Steinzeit in Mamallapuram
Von Krishnas Butterkugel und anderen Steinen. Indien 1986
 
Rollt die riesige Kugel los? Nein, das tut sie bestimmt nicht. Jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie es gerade in diesem Augenblick tun wird, extrem klein. Immerhin verharrt sie schon seit Jahrtausenden in ihrer Position, da wäre es schon mehr als merkwürdig, wenn sie sich gerade jetzt in Bewegung setzen würde. Aber irgendwann wird es geschehen, daran gibt es keinen Zweifel. Wind und Wetter arbeiten an ihr, die Oberfläche ist in ständiger, wenn auch unmerklicher Veränderung begriffen, und deshalb wird die Kugel sich eines Tages aus ihrer Starre lösen und die Schräge hinab rollen. Und wehe demjenigen, der dann in ihrem Weg sitzen wird! So wie ich gerade. Wobei ich in diesem Fall immerhin eine Topnummer in den Nachrichtensendungen sein würde. Allerdings hätte ich nichts mehr davon, denn würde es geschehen, dann wäre ich platt.
 
Die Kugel ist ein viele Tonnen schwerer Granitblock und befindet sich in Mamallapuram, einem Ort mit ein paar tausend Einwohnern an der Ostküste Indiens. Mamallapuram ist ein beliebtes Reiseziel sowohl für Einheimische als auch für Touristen, weshalb wir diesem Ort im August 1986 einen Besuch abstatten. Was uns lockt, ist nicht der weite Sandstrand, der an den Wochenenden regelmäßig zahlreiche Besucher aus dem nahegelegenen Madras anzieht, dem heutigen Chennai. Uns locken die Spuren der Vergangenheit, von denen es hier gleich mehrere gibt, und besonders hochwertige dazu. Und ein wenig sind wir auch wegen der riesigen Kugel hier, unter der außer uns - weil es halt so ein schöner Gag ist - vermutlich schon halb Indien gesessen hat. Hindus führen ihre Entstehung auf Krishna zurück, einen der obersten Götter ihres Pantheons und einen ihrer beliebtesten dazu. Krishna, so erzählen sie, formte einst diese Kugel aus Butter, und als er dieser Tätigkeit überdrüssig war, ließ er sie einfach liegen, wo sie sich allmählich in Stein verwandelte. Ihr Name indes erinnert noch heute an ihre einstige Substanz: Krishnas Butterkugel.
 
 
Eine wahrhaft schwergewichtige Sehenswürdigkeit also. Ebenso schwergewichtig sind auch die anderen Sehenswürdigkeiten von Mamallapuram, denn sie sind ebenfalls aus Stein. So etwa die "Pancha Rathas", ein Ensemble aus fünf kleinen Tempeln, bei denen die Forscher sich bis heute nicht einig sind, warum es sie überhaupt gibt. Allen gemein ist die Tatsache, dass sie aus Felsen herausgeschlagen wurden, und das schon vor mehr als 1.300 Jahren. Da sich die Tempel in ihrem Aussehen wesentlich voneinander unterscheiden, hat man vermutet, es könnte sich um Baumuster handeln - Mustertempel gewissermaßen anstatt der bei uns gebräuchlichen Musterhäuser, um unter mehreren Varianten das für irgendein Vorhaben geeignetste auswählen zu können. Eine verbreitete Interpretation, aber womöglich war der Grund für ihre Entstehung auch ein ganz anderer. Doch wie auch immer - äußerst sehenswert sind sie allemal, und deshalb reißt der Strom der Neugierigen von nah und fern denn auch nicht ab. Vor allem Inder sind es, die den Bauten ihrer Altvorderen einen Besuch abstatten. Während wir im Schatten eines steinernen Elefanten hocken, um für ein paar Minuten der sengenden Sonne zu entfliehen, baut sich vor einem der Tempel eine Gruppe Inder auf, und einer von ihnen beginnt zu fotografieren. Erinnerungsbilder, wie das auch bei uns üblich ist. Was bei uns allerdings gar nicht üblich ist: Sie bitten Karin und damit eine für sie völlig Fremde zu sich aufs Bild, und ehe die es sich versieht, sitzt sie zwischen zwei Dutzend Indern und lächelt gemeinsam mit ihnen in die Kamera, zuerst in die des knipsenden Inders, dann auch in meine, denn natürlich lasse ich mir dieses Motiv nicht entgehen. Anschließend die üblichen Fragen: "Where you from?" (das "are" wird gern ausgelassen) und "What's your name?" Wobei die Herkunft aus Germany keine Schwierigkeiten bereitet - Rummenigge, Völler, na klar! - , wohl aber der Name Karin, den die Inder nachzusprechen versuchen, mit dem aber keiner so recht etwas anfangen kann. Allerdings gibt es bei ihnen einen ähnlichen Namen: Kali. Also nennen sie Karin ganz einfach Kali. Eine ihrer bedeutendsten Göttinnen trägt diesen Namen - eine mit einer Halskette aus Schädeln, einem Rock aus abgeschlagenen Armen und einer Blutschale in der Hand. Kein sonderlich liebreizendes Wesen also, aber was soll's. Alle lächeln und freuen sich, und ich verspreche, ihnen von zu Hause ein paar Abzüge meiner Fotos zu schicken. (Was ich auch getan habe.)
Wenig später ein weiteres Bild dieser Art - ein paar junge Männer wollen sich mit "Kali" fotografieren lassen, und natürlich erfüllt sie ihnen ihre Bitte. Durch "Kalis" helle Haut wirken die dunkelhäutigen Männer noch dunkler. Wir sind in Südindien, deren dravidische Bevölkerung sich von den helleren indoarischen Nordindern unterscheidet. Die Religion haben sie allerdings gemeinsam, hier wie dort sind die meisten von ihnen Hindus. Und deshalb ist ihnen im Gegensatz zu uns auch die Bildersprache vertraut, der wir uns bei einem weiteren Highlight von Mamallapuram gegenüber sehen, ebenfalls einer Sehenswürdigkeit aus Stein. Es handelt sich um ein im 7. Jahrhundert entstandenes Relief, das mit seinen beeindruckenden Maßen - 12 Meter hoch und 33 Meter breit - eines der größten, manchen Angaben zufolge sogar das größte der Welt ist. Was es darstellt, darüber sind sich die Experten - die "Pancha Rathas" lassen grüßen - bis heute nicht einig. Für die meisten handelt es sich um "die Herabkunft des Ganges", ein Ereignis, das die Erschaffer dieses Reliefs mittels einer verschwenderischen Fülle von Figuren gestaltet haben, die trotz ihres hohen Alters bis heute fantastisch erhalten sind. Und wovon erzählt dieses riesige Relief? Von einem König aus grauer Vorzeit, der den Ganges vom Himmel hinab fließen ließ, um die Seelen seiner Vorfahren zu reinigen. Doch das Projekt geriet außer Kontrolle, und der König bemerkte, dass der Fluss die ganze Erde zu überschwemmen drohte. Deshalb wandte er sich an den Gott Shiva und bat ihn, die sich anbahnende Katastrophe abzuwenden. Shiva erklärte sich bereit, ihm zu helfen. Er stieg auf die Erde hinunter und bezwang den Ganges, indem er ihn durch sein Haar fließen ließ - ein Ereignis, das zahlreiche Götter und Menschen, Tiere und Mischwesen als Zuschauer anlockte. Auf dem Relief sind sie alle zu sehen, eine illustre Versammlung, die sich uns Nicht-Hindus allerdings nicht einmal in den allergröbsten Zusammenhängen erschließt. Gleichwohl beeindrucken auch uns die Fantasie und der Detailreichtum dieses gewaltigen Bildes. Insbesondere die Elefanten am unteren Rand haben es uns angetan, und hier wiederum vor allem deren Nachwuchs, der auf eine so niedliche Art in Szene gesetzt ist, dass man darüber nur schmunzeln kann.
 
Dass Steine das Markenzeichen von Mamallapuram sind, ist also nicht zu übersehen. Aber auch zu überhören ist es nicht. "Klack, klack, klack" ist das Geräusch, das uns noch vor Sonnenaufgang aus den Betten reißt und bis in den Abend begleitet. Es rührt von den Steinmetzen des Ortes her, die mit ihrer Arbeit die uralte Tradition ihrer Vorfahren lebendig erhalten. Heute sind es keine Tempel mehr, die sie mit ihrem handwerklichen Geschick erschaffen, und auch keine riesigen Reliefs. Heute stellen sie Souvenirs für Touristen her, vornehmlich Gottheiten und Helden, von denen es in der indischen Religion jede Menge gibt. Die Ergebnisse ihrer Arbeit sind dabei von solch hoher Qualität, dass wir bereits bei unserem ersten Spaziergang durch den Ort am liebsten mehrere Souvenirshops leer gekauft hätten. Doch Souvenirs aus Stein? Mitnehmen geht nicht, da wir mit dem Rucksack unterwegs sind, und eine halbe Tonne Stein mit der Post zu schicken, ist auch keine gute Idee. Aber glücklicherweise gibt es neben dem Handwerk der Steinmetze in Mamallapuram noch eine andere Tradition, die ähnliche Produkte hervorbringt und die denen aus Stein in keiner Weise nachstehen: Schnitzereien aus Holz. Wenn Stein zu schwer ist, sagen wir uns, warum nicht ein Shiva aus diesem sehr viel leichteren Material? Oder eine Parvati auf ihrem Pfau? Vielleicht auch ein elefantenköpfiger Ganesha? Bereits am Tag nach unserer Ankunft in Mamallapuram können wir uns nicht länger beherrschen und schlagen zu - und das, obwohl unsere vierwöchige Rundreise durch Südindien gerade erst begonnen hat. "Parcel no problem!", versichern uns die Händler, kaum dass wir ihre Läden betreten haben. Soll heißen: Sucht aus und bezahlt, danach packen wir die Sachen ein und schicken sie euch per Schiff mit der Post. Unsere gekrausten Stirnen verraten den Händlern unsere Zweifel, doch das kennen sie schon. Im nächsten Augenblick halten sie Fotos und Dankesschreiben von zufriedenen Käufern aus aller Welt in den Händen und versichern uns wortreich, dass sie Ehrenmänner seien und wir uns auf ihre Zusagen hundertprozentig verlassen könnten. Wir sind nach wie vor mehr als skeptisch. Aber skeptisch sein heißt, keine Schnitzfiguren haben, und das wollen wir nicht, also schlagen wir zu. Zwei schöne Stücke, jedes zum stolzen Preis von 500 DM, die - so die beiden Händler - bereits am nächsten Tag auf die Reise nach Deutschland gehen werden. Versprochen ist versprochen!
 
 
Sie ahnen es: Als wir vier Wochen später wieder in Berlin eintreffen, sind die beiden Stücke nicht da, was allerdings wegen des langen Seetransports nicht überraschend ist. Nur sind sie einen Monat später immer noch nicht da, und im darauf folgenden Monat ebenfalls nicht. Schließlich wird die Befürchtung zur Gewissheit, dass wir trotz des Versprochen-ist-versprochen betrogen worden sind. Wir beginnen eine längere Korrespondenz mit Indien - zunächst höflich nachfragend, dann etwas drängender, schließlich mit sämtlichen bösen Worten, die uns auf Englisch zur Verfügung stehen. Nachdem unsere Briefe an die beiden Händler ohne Ergebnis geblieben sind, wenden wir uns an die Verwaltung von Mamallapuram, dann an die Polizei und schwärzen die beiden als Totengräber des örtlichen Tourismus an. Als auch das nicht hilft, stellen wir demjenigen eine Belohnung in Aussicht, der uns bei der Beschaffung unserer beiden Schnitzereien behilflich sein würde. Und siehe da - zumindest in einem Fall haben wir Erfolg! Ohne dass sich zuvor einer der angeschriebenen Adressaten bei uns gemeldet oder sich wegen der ausgesetzten Belohnung an uns gewandt hätte, erhalten wir eines Tages ein Schreiben vom hiesigen Zollamt mit der Mitteilung, wir könnten eine Sendung aus Indien abholen. Was wir umgehend tun. Zwar ist die Bemalung der Schnitzerei auf dem Seetransport weitgehend verschwunden, aber so gefällt uns das Stück sogar besser, und seither erfreuen wir uns an einem ausgewählten Platz in unserer Wohnung an seinem Anblick. Die andere Schnitzerei dagegen mussten wir abschreiben. Krishna war das Motiv, und ausgerechnet Krishna war auch der Name des Händlers. Es war eine Darstellung des Gottes, wie er mit dem Spiel auf seiner Flöte die hübschen Hirtenmädchen bezaubert, ein beliebtes Motiv aus der indischen Mythologie. Dieser Krishna spielt nun für irgendwelche anderen Touristen, vielleicht nach mehreren Anläufen, in denen diese ebenso betrogen wurden wie wir. Und so malen wir uns denn in unserer Fantasie aus, wie wir den betrügerischen Händler vor die Butterkugel seines göttlichen Namensgebers setzen würden und wie diese sich auf einmal völlig unerwartet und obwohl sie sich seit Jahrtausenden keinen Millimeter gerührt hat ... Na, Sie wissen schon, was ich meine.
 
Manfred Lentz

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am 1. und 15. jedes Monats