Flucht ins "Nachtcafé"
Ohne den Mistral wäre Arles noch mal so schön. Frankreich 2005
 
Die Stadt Arles liegt im Süden der Provence an der Rhône, sie hat etwa 50.000 Einwohner und lebt zu einem großen Teil vom Olivenanbau und der Schafzucht im Umland, vor allem aber - wie auch viele andere Orte in diesem Landstrich unweit des Mittelmeers - vom Tourismus. Was nicht erstaunlich ist, gilt Arles doch als eine der schönsten und sehenswertesten Städte der Provence. Sie kennen Arles nicht? Mag sein, dass Sie noch nie dort waren, aber auf die eine oder andere Weise ist Ihnen der Name dieser Stadt bestimmt schon untergekommen. Sind Sie an Geschichte oder Kunstgeschichte interessiert, so ist Ihnen vermutlich das Amphitheater bekannt, eine verkleinerte Ausgabe des Kolosseums in Rom. Lieben Sie klassische Musik, dann haben Sie gewiss schon von der Bühnenmusik "L'Arlésienne" von Georges Bizet gehört, in der den schönen Frauen von Arles Kränze geflochten werden. "Arlésienne" ist auch der Name eines Parfüms der Firma L'Occitane. Sind Sie des öfteren in Postershops unterwegs, dürfte Ihnen van Goghs "Caféterrasse am Abend" bekannt sein (oft mit der Bildunterschrift "Das Nachtcafé" versehen). Und handelt es sich bei Ihnen um einen eingefleischten Asterix-Fan, so dürften Sie ebenfalls von Arles gehört haben, in diesem Fall allerdings unter dem älteren Namen Arelate. In dem Band "Das Geschenk Cäsars" wird der Ort erwähnt, als der Imperator höchstpersönlich seinen Legionären für langjährige Dienste in der römischen Armee Besitzurkunden überreicht. Einer von ihnen erhält ein kleines Dorf im Norden Galliens, mit dessen Bewohnern er in der Folge bekanntermaßen wenig Freude haben wird. Ein anderer scheint besser bedient: Er bekommt eine Urkunde über eine Parzelle in Arelate. In einem Ort mit Entwicklungspotenzial, wie man heute sagen würde: Immerhin wuchs er zu einer ernsthaften Konkurrenz zu Massilia (Marseille) heran und wurde später sogar zur Hauptstadt Galliens. Und er erhielt die erwähnte Arena.
 
 
Wir lernen Arles kennen, weil wir uns in diesem Jahr den Süden Frankreichs als Urlaubsziel ausgesucht haben. Nicht allein die Provence, auf die sich bei vielen Zeitgenossen Südfrankreich reduziert, aber dort beginnt unsere Rundreise - nach einer langen Fahrt von Berlin quer durch Deutschland und weiter auf der fürchterlichen Autoroute du Soleil A7, die für ihren starken Verkehr berüchtigt ist und die mit kaum vorstellbaren 176 Kilometern den längsten Stau der Geschichte erlebt hat. Auf dem Campingplatz von Arles bauen wir unser Zelt auf, dann geht es hinein in die Stadt. Und wohin? Natürlich zu jenem Bauwerk, das laut Reiseführer vor Ort die Nummer eins ist und auf das auch die ausliegenden Prospekte an der Rezeption unseres Platzes mit vielen Ausrufezeichen aufmerksam machen: zum Amphitheater.
 
Die Zahlen sind nüchtern, die Ansichten dafür um so eindrucksvoller. Um 90 n. Chr. errichtet, hat das ovale Bauwerk einen Durchmesser von 140 bzw. 103 Metern, es bestand ursprünglich aus drei Geschossen mit je 60 Arkaden und bot etwa 25.000 Zuschauern Platz. Womit es nur halb so groß war wie das Kolosseum in Rom - in der Hauptstadt des Reiches stand natürlich das größte Amphitheater -, aber beeindruckend ist der Bau trotzdem. Und gut erhalten, oder richtiger: gut restauriert. Die wilde Wohnbebauung der vorangegangenen Jahrhunderte wurde entfernt, die gröbsten Schäden, die durch das hemmungslose Ausschlachten des Monuments entstanden waren, wurden beseitigt, bis aus dem hässlichen Entlein wieder jener stolze Schwan geworden war, der heute Touristen aus aller Welt anzieht. Dass man dabei auf die Wiederbelebung der antiken Funktionen verzichtete, versteht sich von selbst. Keine Gladiatorenkämpfe, keine Tierhatzen, die einst Generationen von Römern und ihre gallischen Untertanen von den Sitzen gerissen hatten, dafür allerdings eine andere Art von "Unterhaltung", die auch nicht gerade ein Ruhmesblatt menschlicher Kultur darstellt: Stierkämpfe. Generationen von Liebhabern dieser Spektakel haben in den Rängen gesessen, darunter van Gogh, Picasso und der Schriftsteller und Maler Jean Cocteau. Doch wie in Spanien, so sind auch in Frankreich Stierkämpfe heute heftig umstritten, und es gibt Anlass zu der Hoffnung, dass diese Form staatlich sanktionierter Tierquälerei in absehbarer Zeit beendet sein wird.
Der Himmel ist dunkelblau und wolkenlos, die Sonne scheint, ideales Urlaubswetter also, wäre da nicht etwas, was dieses Bild stört. Ich meine den kräftigen Wind - den Mistral. Kalte Luft, die von Nordwesten in den Mittelmeerraum einströmt, aber wegen der Alpen auf der einen Seite und der Cevennen auf der anderen nur den Weg durch das Rhônetal nehmen kann. Windgeschwindigkeiten von 50-75 km/h sind dabei üblich, in Spitzen können es aber auch 130 km/h sein oder noch mehr. Und das nicht nur gelegentlich, sondern häufig im Jahr und oft auch noch über mehrere Tage. Das Ganze fühlt sich an, als stünde man vor einem gigantischen Fön. Irgendwann sind wir genervt. Wir brechen die Besichtigung des Amphitheaters ab und fliehen in die umliegenden Gassen, in denen sich der Wind weniger bemerkbar macht. Und in denen es hübsche Lokale gibt - erst eines mit einem köstlichen Menü, danach gleich um die Ecke ein gemütliches Café. Kein gewöhnliches, sondern das eingangs erwähnte "Nachtcafé", das "Café de Nuit". In natura sieht es beinahe genau so aus wie auf dem Bild. Vincent van Gogh hat es während seines Aufenthalts in Arles in den Jahren 1888-89 geschaffen. Wie viele andere Maler vor und nach ihm waren es "die heiteren Farben des Südens", die ihn aus den kalten Niederlanden in die Provence geführt haben. In Arles hat er eine besonders produktive Zeit verbracht, fast zweihundert Gemälde sind hier entstanden, darunter jene "Arlésiennes", die Bizet auf die Bühne gebracht hat. Auf van Goghs Bild haben diese Frauen allerdings so gar nichts mit den verführerischen Schönen Bizets gemeinsam, sie wirken abgehärmt und seltsam entrückt. Vielleicht ein Spiegel von van Goghs eigenem Ich - ein psychisch Kranker, der nach 15 Monaten Aufenthalt in Arles von den Bürgern aus der Stadt getrieben wurde, da er ihnen als verrückt und unheimlich erschien, und der ein Jahr später im Alter von gerade einmal 37 Jahren durch Selbstmord aus dem Leben schied. Wodurch er mit einer anderen Person aus Arles so gar nichts gemein hat - mit Jeanne Calment, einer unter normalen Umständen völlig unbekannten Einwohnerin dieses Städtchens, deren Name lediglich deshalb überliefert ist, weil sie mit 122 Jahren das weltweit höchste bestätigte Alter erreicht hat.
 
 
Am nächsten Morgen noch ein kurzer Blick auf die ehemalige Benediktiner-Abteikirche Saint-Trophime mit ihrem berühmten Portal aus dem 12. Jahrhundert, dann reisen wir ab. Nicht, weil es in Arles nichts mehr zu entdecken gäbe - es ist der Mistral, der uns verscheucht. Dieser Wind, der 24 Stunden am Tag durch die Stadt pfeift, der uns die Sonnenmützen vom Kopf reißt, die Speisekarten von den Tischen fegt und die Autotüren zuknallt, und der uns überdies eine "bitterkalte" (Originaltext aus unserem Tagebuch) Nacht beschert hat. Wie war das doch gleich mit Cäsars Geschenk? Der eine Legionär bekam das kleine gallische Dorf im Norden, das kein Zuckerschlecken für ihn werden sollte, der andere eine Parzelle in Arelate. Fragt sich, ob das letztere Geschenk wirklich so viel besser war.
 
Manfred Lentz

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