"Ertrunken in der Wüste"
Auch in der Sahara gibt es Wasser.
Algerien 1980-1991 (Teil 1)
 
Ein fiktiver Grabstein mit Namen, Geburts- und Sterbedatum und dem Zusatz "Ertrunken in der Sahara". Jeder, der ihn sähe, würde irritiert die Augen zusammenkneifen, um sich zu vergewissern, ob er sich verguckt hätte. Aber das hätte er nicht, denn da steht tatsächlich "Ertrunken in der Sahara". Ein Scherz, würden die meisten vielleicht denken, obwohl ein Grabstein wahrlich ein unpassender Ort für einen Scherz wäre. Verdurstet in der Sahara - na klar, davon hat jeder gehört, das ist tausend Mal und öfter geschehen. Auch verhungert, wenn die Vorräte erschöpft waren. Oder von Räubern überfallen, von einer Schlange gebissen oder einem Skorpion, weil jemand unvorsichtigerweise den Stein umgedreht hat, unter dem er saß. All das kann man sich vorstellen, denn es passt perfekt in die Wüste. Aber ertrunken?
 
"Bar bela mar - Meer ohne Wasser" nennen die Nomaden die Sahara. Sie erstreckt sich über elf Länder von der afrikanischen Atlantikküste im Westen bis zum Roten Meer im Osten, ist 26-mal so groß wie Deutschland und zu rund einem Siebtel mit Sand bedeckt, der Rest ist Stein- und Felswüste. Regen fällt hier äußerst selten, im Durchschnitt nur 45 mm pro Jahr, allerdings gibt es regionale Unterschiede. Vor allem aber gibt es Extreme. Starkregen ist ein Wort, das wir seit einigen Jahren in Deutschland immer öfter hören - früher hat man sintflutartig dazu gesagt -, und genau diese Art von Regen gibt es auch in der Sahara, nur eben sehr viel seltener als bei uns. Fällt er dann doch einmal vom Himmel, so trifft er auf einen ausgedörrten Boden, der das Wasser nicht schnell genug aufnehmen kann, weshalb es sich einen Weg an der Oberfläche sucht. Es strömt durch Wadis, ausgetrocknete Flussbetten, und dabei kann es je nach Regenmenge eine geradezu urtümliche Kraft entfalten. Was immer sich ihm in den Weg stellt, wird mitgerissen - und das sind gelegentlich auch Menschen. Leichtsinnige oder unkundige Reisende, die ihr Nachtlager in einem Flussbett aufgeschlagen haben und während des Schlafes von der heranstürzenden Flut überrascht werden. "Übernachtet nicht in Wadis. Lebensgefahr!", lautet denn auch die Warnung in allen einschlägigen Handbüchern für die Sahara. Eine Warnung, die manche Reisende entweder nicht kennen oder die sie ignorieren, weshalb die Inschrift auf dem fiktiven Grabstein eben tatsächlich kein Scherz wäre.
 
 
Ein Tag im Januar 1990. Wir sind mit unserem VW-Bus bereits weit in die Sahara vorgedrungen, die letzten Tage auf dem Fadnoun-Plateau, das in seiner Trostlosigkeit einer Mondlandschaft recht nahe kommt. Nach einer zum Teil halsbrecherischen Abfahrt in die Ebene hinab erreichen wir einen Ort, der auf älteren Landkarten noch den Namen Fort Gardel trägt. Ein Name aus der Zeit der französischen Kolonialherrschaft, die bis zum Jahr 1962 andauerte. Seither sind die Algerier selbst Herren in ihrem Land, deshalb trägt der Ort heute einen algerischen Namen: Zaouatallaz. Er ist eine jener öden Wüstenoasen, bei denen wir uns jedes Mal gefragt haben, wie Menschen es dort dauerhaft aushalten können. Eine Tankstelle gibt es nicht, die in diesen endlosen Weiten hilfreich wäre, wohl aber einen Stützpunkt der Polizei. Touristen müssen sich dort melden, was wir auch tun, schließlich geht es nicht zuletzt um unsere eigene Sicherheit: Sollten wir an unserem angegebenen Zielort nicht ankommen, würde man nach uns suchen. Nachdem der Beamte unsere Daten in ein dickes Buch eingetragen hat, fragen wir ihn nach Wasser. Zwar besitzen wir noch einen ausreichenden Vorrat bis zur nächsten Oase, aber in der Wüste ist mehr besser als gerade genug. Viel Wasser scheint es in Zaouatallaz nicht zu geben, ein abgestellter Tankanhänger vor der Polizeistation ist ein Zeichen, dass man hier nicht einfach nur den Wasserhahn aufdreht. Der Beamte zeigt sich generös und billigt uns eine Kanisterfüllung zu - 20 Liter, nicht gerade üppig, doch ein Zuschlag zu unseren Vorräten, der das Leben ein wenig angenehmer macht. In diesem Fall insbesondere für Karin, denn kaum haben wir die Oase verlassen, als sie endlich tun kann, was ihr schon seit Tagen ein Anliegen ist: sich die Haare waschen. Zu Hause, wo es stets genügend Wasser gibt, eine eher langweilige Routine - hier, wo es knapp ist, ein Fest.
Und knapp ist das Wasser eben fast immer in der Sahara. So sehr, dass es das Denken und die Fantasien der Bewohner dieser trockenen Welt - Tuareg zumeist - mehr beherrscht als alles andere. "Wasser ist Leben", lautet denn auch verständlicherweise der erste Satz ihres Credos, erst an zweiter Stelle folgt "Milch (gemeint ist Kamelmilch) ist Nahrung". Wasser brauchen Menschen und Tiere, braucht die gesamte Natur, die sich um so üppiger entfalten kann, je reichlicher es vorhanden ist. Oasen, die vor Grün nur so strotzen, sind es denn auch, die in den Tagträumen der Tuareg den ersten Rang einnehmen. Gärten mit Dattelpalmen, die sich sanft im Wind wiegen, in deren Schatten Getreide und Gemüse reifen, dazwischen Bäume voll süßer Früchte. Kleine Paradiese, Traumoasen in einer Wirklichkeit, die das genaue Gegenteil ist und die gerade deshalb eine so große Faszination auf die Menschen auszuüben vermögen. Drei Mal war ich in der Sahara unterwegs, jedes Mal über mehrere Wochen und jedes Mal im Winter, wenn die Temperaturen 25 Grad nur selten überschreiten. Diese Temperaturen sind nichts gegen den Sommer, wenn die Sonne nicht mehr einfach nur scheint, sondern wie ein Heizstrahler vom Himmel brennt, wenn sie den Sand aufheizt, dass man Eier darauf braten könnte und die ganze Welt in einen Glutofen verwandelt. In Ain Salah erzählte mir ein Targi (das Wort ist der Singular von Tuareg), dass das Thermometer bei ihnen einige Jahre zuvor auf sage und schreibe 56 Grad angestiegen war, im Schatten wohlgemerkt. 56 Grad - für mich ein geradezu unfassbarer Wert, und das in einer Umgebung die außer aus einförmigen Lehmhäusern ausschließlich aus Sand besteht. Vermutlich kann man das Leben an diesem Ort nur ertragen, wenn man die Fantasie auf Reisen schickt, hin zu den Traumoasen mit den Schatten spendenden Palmen und den wohlschmeckenden Früchten. Zu Zielen, die erst dann möglich sind, wenn es Wasser gibt. Denn ohne Wasser kein Leben.
 
Ob es stimmt, dass Kamele welches aufspüren können, weiß ich nicht. Immer mal wieder habe ich davon gehört, und so manche Erzählung aus der Wüste berichtet von Männern, die nur deshalb vor dem Verdursten gerettet wurden, weil ihre Kamele im letzten Augenblick eine Wasserstelle fanden. Wir unbedarften Wüstentouristen sind dazu natürlich nicht in der Lage. Wir würden glatt ein paar Meter an einer solchen Stelle vorbeifahren, ohne von ihrer Existenz auch nur etwas zu ahnen. Wenn wir Wasserstellen dennoch finden, so nur deshalb, weil frühere Reisende in Handbüchern ihre Lage vermerkt haben: Bei Kilometer X auf der Piste von A nach B aussteigen, dann in eine bestimmte Richtung gehen, und nach soundso vielen Metern erreicht man ein Guelta. Gueltas sind natürliche Wasserstellen in der Wüste, die oftmals im Schatten von Felsen liegen. Auf dem Fadnoun-Plateau finden wir eines von dieser Art. Gehört die Landschaft ringsum auch zu den lebensfeindlichsten der Sahara, so gibt es hier ein wenn auch bescheidenes Leben: ein paar Büsche, Insekten, Mäuse und andere kleine Tiere und zu bestimmten Zeiten gewiss auch größere, die diesen Ort aufsuchen, um zu trinken. Wäre das Wasser dieses Gueltas auch für uns genießbar? Möglich, aber wir verzichten auf einen Versuch, nicht zuletzt deshalb, weil unsere Kanister ausreichend gefüllt sind. So manch Reisender vor uns dürfte in dieser Hinsicht allerdings weniger zurückhaltend gewesen sein, ja vermutlich hat diese Wasserstelle schon den einen oder anderen in letzter Minute vor dem Verdursten bewahrt.
 
 
Neben Gueltas dieser Art gibt es noch andere - etwa solche, die wie ein Flüsschen aussehen, ohne in Wirklichkeit eines zu sein, die aus einem Netz von Tümpeln bestehen oder die Form eines kleinen Sees haben. Allen gemein ist die Tatsache, dass sie vom Grundwasser gespeist werden, das an dieser Stelle ohne menschliches Zutun nach oben steigt. Doch wäre die Sahara noch weit dünner besiedelt, als sie es ohnehin schon ist, hätten die Menschen sich mit jenem Wasser zufriedengegeben, das an der Oberfläche leicht verfügbar ist. Weit größere Vorräte gibt es im Untergrund, und seit unsere frühesten Vorfahren auf der Suche nach Essbarem in der Erde gegraben haben und dabei zufällig auf Wasser gestoßen sind, haben Menschen immer wieder gezielt danach gesucht. Und immer mal wieder haben sie auch welches gefunden, selbst in dieser größten Trockenwüste der Erde. Was sie dazu aufboten, waren neben verschiedenen Arten von Werkzeugen Kreativität und technisches Geschick, nur allzu oft aber auch eine erschreckende Skrupellosigkeit. Was sie damit erreichten, ist beeindruckend.
 
(Wird fortgesetzt)
 
Manfred Lentz (September 2015)
 
 
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