"The Shard" -
eine "Scherbe" der ganz besonderen Art.
 London 2014
 
"Architektur in Berlin: Posemuckel lebt" - mit diesen Worten überschrieb der "Tagesspiegel" unlängst einen Artikel über das Bauen in meiner Heimatstadt Berlin, insbesondere über das Bauen von Hochhäusern. Und er gelangt zu dem Schluss, in Berlin werde man "weltweit beachtete Beispiele der Architektur des 21. Jahrhunderts nicht finden". Wie wahr! In Wikipedia gibt es eine "Liste der Hochhäuser in Berlin". Nimmt man sie unter architektonischen Gesichtpunkten unter die Lupe, so kann man das Ergebnis nur als niederschmetternd bezeichnen. Eine Reihung langweiliger Kästen, angefangen von den Treptowers der Allianz Versicherung über das Hotel "Park Inn" am Alexanderplatz, den unsäglichen Steglitzer Kreisel bis hin zu der neuesten Scheußlichkeit, dem "Zoofenster" am Bahnhof Zoo, einem einfallslosen Gebäude, das dem Baukasten eines Sechsjährigen entstammen könnte. Vielleicht ist es ein unterschwellig noch immer vorhandener "preußischer Ordnungssinn", der wirkliches Experimentieren nicht erlaubt, vielleicht ist Berlin auch noch in der Provinzialität der Mauerzeit gefangen. Aber was am schlimmsten ist: In dieser Posemuckel-Situation scheint sich die Stadt nicht einmal unwohl zu fühlen.
 
London ist im Vergleich dazu eine ganz andere Nummer. Zwar ist die Kastenform auch hier nicht zu übersehen, wofür nicht zuletzt der seit Ende der 1980er Jahre auf dem Brachland früherer Hafenanlagen errichtete Bürogebäudekomplex "Canary Wharf" ein beredtes Beispiel ist. Doch es gibt auch Bauten, die über das Gewöhnliche hinausgehen. Kreative, fantasievolle Entwürfe, die Architekturgeschichte geschrieben und die Stadt mit neuen Highlights bereichert haben, optische Attraktionen sowohl für die Bewohner als auch für die Millionen Touristen aus aller Welt, die der britischen Hauptstadt jährlich einen Besuch abstatten. Eines der Bauwerke von dieser Art ist "The Shard".
 
 
Wir sehen die "Scherbe" das erste Mal, als wir vom Tower aus unseren Blick nach Süden richten, über die Themse hinweg zum gegenüber liegenden Ufer. Ein Hochhaus in Gestalt einer steil aufragenden, beinahe an den Wolken kratzenden Pyramide, sämtliche Gebäude im Umkreis um das Vielfache überragend, und wie es aussieht völlig aus Glas gebaut. Bereits fertig gebaut, oder ist die gläserne Pyramide noch im Aufbau begriffen? Wir strengen unsere Augen an und schauen ganz genau hin, aber wir können uns nicht einigen. Einer sagt: bereits fertig, der andere: noch nicht, doch in einem sind wir uns einig: dass dieser Bau spektakulär aussieht. "The Shard" heißt er, so lesen wir in unserem Reiseführer, und es folgen einige Sätze, die interessant klingen. Weswegen wir uns nach Beendigung unseres Tower-Besuchs entschließen, auf die andere Seite der Themse zu wechseln und der "Scherbe" einen Besuch abzustatten. Wenig später stehen wir zu ihren Füßen und verrenken die Köpfe. Kann man da rauf? ist einer unserer ersten Gedanken, und nachdem wir jemanden gefragt haben und der mit Ja geantwortet hat, ist unser nächster Gedanke: Da müssen wir rauf! Doch vor den Aufstieg haben die Götter einen Pförtner gesetzt, und der bringt uns zwar nicht von unseren Ambitionen ab - wie sollte er auch -, aber er tut etwas, was dem sehr nahe kommt: Er nennt uns den Preis. Knapp 32 Euro kostet die Auffahrt auf die Aussichtsplattform, pro Person, versteht sich. Ich antworte mit dem Kalauer, dass wir das Gebäude nur besuchen, aber nicht kaufen wollten, doch er verzieht keine Miene. Vermutlich hat er den Spruch schon tausend Mal gehört, ebenso wie die Asterix-Variante: Die spinnen, die Londoner! Grummelnd treten wir den Rückzug an, als uns plötzlich ein unsichtbares Wesen - der Shard-Geist? - ins Ohr flüstert: Geht nicht weg, da müsst ihr unbedingt rauf, schaut nicht aufs Geld, denn es lohnt sich! Ok, lieber Geist, du wirst es wissen, sagen wir nach kurzer Überlegung und fahren hinauf in die erste Etage, in der sich der Eingangsbereich für die Plattform befindet. Zu unserer Überraschung stellen wir fest, dass wir nicht die einzigen sind, die sich zu dem kostspieligen Deal bereit finden. Kein Massenandrang zwar, aber auch nicht schlecht besucht.
Ein paar Daten sollen dem "Shard" ein Gesicht geben. Entworfen von dem international renommierten Architekten Renzo Piano, wurde der Bau im Jahr 2009 begonnen und zu den Olympischen Sommerspielen 2012 fertig gestellt. 310 Meter beträgt seine Höhe einschließlich der stählernen Spitze, mit 11.000 Scheiben ist er rundum verglast, was einer Fläche von 56.000 Quadratmetern entspricht. In den unteren Etagen befinden sich Büroräume und Restaurants, darüber liegen das Fünf-Sterne-Hotel "Shangri La" mit Spa sowie von der 53. bis zur 65. Etage ein Dutzend Luxuswohnungen. 44 Aufzüge befördern die Besucher nach oben, zusätzlich erschließen 306 Treppen den Bau, eine Vorkehrung für Notfälle.
 
Einer der Aufzüge trägt uns in die Höhe - oder besser sollte ich sagen: er rast mit uns in die Höhe, beträgt die Geschwindigkeit doch volle sechs Meter pro Sekunde. Was man als Mitrasender indes nicht merkt, kein unangenehmes Senken und Heben des Magens wie in vielen sonstigen Aufzügen, stattdessen eine perfekt ausgetüftelte Beschleunigung, die die Geschwindigkeit nicht einmal erahnen lässt. Im Hintergrund erklingt eine eigens für diesen speziellen Einsatz komponierte, vom London Symphony Orchestra eingespielte Musik und mischt sich mit dem erwartungsvollen Geschnatter einer österreichischen Reisegruppe. Zwischenstopp in der 68. Etage, Umsteigen in einen anderen Aufzug, und weiter geht es bis auf 232 Meter. "Zum Glück ist die Spitze heute nicht in den Wolken", höre ich eine Frau zu einer anderen sagen, "sonst würden wir nichts sehen." In der Tat wären tief hängende Wolken das Letzte, was wir hier oben gebrauchen könnten. Auch keinen Regen oder keinen heftigen Wind, denn dann hätte man uns nur auf die vollständig verglaste untere Besucherplattform gelassen. Nein, an diesem Tag ist alles bestens und wir dürfen nach "draußen", in die offene Konstruktion aus Glas und Stahl, die dem 310-Meter-Koloss etwas geradezu Leichtes und Luftiges verleiht. Dass man tatsächlich draußen ist, unterstreicht der grüne Bodenbelag, auf dem man sich bewegt - eine Wiese auf der höchsten Aussichtsplattform Londons, hoch über der Themse, über dem Tower und der gleichnamigen Brücke und über dieser ganzen riesigen Stadt, die uns wie Spielzeug zu Füßen liegt. St. Paul's am gegenüberliegenden Ufer - man könnte die Kathedrale glatt anheben und an eine andere Stelle versetzen. Der Buckingham Palace - kaum vorstellbar, dass es in diesem kleinen Gebäude tausend Räume geben soll. Und erst die Menschen und die Autos, ja selbst die schweren LKW, sie alle muten von hier oben wie das Zubehör meiner elektrischen Eisenbahn aus Kindheitstagen an. Von dem höchsten Punkt Londons aus und - nach dem Moskauer Mercury Tower - von dem zweithöchsten Gebäude Europas.
 
 
Und von der höchsten Champagner-Bar des Kontinents. Zehn Pfund kostet ein Glas, also auch keine Peanuts, aber es lohnt sich. Champagner knapp unterhalb der Wolken, das hat was, das ist ein Erlebnis, das sich ins Gedächtnis einbrennt. Unser Aufenthalt unterliegt keiner zeitlichen Beschränkung, und das nutzen wir aus. Immer wieder wechseln wir zwischen den Seiten und spüren den Sehenswürdigkeiten der Stadt nach, die wir in den vergangenen Tagen kennen gelernt haben, versuchen zu erraten, was Unbekanntes sein könnte, verfolgen den Lauf der Themse, die unserem Reiseführer zufolge sechzig Kilometer von hier entfernt ins Meer strömt. Der Blick nach oben auf die weitere 15 Etagen hohe, 500 Tonnen schwere Turmspitze zeigt uns, dass der Bau natürlich nicht - wie wir anfänglich überlegt hatten - erst halb, sondern bereits ganz fertig ist, aber solche Gedanken kommen einem halt, wenn man in einer Stadt lebt, in der man sich unter Hochhäusern nur Kästen vorzustellen vermag. Die Wohnungen unterhalb unserer Aussichtsplattform fallen uns ein. Zwölf sind es insgesamt, jede einzelne einen zweistelligen Millionenbetrag teuer - womit sie die teuersten Eigentumswohnungen Großbritanniens sind - und jede über einen Rundblick verfügend von der Art, wie wir ihn gerade haben. Aber eben nicht nur eine Stunde lang, sondern rund um die Uhr zu jeder Tages- und Nachtzeit, und das an 365 Tagen im Jahr. Keine schlechte Wohnlage! In einem gemütlichen Sessel sitzen, ein Glas Wein in der Hand und diesen umwerfenden Blick auf die Stadt ... Ein Candlelight Dinner inmitten dieses großartigen Panoramas ... Den Auf- und Untergang der Sonne beobachten und all die faszinierenden Wetterereignisse, die sich in Hochglanzkalendern immer so gut machen ... Und obwohl wir nicht zu denen gehören, die neidisch auf andere Leute schauen, sondern die mit ihrer eigenen materiellen Existenz stets zufrieden waren, beschleicht uns in diesem Augenblick dennoch der Gedanke, wie schön es doch wäre, wenn ...
 
Manfred Lentz

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am 1. und 15. jedes Monats