vorab per Internet gebuchten Führung durch das Opernhaus bleibt noch ein wenig Zeit, und da kommt uns dieses Lokal sehr gelegen für eine Pause. Für eine Radeberger-Bier-Pause, die sich in diesem Moment geradezu aufdrängt. Schließlich ist die Semperoper durch ihre Werbezusammenarbeit mit Radeberger Pilsner zu dessen Erkennungsbild geworden. "Beide Häuser vereint nicht nur die sächsische Heimat, sondern vor allem der hohe Eigenanspruch an Qualität und Wertigkeit", heißt es auf der Website der Brauerei aus dem Dresdner Umland. Eine Aussage, die wir in Bezug auf das Bier nur bestätigen können und in Bezug auf die Oper, die wir gleich kennen lernen werden, vermutlich erst recht. Pünktlich finden wir uns bei der Besuchergruppe ein und wandern gleich darauf mit zwei Dutzend anderer Neugieriger - ausführlich informiert von einem Dresdner, der sein Opernhaus offensichtlich sehr liebt - durch die prächtig ausgestatteten Räume. Beinahe auf den Tag genau vor zehn Jahren sah es hier völlig anders aus, als es nach tagelangen Regenfällen in Deutschland und mehreren Nachbarländern zu schweren Überschwemmungen gekommen war. Die Kellerräume hatten unter Wasser gestanden, große Teile der Bühnen- und Elektrotechnik waren zerstört, und auch die Dekorations- und Kostümwerkstatt war erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Der Theaterplatz vor dem Gebäude, über den heute wieder Touristen aus aller Welt spazieren, glich einem See. Doch das ist Vergangenheit. Längst sind alle Schäden beseitigt, und Gottfried Sempers Oper erfreut sich wieder derselben Beliebtheit bei Einheimischen und Touristen aus aller Welt wie zuvor.
 
Nach so viel Edelkultur hat das Streitgespräch etwas geradezu Entspannendes, das sich am Ende unserer Führung zwischen einer Frau reiferen Alters und einem jungen Mann - Tätowierungen bis fast über die Ohren - entspinnt. Kurfürst August, sagt der junge Mann zu seinem Begleiter, habe deshalb von seinen Zeitgenossen den Beinamen "der Starke" erhalten, weil er neben den Kindern aus seiner Ehe noch 354 uneheliche Kinder gehabt habe. Die Frau, die diese Bemerkung gehört hat, schüttelt den Kopf. Der Beiname sei ihm verliehen worden, weil er ein Hufeisen mit der bloßen Hand zerbrochen habe, korrigiert sie, nicht wegen dieser angeblichen Kinder. Lediglich die zehn aus seiner Ehe seien bezeugt, eine für die damalige Zeit nicht unübliche Zahl. Doch der Mann glaubt ihr nicht. Diese zehn mögen ja bezeugt sein, erwidert er, aber dass der verheiratete August jede Menge "Tussis" nebenbei gehabt habe - zu Zeiten des Sachsenherrschers hätte man wohl eher das Wort Mätressen gewählt -, diese Tatsache sei allgemein bekannt. Sein Grinsen verrät, wie sehr ihm diese Vorstellung gefällt. Die Frau rollt mit den Augen und eilt dann wortlos ein paar Bekannten hinterher. Also hat er nun, oder hat er nicht? fragen wir uns und lassen uns auf den Stufen des Reiterdenkmals von König Johann nieder. Wieder einmal erweist sich, wozu ein Smartphone so alles gut ist: Einem Artikel in der Wikipedia zufolge besitzt die Zahl 354 keinen realen Gehalt, vielmehr wurde sie August von einer gewissen Wilhelmine von Bayreuth "angedichtet". Aus welchem Grund? Keine Antwort.
 
 
Doch wie auch immer - August der Starke ist allgegenwärtig, in den Köpfen der Dresdner und ihrer Gäste ebenso wie in seinen materiellen Hinterlassenschaften und auch in den Erinnerungen an ihn, denen man in seiner Residenz immer wieder begegnet. An diesem Tag stoßen wir noch zwei Mal auf ihn. Beim ersten Mal ist er lediglich einer von vielen, oder um genau zu sein: einer von 35, allesamt Herrscher aus dem sächsischen Hause Wettin. "Der Fürstenzug" heißt das 102 Meter lange und 10 Meter hohe Bild auf der Rückseite des Residenzschlosses ein ungewöhnliches Kunstwerk, das aus 23.000 in Meißen hergestellten Fliesen besteht. Womit es nicht nur eine eindrucksvolle Ahnengalerie ist, sondern wegen seiner Abmessungen auch das größte Porzellanbild der Welt. Das zweite Mal ist August solo zu sehen, auf einem Denkmal, das kurz nach seinem Tode aufgestellt wurde. Es steht in der Verlängerung der Augustusbrücke (nicht Augustbrücke!) am Eingang zur Dresdner Neustadt und ist weder aus Stein noch aus Bronze, wie das bei Denkmälern dieser Art üblicherweise der Fall ist - nein, dieses Denkmal erstrahlt in Gold. Es zeigt August den Starken als römischen Cäsar auf einem Lippizanerhengst gen Polen gewandt, dessen König er (wie erwähnt) war. "Goldener Reiter" heißt das Denkmal im Volksmund, es ist das bekannteste Denkmal der Stadt. Man darf wohl annehmen, dass der Liebhaber von Luxus und verschwenderischem Reichtum über eine solche Erinnerung an sich höchst erfreut wäre - auch wenn es sich bei dem Gold anders als bei der Errichtung dieses Monuments heute nur noch um Blattgold handelt.
 
(wird fortgesetzt)
 
Manfred Lentz

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jeweils am 1. und 15. jedes Monats