Umtrunk mit Rhinos
oder: Wie aus einer langweiligen Exkursion ein großer Event wurde. Namibia 2012
 
Es ist ätzend langweilig und jeder fragt sich, warum er für diesen Flop Geld ausgegeben hat. 40 Dollar pro Person sind kein Pappenstiel, aber schließlich sollte es ja darum gehen, Tiere zu sehen. Doch wir sehen keine, ausgenommen ein paar Affen in einiger Entfernung, die man auch erst nach mehrmaligem Hinschauen als Affen identifizieren kann. Selbst die Warzenschweine, vor deren allgegenwärtiger Präsenz Straßenschilder warnen, haben sich dünne gemacht. Obendrein fahren wir durch eine Natur, die man nur mit viel gutem Willen als spannend bezeichnen kann. Dorniges Gestrüpp zu beiden Seiten der Sandpiste, so dicht, dass man nur ein paar Meter weit sehen kann und alles, was dahinter ist, verborgen bleibt. Aber vielleicht ist ja gar nichts dahinter, kein einziges Tier, und wir vertrödeln nur unsere Zeit und werfen unser Geld zum Fenster hinaus. Ein paar Stunden vorher hatte sich das alles noch ganz anders angehört: eine Tour mit einem Jeep, geführt von einem Einheimischen, der sich in dieser Gegend bestens auskennt und ein Profi in Sachen Tierbeobachtung ist. Ein großes Erlebnis. Inzwischen sind wir mehr als eine halbe Stunde unterwegs und davon überzeugt, dass wir gelinkt worden sind. Wir - das sind zusammen mit uns acht Touristen aus Deutschland, allesamt Individualreisende, die in derselben Lodge unterhalb des Waterbergs abgestiegen sind. Des Berges, der in jedem namibischen Geschichtsbuch erwähnt wird und auch in jenen deutschen, die der Kolonialgeschichte in "Deutsch Südwestafrika" ein Kapitel widmen. Ein sehr dramatisches Kapitel, worauf ich in einem späteren Bericht zurückkommen werde. Hier, in dem aktuellen Bericht, soll es erst einmal um Tiere gehen. Um die Tiere, die unser Fahrer uns versprochen hat.
 
 
"Meinetwegen können wir zurück fahren", stöhnt einer unserer Mitfahrer, und ein paar andere pflichten ihm bei. Hat der Typ hinter dem Steuer denn noch nicht bemerkt, dass wir sauer sind? Offenbar nicht, denn er lässt sich in seiner angespannten Aufmerksamkeit nicht irritieren, sucht stattdessen angestrengt beide Seiten der ruckeligen Piste ab und erweckt dabei den Eindruck, als würde schon im nächsten Augenblick eine Sensation auf uns warten. Aber da wartet nichts, und deshalb holt er nach einer weiteren Viertelstunde ein Funkgerät raus und stellt eine knarzende Verbindung her. Mit wem er spricht und was er sagt, bleibt uns wegen der fremden Sprache verschlossen, aber es ist uns auch herzlich egal. Eine Weile reden die beiden miteinander, dann legt der Fahrer das Funkgerät beiseite, packt das Lenkrad fester und wechselt die Richtung. Eine weitere staubtrockene Piste und wieder nichts als dorniges Gestrüpp. Plötzlich tritt ein Mann zwischen den Büschen hervor, vermutlich ist er derjenige, mit dem unser Fahrer gerade gesprochen hat. Er steigt ein, und zwischen den beiden entspinnt sich eine wortreiche Konversation. Während wir schwitzend vor uns hinstarren und unsere Gedanken bereits um die bei unserer Rückkehr zu erwartenden kalten Getränke kreisen, sitzt der Fahrer unbeirrt hinter dem Lenkrad - vermutlich hat er unsere Anwesenheit längst vergessen - und steuert in die Richtung, die ihm der Zugestiegene weist. "Vielleicht sehen wir ja doch noch ein Warzenschwein oder wenigstens einen Vogel", versucht einer die Stimmung ein wenig aufzuheitern, doch so richtig witzig findet das keiner mehr. Plötzlich hält der Fahrer an, während sich gleichzeitig aus der entgegengesetzten Richtung ein weiterer Jeep nähert. Dicht vor uns bleibt er stehen. Unser Fahrer bedeutet uns auszusteigen, und auch die Neuankömmlinge verlassen ihr Fahrzeug.
"Silent please!", sagt der Zugestiegene, der jetzt die Führung übernimmt, und legt einen Finger auf den Mund. Mit einer Geste fordert er uns auf, ihm zu folgen. Behängt mit Fotoapparaten und Filmkameras schleichen wir so leise wie möglich durch Gras und Gestrüpp unserem Führer hinterher. Irgendetwas scheint hier "im Busch" zu sein, diesmal wortwörtlich, allerdings können wir es weder sehen noch hören, und keiner von uns hat auch nur die geringste Idee, was es sein könnte. Auf einmal bleibt der Führer abrupt stehen und deutet mit dem ausgestreckten Arm nach vorn. "See!", raunt er dazu mit gedämpfter Stimme. Wir tun, was er verlangt, und dann sehen wir es auch schon, und noch in derselben Sekunde fällt alle Langeweile schlagartig von uns ab. Ja, mehr noch: Wir sind so erregt, wie es vermutlich einst die Neandertaler waren, wenn sie endlich das lange gesuchte Mammut aufgespürt hatten. In unserem Fall handelt es sich natürlich um kein Mammut, denn solche Tiere gibt es auch in Namibia nicht mehr. Doch was wir stattdessen sehen, fällt für uns fast in die gleiche Kategorie: zwei Nashörner. Nicht einmal fünfzig Meter von uns entfernt liegen sie zwischen den Büschen und scheinen zu schlafen. Zwei von diesen riesigen, tonnenschweren Tieren mit den dicken Panzern und den mächtigen Hörnern, die zu den stärksten Vertretern des Tierreichs auf der ganzen Erde gehören und denen wir nun live gegenüber stehen, weder durch einen Wassergraben noch durch eine Mauer von ihnen getrennt wie im Zoo, sondern lediglich durch ein Gebüsch, dessen schützende Wirkung gleich Null ist. Adrenalin überschwemmt unsere Körper, und unser Herzschlag schnellt jäh in die Höhe. Aber wenn wir dachten, das war's schon, so irren wir uns. Denn jetzt fängt die Geschichte erst richtig an.
  
Irgendwie habe ich in dem Chaos noch die Nerven gehabt, auf den Filmmodus meiner Kamera umzuschalten und zwischen dem Fotografieren zu filmen. Ich habe die Aufnahmen auch während des Laufens gemacht, die "Kameraführung" gibt diese Situation wieder.
 
Unser Führer gibt uns ein Zeichen zurückzubleiben und macht gleichzeitig ein paar Schritte auf die Nashörner zu. Sie beachten ihn nicht, ja vielleicht haben sie ihn noch nicht einmal bemerkt. Doch da er ihre Aufmerksamkeit will, beginnt er sie zu wecken. Er wedelt mit den Armen und redet aufmunternd auf die Tiere ein, und siehe da - plötzlich erhebt eines von ihnen seinen massigen Körper, streckt sich ein paar Mal wie ein aus dem Schlaf gerissener Mensch und steht dann in seiner ganzen imponierenden Größe da. "Nashörner sind große bis sehr große Säugetiere", heißt es in der Wikipedia. In diesem Moment kommen sie uns wie sehr, sehr große vor. Nun steht auch das andere Nashorn auf - "female" zischt uns der Führer zu -, und während er die beiden Tiere mit weiteren Wörtern und Gesten lockt, setzen diese sich schwerfällig in Bewegung. In unsere Richtung! Es ist keine Panik, die uns erfasst, aber allzu weit ist unsere Gefühlslage davon auch nicht entfernt, denn wir hasten ohne uns umzudrehen nach hinten, stolpern dabei über Wurzeln und herumliegende Äste und haben dabei ständig die beiden Rhinos im Blick, die sich angelockt von unserem Führer mit gefühlten hundert Stundenkilometern auf uns zu bewegen. Weiß dieser Mann eigentlich, was er tut?! Ist er leichtsinnig?! Oder ist er verrückt?! Ein Durchgeknallter, der unsere Leben leichtfertig aufs Spiel setzt für eine Show, die unzweifelhaft eindrucksvoll ist, deren Ausgang aber womöglich in den Sternen steht?! Wieder und wieder hebe ich die Kamera und drücke mit zitterndem Finger auf den Auslöser, während ich mit den anderen weiter nach hinten flüchte, unserem Jeep entgegen, der uns allen in diesem Augenblick der sich nähernden Gefahr wie eine letzte Zuflucht erscheint. Als wir ihn erreicht haben, springen die einen mit einem schnellen Satz auf die Sitze, die anderen bringen sich hinter dem Fahrzeug in Deckung.
 
 
Und noch immer trotten die beiden Kampfmaschinen auf uns zu. Wie Schoßhündchen folgen sie dem Führer, der unablässig auf sie einredet und dabei die ganze Zeit über den Eindruck erweckt, als hätte er die Sache vollständig im Griff. So als wäre das alles eine Vorführung, die er schon des öfteren veranstaltet hat. Auch den Höhepunkt hat er offenbar schon des öfteren inszeniert, aber dennoch erscheint uns das Ganze wie ein Traum. Während wir uns noch ängstlich hinter dem vermeintlichen Schutz unserer Fahrzeuge verstecken, beginnen die Tiere wenige Meter weiter - anstatt böse zu sein, die Wagen umzustoßen oder uns auf ihre Hörner zu spießen - ganz friedlich zu grasen. Wer bis dahin nicht wusste, dass Nashörner Vegetarier sind, der weiß es jetzt, und deshalb tun diese Tiere etwas, was beispielsweise Löwen in einer vergleichbaren Situation niemals getan hätten: Sie ignorieren uns. Nach und nach wagen wir uns aus unserer Deckung, schauen und staunen Bauklötze, was nur wenige Schritte von uns entfernt geschieht und machen dabei jede Menge Bilder. Unser Führer ist derweil völlig entspannt, winkt uns nur jeweils ein Stück zurück, wenn die Nashörner näher kommen, erweckt aber ansonsten den Eindruck eines Kuhhirten auf der Alm, der an der Harmlosigkeit seiner Schützlinge nicht den geringsten Zweifel hegt. Als wir ihn auf das denkwürdige Schauspiel ansprechen, beginnt er bereitwillig zu erzählen: Als Jungtiere seien die beiden vor einigen Jahren aus Südafrika hierher gebracht worden, er selbst habe sie gewissermaßen großgezogen, habe zeitweise in ihrer Nähe geschlafen und sie durch ihr Nashornleben begleitet, deshalb seien sie in seiner Gegenwart völlig harmlos und stellten auch für uns keine Gefahr dar. Wir vernehmen die Worte, aber ein wenig fehlt uns der Glaube. Schließlich sind Nashörner nun mal keine Schoßhündchen! Sie sind und bleiben Wildtiere, und wenn sie es nur wollten, so könnten sie innerhalb weniger Sekunden ein Blutbad unter uns anrichten und die beiden Jeeps in Schrotthaufen verwandeln.
 
Was sie aber nicht tun, und was sie allem Anschein nach auch nicht vorhaben. In dieser skurrilen Situation fehlt eigentlich nur noch eins, und das ist genau das, was unser Fahrer in diesem Augenblick tut: Aus dem Kofferraum seines Jeeps zaubert er eine Kühlbox hervor, öffnet sie mit einem breiten Grinsen und verteilt ein paar Flaschen Bier sowie verschiedene Softdrinks an uns Und so stehen wir denn alle um die beiden Autos herum, reden angeregt aufeinander ein, bekämpfen die Hitze mit dem gut gekühlten Bier und machen nebenbei immer mal wieder ein paar Fotos, während die beiden Kolosse ein Büschel trockenes Gras nach dem anderen ausrupfen und sich daran delektieren. Irgendwann haben sie genug gefressen, vielleicht beginnt auch die Anwesenheit der Menschen sie zu langweilen, jedenfalls machen sie sich daran, die Piste entlang zu trotten, hier noch ein Büschel ausrupfend und dort eines und sich dabei immer weiter von unseren Autos fort bewegend, bis sie nach einer Weile die Piste verlassen und im Dornengestrüpp verschwinden. Vermutlich um sich wieder zur Ruhe zu begeben und den Schlaf nachzuholen, um den unser Führer sie betrogen hat. Zutiefst beeindruckt, aber auch nicht ohne eine gewisse Erleichterung, starren wir den beiden hinterher. Was für ein Erlebnis an einem Nachmittag, der so langweilig begonnen hat! Was für eine faszinierende Begegnung! Und was für ein Glück, dass wir so viele Fotos gemacht haben, denn würde man uns diese Geschichte zu Hause sonst glauben?
 
Manfred Lentz

 
Die neuen Berichte auf reiselust.me erscheinen jeweils
am 1. und 15. jedes Monats