"Want some Ganja?"
Kathmandu galt Freaks lange Jahre als das irdische Nirwana. Nepal 1978-1987
 
Anfang 2015. Ein Ereignis und eine Nachricht bringen mich dazu, diesen Bericht zu schreiben. Das Ereignis: Beim Aufräumen einer Kiste fallen mir mehrere Kalenderblätter aus Kathmandu in die Hände. Souvenirs einer Reise aus dem Jahr 1973. Sie zeigen Hindugottheiten in knallbunten Farben, einzelne Monate mit den dazugehörigen Tagen sowie die Aufschrift "Eden Hashish Centre". Die Nachricht: In den USA, wo Cannabis bereits in mehreren Bundesstaaten erlaubt ist, wies das legale Geschäft mit dieser Droge 2014 im Vergleich zum Vorjahr ein Wachstum von 74 Prozent auf. Im laufenden Jahr 2015 könnten es 30 Prozent werden, womit dieses Wirtschaftssegment das am stärksten wachsende in den USA wäre. Im ersten Fall also ein Cannabisprodukt als Namensgeber einer Örtlichkeit in Nepal, im zweiten der Siegeszug von Cannabis in den Vereinigten Staaten. Zwischen beiden liegen rund 40 Jahre, in denen sich in Bezug auf diese Droge einiges getan hat.
 
1978 bin ich das erste Mal in Kathmandu, relativ spät, denn etliche meiner Kommilitonen waren bereits vor mir da. Ich kann mich noch deutlich erinnern, wie die ersten von ihnen aufbrachen - getrieben von der Sehnsucht nach einem Abenteuer, nach Erleuchtung, was immer das auch bedeuten mochte, oder wesentlich profaner: auf der Suche nach billigen Drogen. Um den Geldbeutel zu entlasten, hatten die meisten den "Hippie Trail" gewählt: den Landweg durch die Türkei in den Iran, manche mit einem Abstecher nach Afghanistan, anschließend weiter nach Pakistan und Indien und von dort nach Kathmandu, in die Hauptstadt des kleinen Himalayakönigreichs Nepal. Monate später kehrten sie zurück, manche auch erst nach einem Jahr oder länger. Sie berichteten erstaunliche Dinge und führten Worte im Mund, die uns Hiergebliebene zu Ignoranten degradierten. Denn wer von uns hatte jemals von Ganesha gehört, von den Inkarnationen Shivas oder vom Affengott Hanuman? Wem waren die vier edlen Wahrheiten geläufig oder der achtfache Pfad, und wer von uns hätte in "Om mani padme hum" etwas anderes gesehen als ein schlecht gelöstes Buchstabenrätsel? Greifbarer - aber selbst in jenen vermeintlich so wilden Jahren nicht von jedem goutiert - waren da schon die Berichte von Joints und Trips, von den Erfahrungen mit LSD, Heroin & Co. und von Psycho-Reisen in Welten voll explodierender Farben oder manchmal auch nachtschwarzer Untiefen, zugedröhnt mit Musik von Jimi Hendrix und Jim Morrison, zwei wenig später hingeschiedenen "Heroen" jener Zeit, die wie viele ihrer Fans ebenfalls in den einschlägigen Lokalitäten Kathmandus unterwegs waren. Was für eine Welt, in der mit der Hippie-Bewegung, den 68ern und ihren Epigonen so vieles im Umbruch war!
Ich kann mir für diesen Bericht passendere Bilder vorstellen, nur habe ich sie damals nicht gemacht. Worüber ich mich heute ärgere, aber es ist leider nicht zu ändern. Deshalb zeigen meine Bilder vor allem die Innenstadt von Kathmandu als die Gegend, in der die Freak-Szene zur Zeit meiner Besuche heimisch war.
Dass ich bei meinem ersten Aufenthalt in Kathmandu auch jene Orte kennen lernen will, von denen die anderen erzählt haben, liegt auf der Hand. Die Freak Street ist einer von ihnen, und offenbar war sie einer der wichtigsten. Suchend die Straße auf und ab gehend, versuche ich zu lokalisieren, wo sich das "Eden Hashish Centre" seinerzeit befand. Keine leichte Aufgabe, denn längst sind alle Spuren getilgt. Die Nepalis, die ich darauf anspreche, schütteln ahnungslos oder vielleicht auch nur gleichgültig den Kopf. Auch die Namen anderer einschlägiger Örtlichkeiten sagen ihnen nichts. Niemand erinnert sich an das "August Moon", an das "Abraxas" oder das "Umma Gumma". Nur einer weiß mehr. Scott ist sein Name, er sieht aus wie um die 30, hat lange Haare - versteht sich - und trägt wallende Kleidung wie zehn Jahre zuvor die Friscoer Blumenkinder. Über seiner Schulter baumelt die unvermeidliche griechische Hirtentasche, in der er vermutlich einen Pass, ein wenig Geld und seine Kifferutensilien aufbewahrt. Er beginnt zu erzählen, und aus seinem Mund klingt es fast wie ein Märchen. Eines, das sich in etwa so zugetragen hat: Es war einmal ein Laden in der Freak Street von Kathmandu. Das war nicht der richtige Name der Straße, bei den Nepalis hieß sie Jhonchen Tole, aber bei den einschlägigen Leuten hieß sie nur die Freak Street, eben wegen der Freaks. Das war in den 1960er Jahren und auch noch zu Beginn der 1970er. Der Laden hieß - wir wissen es bereits - "Eden Hashish Centre" und gehörte einem Einheimischen namens Mr. Sharma. Bereits am Eingang wurde der Besucher von Haschisch-Wolken umnebelt, was sich zur oberen Etage hin noch verstärkte. Laute Musik dröhnte ihm in die Ohren - "In-a-gadda-da-vida" etwa, erinnert sich Scott und strahlt -, und überall hockten Freaks, die ihre Shillums stopften oder an Grass-Sticks sogen. Alle waren glücklich, denn alle waren bekifft. Doch dann kam eines Tages ... nein, nicht der böse Wolf und auch nicht die Hexe ... dann kam eines Tages Richard Nixon, der amerikanische Präsident, der sich den Kampf gegen die Drogen auf die Fahne geschrieben hatte. "War of drugs" hieß das bei ihm, und "drugs", das war einfach alles - von dem Alkohol, den seine Wähler soffen, einmal abgesehen, fügt Scott abfällig hinzu. Alle nahm Nixon damals ins Visier: die Konsumenten, die Dealer und gleichermaßen die Länder, aus denen der Stoff kam. Also auch Nepal. Dort gehörte in jener Zeit Haschisch zum Alltag der Menschen. Sie waren mit ihm aufgewachsen, hatten mit ihm umzugehen gelernt, und vermutlich hätte auch noch in den nächsten tausend Jahren kein nepalischer Herrscher daran gedacht, es zu verbieten. Aber Nepal ist ein kleines Land, und der Druck der Amerikaner war groß. Und so wurde denn von einem Tag auf den anderen die Standarddroge der Nepalis und inzwischen auch vieler ihrer Gäste verboten. Einrichtungen wie das "Eden Hashish Centre" mussten schließen. Scotts Gesicht verfinstert sich bei dieser Erinnerung, doch schon im nächsten Augenblick hellt es sich wieder auf. "Legal, illegal, scheißegal!", sagt er und grinst, denn mit diesen Verboten waren die Drogen natürlich nicht aus der Welt. Ein Schwarzmarkt entstand - Politiker, die wegschauten, korrupte Polizisten, die sich eine goldene Nase verdienten und Händler, die lediglich einen Risikozuschlag auf ihre Ware erhoben, ansonsten aber weiterhin im Geschäft blieben. Die Amerikaner indes waren zufrieden gestellt. Nepal und seine Hauptstadt - davon gingen sie aus - waren nicht länger das Mekka der Kiffer und Fixer.
 
 
"Want some Ganja?", raunt mir ein Nepali in der Freak Street zu. Ganja ist das nepalische Wort für Marihuana, das ebenso wie Haschisch aus der Hanfpflanze gewonnen wird, und ich bekomme ein Angebot wie dieses nicht nur einmal am Tag. Ganja gibt es im Jahr 1978 noch immer, anders als den Präsidenten Richard Nixon, der vier Jahre zuvor wegen Watergate aus dem Amt gefegt wurde. Mit einem Kopfschütteln lehne ich das Angebot ab. Nicht, weil es sich um eine Polizeifalle handeln könnte - du hast Stoff, also gib uns Geld, sonst sperren wir dich ein! -, sondern aus Prinzip. Andere Traveller sind da weniger abweisend, dieses bunte Völkchen, das nach wie vor in der Freak Street und ihren Seitenstraßen herumhängt und auch jenseits von Eden noch immer eine spezifische Infrastruktur am Leben erhält: billige Guest Houses und Imbissläden für den kleinen Geldbeutel, die so schillernde Namen tragen wie "Ashoka Pie Restaurant", "Paradise" oder "Shiva's Sky Restaurant". Was deren Speisekarten angeht, so sind sie wie früher auf ihre spezielle Klientel fokussiert - Moussaka, Quiche und Pizza, Tomato-Cheese-Toast und Kuchen nach europäischen Rezepten -, und auch die Musik stammt aus der für die Nepalis fremden Welt. Ideologen würden dafür das Wort Kulturimperialismus gebrauchen, für Pragmatiker wäre dieses Phänomen lediglich ein Ausdruck der fortschreitenden Globalisierung. Eine Begebenheit von meiner Ankunft in Kathmandu: Zwei Jungen mit einem Kassettenrecorder hocken auf der Eingangstreppe meines Guest Houses, und aus dem Lautsprecher empfängt mich nicht etwa traditionelle nepalische Musik, sondern der neueste Hit der Bee Gees, der in den deutschen und den US-amerikanischen Charts gerade auf Platz 1 steht. Was für Nepal nicht selbstverständlich ist, hatte sich das Land doch erst ab 1950 der Außenwelt geöffnet, nachdem es bis dahin hermetisch abgeschlossen war. Mit der Folge, dass sich Teile der Jugend nach dem Westen zu orientieren begannen und westliche Jugendliche sich auf die Suche nach bisher unbekannten Freiheiten auf den Weg in das Himalayaland machten. Womit wir wieder beim "Eden Hashish Centre" wären.
 
 
1984 mein zweiter Aufenthalt in Kathmandu und drei Jahre später mein bisher letzter. Es ist nicht viel, was sich in den vergangenen Jahren verändert hat. Ja, die Stadt ist voller geworden, vielleicht stinkt es auch mehr als Folge der gestiegenen Einwohnerzahl - Kathmandu = Kackmandu, hat man nicht zu Unrecht gesagt -, und vielleicht ist auch der fürchterliche Staub, dieser Totalangriff auf die Atemwege, in der Zwischenzeit mehr geworden. Aber das Straßenbild ist im Großen und Ganzen das gleiche. Noch immer sind die Freaks in der nach ihnen benannten Straße und deren Umgebung unterwegs, nun aber auch vermehrt im Stadtteil Thamel. Im "K.C." treffen wir einen von dieser Spezies. Jürgen heißt er, wie wir später erfahren, und er fällt uns auf, weil unter seinem Stuhl eine Eule sitzt. Am Nachbartisch nehmen wir Platz. Während wir uns den Magen mit Banana Cake und Chocolate Pie vollschlagen und über unseren bevorstehenden Treck sprechen, mischt sich Jürgen unvermittelt in unser Gespräch und erklärt mit der Ungeduld des Allwissenden, das müssten wir alles ganz anders mache, was wir wollten, sei bullshit. Seine schleppende Stimme verrät ebenso seinen Zustand wie seine glasigen Augen, aber dennoch weiß er alles, na klar. So wie er aussieht, ist er schon lange im Land. Sechs Monate, bestätigt er unsere Vermutung, und seine Zeit in Kathmandu sei noch längst nicht zu Ende. "Ganja", fügt er grinsend hinzu, wobei eine ehrliche Auskunft wohl lauten müsste: "Ganja und einiges mehr." Womit er in diesem Lokal nicht der einzige wäre. Längst haben Jürgen und seine Gleichgesinnten ihr neues Eden gefunden, allen Ambitionen Richard Nixons zum Trotz. Auch unsere Träger, die uns später am Ende unseres Trecks ein Pfeifchen anbieten, haben sich von den Amerikanern nicht unterkriegen lassen. Und heute, beinahe dreißig Jahre nach meinem letzten Aufenthalt? Nach allem, was man hört, ist der Markt noch immer gut beliefert, wenngleich die Qualität schwankt und Polizisten und Betrüger den Konsumenten das Leben mitunter nicht ganz leicht machen. Doch wenn auch die "goldenen Zeiten" des "Eden Hashish Centre" längst vorbei sind, so gilt auch heute noch der Spruch: Wer sucht, der wird fündig. Oder um es in Scotts Märchenstil zu sagen: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann kiffen sie noch heute.
 
Manfred Lentz

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