Weit mehr als nur Schokolinsen
Die "M&M's World" in New York. 2010
 
So ist das mit dem "hätte", "wäre" und "würde": Wäre Forrest Mars, der Sohn des Gründers der Mars Company, während des Spanischen Bürgerkriegs nicht im Land gewesen und hätte er dort nicht beobachtet, wie Soldaten bunte, mit Zucker umhüllte Schokolinsen knabberten, so hätten die M&M's vielleicht niemals das Licht der Welt erblickt. Aber er war in Spanien, hat bei den Soldaten Bekanntschaft mit den kleinen Schokostückchen mit der harten Schale gemacht und hat dabei jene Besonderheit zu schätzen gelernt, die seine eigene spätere Firma so auf den Punkt brachte: "Sie schmelzen im Mund, nicht in der Hand." 1941 meldete Mars Junior ein Patent für Schokolinsen an, und noch im selben Jahr begann er mit der Produktion in Newark, New Jersey. Als Partner holte er sich Bruce Murrie ins Boot - Sohn des Präsidenten von Hershey Chocolate, einem der weltgrößten Schokoladenhersteller -, und als sie nach einem Namen für ihre neu gegründete Firma suchten, kamen sie auf die Idee, sie nach den Anfangsbuchstaben ihrer beider Namen zu benennen. Und so wurde aus Mars und Murrie jenes M&M, das heute für Millionen und Abermillionen Menschen rund um den Globus ein fester Begriff ist.
 
 
Wie viele dieser süßen Verführer seitdem hergestellt wurden, weiß vermutlich selbst die Firmenleitung nicht, aber es dürfte eine Zahl mit ganz vielen Stellen sein. Während des Krieges zunächst nur an das amerikanische Militär abgegeben, eroberten die M&M's nach dessen Ende auch die Herzen bzw. die Münder der zivilen Amerikaner und bald darauf auch die der halben Welt. In rund 100 Ländern sind sie heute erhältlich, seit 1975 in Europa, und längst gibt es zahlreiche Varianten: solche aus Vollmilch-, bitterer und weißer Schokolade, mit Schokolade umschlossene Erdnüsse und Mandeln, süße Knusperreis-Kügelchen, Schokolinsen mit Orangengeschmack oder dem Aroma von Himbeeren, wilden Kirschen und Zimt, nach Geburtstagskuchen schmeckende oder nach Kürbis, mit Füllungen, die solche auf witzig getrimmten Namen tragen wie "A Day at the Peach" oder "Cookie Monster". (Wobei nicht alle Kreationen in jedem Land erhältlich sind.) Mehrere Generationen sind inzwischen mit dem doppelten M aufgewachsen, und dass es so bleibt, dafür investiert die Firma alljährlich riesige Summen. Die Folge: M&M's sind allgegenwärtig, sie füllen die Regale jedes ordentlichen Supermarkts, sind an jeder Tankstelle zu haben und in den Automaten auf Bahnhöfen, und selbst in der gestylten Welt der Duty Free Shops auf den Flughäfen der großen, weiten Welt locken die Säckchen mit den bunten Knabbereien. Und natürlich gibt es sie ebenfalls in den "M&M's Worlds", wahren Schokolinsen-Schatzhäusern, in denen sich alles um die kleinen Dinger dreht. In New York sind wir auf eine dieser Welten gestoßen, und das an einem so zentralen Ort, dass es zentraler gar nicht mehr geht: am Broadway, nur wenige Schritte vom Times Square entfernt, dem Herzen dieser pulsierenden Stadt.
Wobei es schwierig und leicht zugleich war, die "M&M's World" zu entdecken. Schwierig, weil der Times Square und seine Nebenstraßen so massiv voller Werbung sind, dass ein Neuankömmling unmöglich alles auf einmal erfassen kann. Leicht, weil die Welt der M&M's aufgrund ihrer optischen Aufdringlichkeit irgendwann doch aus der Menge hervorsticht - eine riesige Leuchttafel, die abwechselnd einen Haufen M&M's zeigt und ein Wesen, dessen Aussehen uns an den "tollkühnen Helden Shrek" denken lässt. Eigentlich wären wir bei unserem New York-Trip nicht unbedingt auf die Idee gekommen, den Schokolinsen einen Besuch abzustatten. Aber da wir mit vierzehn Tagen über ein üppiges Zeitkontingent verfügen, gehen wir hinein entsprechend dem Motto: Mal schauen, was es dort gibt. Kaum sind wir über die Schwelle getreten, halten wir inne - einen gewöhnlichen Laden hatten wir erwartet, nun stellen wir überrascht fest, dass wir es mitnichten mit einem solchen Laden zu tun haben, sondern wahrhaftig mit einer M&M Welt. Vermutlich hätten die allermeisten anderen Besucher über unsere Naivität den Kopf geschüttelt, und vielleicht leben wir tatsächlich ein wenig außerhalb der Zeit. Wir beschränken unseren Konsum auf das Notwendige, sind weitestgehend werberesistent und haben von Merchandising zwar schon gehört, können diesen Begriff aber kaum mit konkreten Beispielen füllen. Was heißt, dass wir in Bezug auf das amerikanischen Konsum- und Werbeparadies fast vollständig hinter dem Mond leben, wofür wir hier nun die Quittung bekommen. Aber wir sind lernfähig und bemerken sehr schnell, dass die kleinen Leckerli nur der am wenigsten wichtige Teil dieser M&M's World sind. Obwohl es sie in üppigen Mengen gibt, mannshohe Behälter mit Linsen in zahlreichen Farben, auch solchen in Rot, deren Produktion die Firma wegen möglicher Gesundheitsgefährdung einst eingestellt hatte - heute wird die Farbe absolut unschädlich aus dem Saft weiblicher Schildläuse gewonnen. Was wir zum Zeitpunkt unseres Besuchs noch nicht wissen und was uns in diesem Augenblick auch nicht sonderlich interessiert hätte, denn zunächst einmal sind wir beeindruckt von dem, was ein cleveres Management aus der im Spanischen Bürgerkrieg entstandenen Idee gemacht hat.
 
 
Ob auf Handtüchern oder T-Shirts, auf Mousepads, Rucksäcken, Lampen oder Puzzles - überall prangt das Logo mit den einschlägigen Formen und Farben. Selbst auf Gegenständen, die wir uns nicht unbedingt als Werbeträger vorgestellt hätten, ist es zu sehen. Eine M&M-Gitarre oder eine Lederjacke mit den Insignien des süßen Geschmacks etwa oder eine Freiheitsstatue, von den Kunden designed, sowohl was die Form betrifft als auch die Frisur und die Accessoires. Und selbst zwei puppenstubengroße Dioramen sind im Angebot - M&M's als Mitglieder einer Band unter einer amerikanischen Flagge und daneben zwei weitere vor einem asiatischen Tempel, je nach eigenem Geschmack ein Ausbund an Kitsch oder niedlich. Allerdings was den Preis anbelangt ... Aber zweifellos gibt es Leute, die bereit und in der Lage sind, eben mal 1.000 Dollar für eine dieser Puppenstuben über den Tisch zu reichen. Ein Echtheitszertifikat gibt es gewiss dazu, vermutlich mit dem gleichen M bedruckt, das auch jede Schokolinse ziert. Ganz am Anfang waren diese M's übrigens schwarz, und jedes einzelne - kaum zu glauben! - wurde mit der Hand aufgemalt. Heute sind die M's weiß, und natürlich gibt es Maschinen für das Aufdrucken. Apropos aufdrucken: Beim Recherchieren für diesen Bericht bin ich auf einige Witze über die Schokolinsen gestoßen und das in Kombination mit Blondinen, die im deutschen Witzrepertoire noch immer präsent sind. Etwa den mit der Frage, warum die blonden Mädels von der Firma nicht eingestellt werden - weil sie alle Linsen mit W's aussortieren würden. Oder den anderen, wonach die Firma Blondinen gern als Korrekturleserinnen hätte. Nun ja ...
 
Und dann ist da noch die Sache mit der Personalisierung, die bereits zahllose Produkte erfasst hat und die auch die M&M's nicht ausspart. Suchen Sie ein passendes Geschenk für die Geburt eines Kindes? Wie wäre es mit einer Schachtel voll rosafarbener oder blauer M&M's, auf denen der Name des neuen Erdenbürgers vermerkt ist? Oder eine Einladung zu einer Party mit Zeit und Ort? Eine Liebeserklärung für die oder den Angebeteten? Oder noch besser: ein Foto auf jeder einzelnen Linse, Dutzende Male das Konterfei des Absenders oder der geliebten Person? Wobei mit letzterer Idee endlich ein Klassiker unter den Sprüchen Verliebter Realität werden könnte: Du bist so süß, dass ich dich am liebsten anknabbern würde!
 
Manfred Lentz
 
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am 1. und 15. jedes Monats